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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der KZ-Bewacher

Vor dem Land­ge­richt Hanau wird nun mög­li­cher­wei­se doch gegen einen inzwi­schen 100 Jah­re alten frü­he­ren KZ-Wach­mann aus Hes­sen ver­han­delt. Noch im Mai hat­te das Gericht die Eröff­nung eines Haupt­ver­fah­rens mit der Begrün­dung abge­lehnt, der alte Mann sei weder ver­hand­lungs- noch ver­neh­mungs- oder rei­se­fä­hig. Über die­se Ent­schei­dung hat­ten sich die Staats­an­walt­schaft Gie­ßen und meh­re­re Neben­klä­ger beschwert. Nun wur­de der Beschluss vom Ober­lan­des­ge­richt (OLG) Frank­furt aufgehoben.

Dem alten Mann wird vor­ge­wor­fen, als jun­ger Ange­hö­ri­ger der SS-Wach­mann­schaf­ten von Juli 1943 bis Febru­ar 1945 im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Sach­sen­hau­sen, »die grau­sa­me und heim­tücki­sche Tötung tau­sen­der Häft­lin­ge unter­stützt« zu haben.

Dort, etwa 35 Kilo­me­ter nörd­lich von Ber­lin, waren ab 1936 etwa 204.000 Men­schen von den Natio­nal­so­zia­li­sten inter­niert wor­den. Zehn­tau­sen­de kamen durch Hun­ger, Krank­hei­ten, Zwangs­ar­beit und Miss­hand­lun­gen um oder wur­den Opfer von Ver­nich­tungs­ak­tio­nen der SS. Die Ankla­ge geht von Bei­hil­fe zum Mord in rund 3.300 Fäl­len aus. Als Ange­hö­ri­ger eines SS-Wach­ba­tail­lons soll er unter ande­rem mit der Über­füh­rung ankom­men­der Häft­lin­ge vom Bahn­hof in das Haupt­la­ger beauf­tragt gewe­sen sein. Damals ein jun­ger Mann von natio­nal­so­zia­li­sti­scher Gesin­nung, ein kar­rie­re­be­wuss­ter Befehls­emp­fän­ger, der sei­nen Dienst tat – ganz so, wie man es von ihm ver­lang­te: gegen »Volk­s­chäd­lin­ge und Volks­fein­de« – für Volk, Vater­land und Führer.

Das OLG Frank­furt for­der­te das Hanau­er Land­ge­richt jetzt zu Nach-Ermitt­lun­gen über die Ver­hand­lungs­fä­hig­keit des Beschul­dig­ten auf. Aus Sicht der Gene­ral­staats­an­walt ist die­se Ent­schei­dung von histo­ri­scher Bedeu­tung: »Ich begrü­ße die Ent­schei­dung des Ober­lan­des­ge­richts, dass die Ver­hand­lungs­fä­hig­keit des Ange­schul­dig­ten noch ein­mal gründ­lich geprüft wird«, erklär­te der Frank­fur­ter Gene­ral­staats­an­walt Tor­sten Kun­ze. Die histo­ri­sche Bedeu­tung sieht er dar­in, dass der KZ-Wach­mann der letz­te sein könn­te, gegen den über­haupt noch eine sol­che Ver­hand­lung statt­fin­det. Mit Blick auf das hohe Alter des Beschul­dig­ten sei bei der Prü­fung der Ver­hand­lungs­fä­hig­keit Eile geboten.

Nicht weni­ge zwei­feln am Sinn sol­cher Ver­fah­ren: Sie fra­gen, was es brin­ge, bela­ste­te Grei­se vor Gericht zu stel­len. Ob das Mit­leid mit den Ange­klag­ten bei vie­len Betrach­tern am Ende nicht grö­ßer sei als das Ent­set­zen über deren Taten. Und ob es fair sei, nun die Gehil­fen zur Rechen­schaft zu zie­hen, nach­dem vie­le der Mör­der straf­los davon­ge­kom­men seien.

Tat­sa­che ist: Die Ent­schei­dung, einen Ein­hun­dert­jäh­ri­gen vor Gericht zu brin­gen, ist vor allem eines: der Beleg einer skan­da­lö­sen Ver­spä­tung. Jahr­zehn­te­lang waren Ver­fah­ren nicht eröff­net oder bei­na­he rou­ti­ne­mä­ßig ein­ge­stellt wor­den. Es soll­te nur bestraft wer­den, wer einer Betei­li­gung an ganz kon­kre­ten Mor­den über­führt wur­de. Es fehl­te durch­weg an gesetz­ge­be­ri­schen Signa­len. Es fehl­te das »Wol­len«, NS-Täter, als die­se noch kei­ne Grei­se waren, vor Gericht zu brin­gen. Per­sön­li­che Schuld ver­schwand so im Dickicht von Beweis­ak­ten, Gut­ach­ten und Verteidiger-Strategien.

