Jüdischer Friedhof Weißensee. Der größte jüdische Friedhof Europas geizt nicht mit berühmten Namen und manchmal auch nicht mit monumentalen Grabstätten. Nicht zu übersehen ist etwa das Grab des Malers Hugo Krayn. Eine Art großer Fels, verziert mit einer schlichten schwarzen Tafel, auf der zu lesen ist: »Seine Seele lebt fort bei seinen Lieben und in der Kunst«. Schmucklos, streng, aber auch unerschütterlich wirkt diese Grabstätte.
Sie repräsentiert gewissermaßen auch den Künstler, denn der war, wenn man ihn über seine Kunst deuten mag, uneitel und ohne Allüren. Zudem mit einem festen Glauben an sich und die Kunst, für die er lebte. Anders erklärt sich auch nicht die Hartnäckigkeit, mit der Hugo Krayn konsequent bei seinen düsteren Sujets blieb, die vor allem im Berliner Proletariat angesiedelt waren. Verhärmte Menschen, die mit den Widrigkeiten ihres armseligen Lebens zu kämpfen hatten, und das ohne Aussicht auf eine Änderung. Kaum einer verstand sie besser als Hugo Krayn. Durch seine Gemälde und Lithographien dieser geschundenen Existenzen wurde er in gewisser Weise auch zu einer Art Chronist der Berliner Großstadt am Abgrund. Für den vermeintlichen Glanz und den Glamour der Stadt waren andere zuständig, das war nicht sein Metier.
Hugo Krayn, geboren am 5. Februar 1885 in Berlin als Sohn des Kaufmanns Leopold Krayn und dessen Ehefrau Elisabeth Krayn geb. Schendel, hatte Armut vermutlich selber in jungen Jahren erfahren. Der Vater war einst aus seinem Geburtsort Pudewitz im Kreis Schroda (Provinz Posen) nach Berlin gezogen, um dort sein Glück zu suchen. Sein Ziel war es, sich in der großen Stadt eine Existenz für sich und seine Familie aufzubauen. Doch mit seiner Damen-Mäntel- und Kostümfabrik in der Oranienstraße, die er am 1. Oktober 1882 zusammen mit dem Kaufmann Isidor Rosenfeld als Offene Handelsgesellschaft gründete, scheiterte er. Mehrmals schwebte ab 1889 das Damoklesschwert des Konkursverfahrens über ihm. Dennoch sollte der einzige Sohn Hugo auch Kaufmann werden. Der hatte offenbar aber ganz andere Pläne. Eigenaussagen des Künstlers fehlen, so muss man auf Aufsätze zurückgreifen, die befreundete Zeitgenossen geschrieben haben.
Es war vor allem der Kunsthistoriker Dr. Karl Schwarz, dem wir heute kleinere biografische Details aus Krayns Leben verdanken, weil die beiden Männer im Briefwechsel miteinander standen. Schon als Kind war Hugo Krayn demnach vor allem damit beschäftigt gewesen, zu zeichnen oder auch mit Kreide die Wege auf der Straße zu verzieren. Künstler wollte er werden, das stand für ihn schon in jungen Jahren unwiderruflich fest. Nach dem Besuch eines Berliner Gymnasiums bis zur Obersekunda begann er, seinen Traum von einer Künstlerkarriere in die Tat umzusetzen und besuchte ab 1902 die Berliner Kunstgewerbeschule, in der unter anderem von 1905 bis 1910 Emil Orlik sein Lehrer in der Klasse für Graphik und Buchkunst war. Krayn merkte dort aber, dass das Kunstgewerbe ihm doch nicht so lag und er lieber draußen skizzieren wollte, um daraus Ölgemälde zu erschaffen. Und dabei kristallisierte sich dann schnell – ohne dass Krayn groß überlegt haben mag – ein bestimmtes Sujet heraus: das harte Leben der Arbeiterklasse. Das Leben als Kampf, wie er es zu Hause auch kennengelernt hatte. Auf den Bildern kamen so zunächst noch symbolhaft rauchende Fabrikschlote oder Hochbahnen, die es eilig hatten, hinzu, das Tempo sowohl in der Gesellschaft als auch auf seinen Gemälden zog an. Sie zeigten überwiegend verhärmte Menschen wie »In der Elektrischen«. Dieses Ölgemälde ist ein klassischer Krayn: Drei Menschen sitzen in der Elektrischen. Ein älterer Mann liest in der Zeitung, in der Mitte sieht man eine verhärmt aussehende Frau, die sich mit betont großen Händen an ihre Tasche klammert; ganz rechts dämmert ein junger Mann mit Schiebermütze und nach vorne gebeugter Postur vor sich hin. Müde von der Arbeit = müde vom Leben? Im Hintergrund erkennt man Passanten, eine »Restauration«, aber auch ein weißes Pferd – es findet sich auch auf dem Gemälde »Großstadt« wieder -, das sich anstrengen muss, einen Lastenkarren vorwärtszuziehen.
Es mag Stärke symbolisieren, den täglichen Kampf der Menschen, die sich nicht unterkriegen ließen. Doch die vermeintliche Stärke ist auch trügerisch. Die Betroffenen ahnen, dass sie ihrem Milieu nie werden entfliehen können. Und ewig rauchen die Fabrikschlote im Hintergrund, wieder erweckt eine verhärmte Frau am linken Bildrand das Mitleid des Betrachters. Sie ähnelt stark der Frau aus der »Elektrischen«. Es sind vor allem auch die Gesichter der Menschen, die Krayn äußerst lebensnah wiedergab, weil sie das Innenleben und vor allem die Schicksalhaftigkeit ihres Daseins verkörperten.
Dramen gab es jedoch auch in Krayns Leben. Der Tod des Vaters am 11. Januar 1909 ließ die kleine Familie ohne Ernährer zurück. Mutter und Sohn waren nun allein auf sich gestellt. Gebrandmarkt auch durch das berufliche Scheitern des Vaters, was eine Erklärung auch für die Rastlosigkeit Hugo Krayns sein konnte, der wie ein kleines Rädchen an einem großen Wagen immer weiter und weiter malte, nachdem er die Kunstgewerbeschule verlassen hatte. Seine Gesundheit war allerdings Zeit seines Lebens durch eine von Geburt an schwache Lunge angeschlagen. Licht und Schatten also nicht nur auf der Leinwand, sondern auch im realen Leben. Schwarz und Weiß auch die Farben seiner Lithografien und Radierungen, die – laut Kunstkritikern der damaligen Zeit – ebenfalls ein großes Talent erahnen ließen, ebenso wie die sehr lebensnahen Portraitzeichnungen von Prominenten. Immer wieder aber kehrte Krayn zu seinem Ursprung, der Straße, zurück.
Zu den Fabriken mit den rauchenden Schloten, zu den Kanälen mit ihren Lastkähnen, zu den abgekämpften Arbeiterinnen und Arbeitern. Dem Elend, der Verzweiflung, der »Trauer«, Letzteres war natürlich auch Titel eines Krayn-Werkes. Und immer war es dunkel, erhellte allenfalls in den Fabriken das elektrische Licht das trübe Dasein. Erst nach einem Erholungsaufenthalt in Davos im Jahr 1913 wurde es auf seinen Bildern mitunter etwas heller, möglicherweise auch im Leben Krayns, man kann auch das nicht wissen. Zumindest fand nun eine »schlafende Venus« ihren Weg auf Krayns Leinwand, ebenso ein »Liebespaar in der Eisenbahn«. Zwei Jahre später wurde Krayn Mitglied der Berliner Sezession, für deren alljährlichen Ausstellungen in den Räumen am Kurfürstendamm er Bilder lieferte. Dann brach der Erste Weltkrieg aus, der natürlich ebenfalls ungezählte Motive für Krayns naturalistische Arbeit bot. Man ahnt auch das: Verkrüppelte Soldaten oder Soldaten auf Heimaturlaub, aber nach wie vor immer auch noch düstere Industrieumgebungen wie zum Beispiel »Die Erschöpften«. Der Realismus auf der Leinwand und auf dem Zeichenpapier war zu dem Zeitpunkt fast perfekt. Der Künstler gereift, zu Höherem bestimmt? Doch daraus wurde nichts. Als die Spanische Grippe auch in Berlin wütete und ungezählte Todesopfer forderte, wurde Krayn eines der Opfer dieser furchtbaren Pandemie. Hugo Krayn starb im 33. Lebensjahr am 25. Januar 1919 an dieser heimtückischen Grippe, zehn Tage nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in einem durch Krisen erschütterten Berlin, das nicht mehr zur Ruhe kommen sollte.
Es ist tragisch, dass die Werke Krayns nicht mehr an einem Ort versammelt und gewürdigt werden können. Eine Vielzahl seiner Bilder wurden bei einem Fliegerangriff vernichtet. Ab und zu gelangen immer mal wieder Werke bei Auktionen ans Tageslicht. Vereinzelt haben Museen das eine oder andere Gemälde in ihrem Bestand, so zum Beispiel die »Großstadt« im Deutschen Historischen Museum.
»Durch seinen Tod hat die deutsche Kunst eine große Hoffnung eingebüßt«, hieß es im Nachruf der Berliner Sezession, und weiterhin: »Der rührend bescheidene, stille Mensch war uns ein lieber Freund und Kollege.« Krayns Selbstporträt, das ihn mit seiner Mutter zeigt, konnte gerettet werden. Dr. Ernst Grumach, der frühere Lehrer an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, hatte 1946 – so berichtete die Zeitschrift Aufbau – im Keller der ehemaligen Reichskulturkammer in der Schlüterstraße 45 die Gemäldesammlung des Berliner Jüdischen Museums entdeckt, darunter auch das Doppelbildnis von Krayn und seiner Mutter, welches sich heute im Israel Museum in Jerusalem befindet. Und darauf sieht man zum ersten Mal auch den Künstler selber, der den Betrachter direkt anschaut – eine Reproduktion des Gemäldes ist auch in einer Publikation von Karl Schwarz enthalten. Er hatte den Lebensweg des jungen Künstlers aufmerksam verfolgt und ließ es sich nach dessen Tod nicht nehmen, eine kleine Monografie über ihn zu verfassen. Das Buch, das auch ein lobendes Vorwort von Lovis Corinth enthielt, erschien 1919 als Band 8 der Reihe »Junge Kunst« und ist bis heute die einzige Veröffentlichung über Krayn, dem »Künstler des sozialen Lebens«, wie Schwarz ihn auch bezeichnet hatte. Ebenso widmeten die Mitglieder der Berliner Sezession Krayn eine »Gedächtnis-Ausstellung«, die vom 19. Februar bis zum 28. März 1919 gezeigt wurde.
Der aufstrebende Künstler und zugleich scharfe Wirklichkeitssezierer war tot. Was hätte er wohl alles in der Weimarer Zeit in Berlin gesehen – und dann gemalt?