Die Nicht-Ver­fol­gung von NS-Ver­bre­chen ist beschä­mend. Eine jahr­zehn­te­lan­ge Ver­wei­ge­rung von Straf­ver­fol­gung, eine kon­se­quen­te Straf­ver­ei­te­lung im Amt. Dafür gehör­te die Justiz auf die Ankla­ge­bank. Eini­ge Zah­len: In den drei West­zo­nen und der Bun­des­re­pu­blik wur­de von 1945 bis 2005 ins­ge­samt gegen 172.294 Per­so­nen wegen straf­ba­rer Hand­lun­gen wäh­rend der NS-Zeit ermit­telt. Das ist ange­sichts der mon­strö­sen Ver­bre­chen und der Zahl der dar­an betei­lig­ten Men­schen nur ein win­zi­ger Teil. Das hat­te sei­ne Grün­de: Im Justiz­ap­pa­rat saßen anfangs die­sel­ben Leu­te wie einst in der NS-Zeit. Vie­le mach­ten sich nur mit Wider­wil­len an die Arbeit.

Zu Ankla­gen kam es letzt­lich gera­de ein­mal in 16.740 Fäl­len – und nur 14.693 Ange­klag­te muss­ten sich tat­säch­lich vor Gericht ver­ant­wor­ten. Ver­ur­teilt wur­den schließ­lich gera­de ein­mal 6.656 Per­so­nen, für 5.184 Ange­klag­te ende­te das Ver­fah­ren mit Frei­spruch, oft aus Man­gel an Bewei­sen. Die mei­sten Ver­ur­tei­lun­gen – rund 60 Pro­zent – ende­ten mit gerin­gen Haft­stra­fen von bis zu einem Jahr. Vor dem Hin­ter­grund eines der größ­ten Ver­bre­chen in der Mensch­heits­ge­schich­te eine skan­da­lö­se, empö­ren­de Bilanz.

Von der Justiz hat­ten die NS-Täter nichts zu befürch­ten. Die mei­sten Deut­schen woll­ten von Kriegs­ver­bre­chern, von den NS-Ver­strickun­gen, von schuld­haf­ten Täter-Bio­gra­fien, kurz: vom mora­li­schen und zivi­li­sa­to­ri­schen Desa­ster Hit­ler-Deutsch­lands, nichts mehr wis­sen. Aus der Poli­tik gab es kei­ne zwin­gen­den Geset­zes­vor­ga­ben. Unter die­sem Ein­druck zeig­te vor allem die Justiz nur wenig Nei­gung, ehe­ma­li­ge NS-Täter zur Ver­ant­wor­tung zu ziehen.

Der Justiz reich­te es jahr­zehn­te­lang nicht für eine Ankla­ge, dass jemand eine Funk­ti­on in einem Ver­nich­tungs­la­ger inne­hat­te. Viel­mehr muss­te der jewei­li­ge Bei­trag zu mör­de­ri­schen Taten nach­ge­wie­sen wer­den. So konn­ten Täter und Täte­rin­nen unbe­hel­ligt ihr Leben füh­ren. Erst nach dem Urteil gegen John Dem­jan­juk, ein Wach­mann, der als »ukrai­ni­scher Hilfs­wil­li­ger« im Ver­nich­tungs­la­ger Sobi­bór tätig gewe­sen war und 2011 in Mün­chen ver­ur­teilt wur­de, ist die Justiz nach jahr­zehn­te­lan­ger Untä­tig­keit wie­der aktiv gewor­den. Wer als klei­nes Räd­chen beim gro­ßen Mas­sen­mor­den der Nazis dabei war, der kann seit­her auch ohne kon­kre­ten Tat­ver­dacht wegen Bei­hil­fe zum Mord ange­klagt wer­den. Mord ver­jährt nicht.

Lang­sam, zu lang­sam hat sich die deut­sche Justiz von ihrer »zwei­ten Schuld« befreit: der man­geln­den Straf­ver­fol­gung von NS-Tätern und -Täte­rin­nen in der Bun­des­re­pu­blik. Auch nach dem Urteil gegen betag­te Rent­ner und Grei­se bleibt die Fra­ge: Kann die Justiz nach Jahr­zehn­ten die­se Ver­bre­chen noch süh­nen? Kann ein Gericht jeman­den ange­mes­sen bestra­fen für die Betei­li­gung an einem kol­lek­ti­ven System der Bar­ba­rei – dafür, am »rei­bungs­lo­sen Ablauf der Tötungs­ak­tio­nen« teil­ge­nom­men zu haben? Vor allem aber: Kann den Opfern und ihren Hin­ter­blie­be­nen über­haupt Gerech­tig­keit, spä­te Wie­der­gut­ma­chung wider­fah­ren? Und ist der Auf­wand die­ser Ver­fah­ren tat­säch­lich gerecht­fer­tigt? Ande­rer­seits: Ver­pflich­tet uns der Respekt vor den Hin­ter­blie­be­nen nicht dazu, die Schuld und die Schul­di­gen zu benen­nen und vor Gericht zu brin­gen, solan­ge es noch mög­lich ist, gleich wie alt die Täter sind?

Tat­säch­lich ist es für die Bun­des­re­pu­blik alles ande­re als ein Ruh­mes­blatt, dass zahl­rei­che Ver­fah­ren erst jetzt statt­fan­den, da die Täter jen­seits der 90 sind. In einem solch hohen Alter einen Pro­zess durch­zu­ste­hen, mag schwer sein, doch wie ver­fehlt das Selbst­mit­leid ist, das man­che der Ange­klag­ten an den Tag legen, zeigt allein schon die Tat­sa­che, dass sie auf­grund der Untä­tig­keit der deut­schen Justiz ihr Leben in Frei­heit ver­brin­gen durf­ten. Dar­an dürf­te sich auch nichts mehr ändern: Eigent­li­che Haft­stra­fen blie­ben den Mord­ge­hil­fen, die bis­her ver­ur­teilt wur­den, auf­grund ihres hohen Alters erspart. Bei denen, die der­zeit noch vor Gericht ste­hen, wird dies wohl nicht anders sein. Wenn man so will, han­delt es sich bei den Pro­zes­sen um sym­bo­li­sche Akte.

Für den Histo­ri­ker Pro­fes­sor Jens-Chri­sti­an Wag­ner, Lei­ter der Stif­tung Gedenk­stät­te Buchen­wald und Mit­tel­bau-Dora in Wei­mar, ber­gen ver­spä­te­te Ver­fah­ren wie vor dem Hanau­er Land­ge­richt den­noch eine Chan­ce für die Gesell­schaft. Zwar könn­te die heu­ti­ge Auf­klä­rung von ein­zel­nen Tat­kom­ple­xen vor Gericht die Schuld der ver­säum­ten juri­sti­schen Auf­ar­bei­tung nicht wie­der­gut­ma­chen. Doch heu­ti­ge Gerichts­ver­fah­ren könn­ten ein Anstoß sein, sich inten­si­ver mit den »klei­nen« Tätern und Täte­rin­nen zu befas­sen. »Tat­säch­lich kann es, wenn vor Gericht dar­über gespro­chen wird, wie ein KZ funk­tio­niert (…), hilf­reich sein«, zu erken­nen, »dass Ver­bre­chen eben nicht nur von eini­gen Exzess-Täter und von eini­gen ›ganz da oben‹ began­gen wur­den, son­dern dass Ver­bre­chen immer nur dann funk­tio­nie­ren, wenn ein gro­ßer Teil der Bevöl­ke­rung mit­macht.« Mit den Mecha­nis­men, die zu den Gewalt­ver­bre­chen geführt haben, müs­se sich die Gesell­schaft beschäf­ti­gen, for­dert Wag­ner. »Das Trau­ern um Opfer ist wohl­feil, wenn man nicht danach fragt, war­um Men­schen zu Opfern gewor­den sind.« Die spä­ten Pro­zes­se gegen mut­maß­li­che NS-Ver­bre­cher könn­ten dazu ein Bei­trag lei­sten, so der Historiker.

Man darf fest­hal­ten: Die Auf­ar­bei­tung des NS-Unrechts durch die deut­sche Nach­kriegs­ju­stiz ist eine Geschich­te der Ver­spä­tung und Ver­zö­ge­rung. Sie hat gründ­lich ver­sagt, nicht nur im Fal­le des Hun­dert­jäh­ri­gen, der sich nun in Hanau ver­ant­wor­ten soll. Ein beschä­men­des Versagen.