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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Künstler des sozialen Lebens

Jüdi­scher Fried­hof Wei­ßen­see. Der größ­te jüdi­sche Fried­hof Euro­pas geizt nicht mit berühm­ten Namen und manch­mal auch nicht mit monu­men­ta­len Grab­stät­ten. Nicht zu über­se­hen ist etwa das Grab des Malers Hugo Krayn. Eine Art gro­ßer Fels, ver­ziert mit einer schlich­ten schwar­zen Tafel, auf der zu lesen ist: »Sei­ne See­le lebt fort bei sei­nen Lie­ben und in der Kunst«. Schmuck­los, streng, aber auch uner­schüt­ter­lich wirkt die­se Grabstätte.

Sie reprä­sen­tiert gewis­ser­ma­ßen auch den Künst­ler, denn der war, wenn man ihn über sei­ne Kunst deu­ten mag, unei­tel und ohne Allü­ren. Zudem mit einem festen Glau­ben an sich und die Kunst, für die er leb­te. Anders erklärt sich auch nicht die Hart­näckig­keit, mit der Hugo Krayn kon­se­quent bei sei­nen düste­ren Sujets blieb, die vor allem im Ber­li­ner Pro­le­ta­ri­at ange­sie­delt waren. Ver­härm­te Men­schen, die mit den Wid­rig­kei­ten ihres arm­se­li­gen Lebens zu kämp­fen hat­ten, und das ohne Aus­sicht auf eine Ände­rung. Kaum einer ver­stand sie bes­ser als Hugo Krayn. Durch sei­ne Gemäl­de und Litho­gra­phien die­ser geschun­de­nen Exi­sten­zen wur­de er in gewis­ser Wei­se auch zu einer Art Chro­nist der Ber­li­ner Groß­stadt am Abgrund. Für den ver­meint­li­chen Glanz und den Gla­mour der Stadt waren ande­re zustän­dig, das war nicht sein Metier.

Hugo Krayn, gebo­ren am 5. Febru­ar 1885 in Ber­lin als Sohn des Kauf­manns Leo­pold Krayn und des­sen Ehe­frau Eli­sa­beth Krayn geb. Schen­del, hat­te Armut ver­mut­lich sel­ber in jun­gen Jah­ren erfah­ren. Der Vater war einst aus sei­nem Geburts­ort Pude­witz im Kreis Schro­da (Pro­vinz Posen) nach Ber­lin gezo­gen, um dort sein Glück zu suchen. Sein Ziel war es, sich in der gro­ßen Stadt eine Exi­stenz für sich und sei­ne Fami­lie auf­zu­bau­en. Doch mit sei­ner Damen-Män­tel- und Kostüm­fa­brik in der Ora­ni­en­stra­ße, die er am 1. Okto­ber 1882 zusam­men mit dem Kauf­mann Isi­dor Rosen­feld als Offe­ne Han­dels­ge­sell­schaft grün­de­te, schei­ter­te er. Mehr­mals schweb­te ab 1889 das Damo­kles­schwert des Kon­kurs­ver­fah­rens über ihm. Den­noch soll­te der ein­zi­ge Sohn Hugo auch Kauf­mann wer­den. Der hat­te offen­bar aber ganz ande­re Plä­ne. Eigen­aus­sa­gen des Künst­lers feh­len, so muss man auf Auf­sät­ze zurück­grei­fen, die befreun­de­te Zeit­ge­nos­sen geschrie­ben haben.

Es war vor allem der Kunst­hi­sto­ri­ker Dr. Karl Schwarz, dem wir heu­te klei­ne­re bio­gra­fi­sche Details aus Krayns Leben ver­dan­ken, weil die bei­den Män­ner im Brief­wech­sel mit­ein­an­der stan­den. Schon als Kind war Hugo Krayn dem­nach vor allem damit beschäf­tigt gewe­sen, zu zeich­nen oder auch mit Krei­de die Wege auf der Stra­ße zu ver­zie­ren. Künst­ler woll­te er wer­den, das stand für ihn schon in jun­gen Jah­ren unwi­der­ruf­lich fest. Nach dem Besuch eines Ber­li­ner Gym­na­si­ums bis zur Ober­se­kun­da begann er, sei­nen Traum von einer Künst­ler­kar­rie­re in die Tat umzu­set­zen und besuch­te ab 1902 die Ber­li­ner Kunst­ge­wer­be­schu­le, in der unter ande­rem von 1905 bis 1910 Emil Orlik sein Leh­rer in der Klas­se für Gra­phik und Buch­kunst war. Krayn merk­te dort aber, dass das Kunst­ge­wer­be ihm doch nicht so lag und er lie­ber drau­ßen skiz­zie­ren woll­te, um dar­aus Ölge­mäl­de zu erschaf­fen. Und dabei kri­stal­li­sier­te sich dann schnell – ohne dass Krayn groß über­legt haben mag – ein bestimm­tes Sujet her­aus: das har­te Leben der Arbei­ter­klas­se. Das Leben als Kampf, wie er es zu Hau­se auch ken­nen­ge­lernt hat­te. Auf den Bil­dern kamen so zunächst noch sym­bol­haft rau­chen­de Fabrik­schlo­te oder Hoch­bah­nen, die es eilig hat­ten, hin­zu, das Tem­po sowohl in der Gesell­schaft als auch auf sei­nen Gemäl­den zog an. Sie zeig­ten über­wie­gend ver­härm­te Men­schen wie »In der Elek­tri­schen«. Die­ses Ölge­mäl­de ist ein klas­si­scher Krayn: Drei Men­schen sit­zen in der Elek­tri­schen. Ein älte­rer Mann liest in der Zei­tung, in der Mit­te sieht man eine ver­härmt aus­se­hen­de Frau, die sich mit betont gro­ßen Hän­den an ihre Tasche klam­mert; ganz rechts däm­mert ein jun­ger Mann mit Schie­ber­müt­ze und nach vor­ne gebeug­ter Postur vor sich hin. Müde von der Arbeit = müde vom Leben? Im Hin­ter­grund erkennt man Pas­san­ten, eine »Restau­ra­ti­on«, aber auch ein wei­ßes Pferd – es fin­det sich auch auf dem Gemäl­de »Groß­stadt« wie­der -, das sich anstren­gen muss, einen Lasten­kar­ren vorwärtszuziehen.

Es mag Stär­ke sym­bo­li­sie­ren, den täg­li­chen Kampf der Men­schen, die sich nicht unter­krie­gen lie­ßen. Doch die ver­meint­li­che Stär­ke ist auch trü­ge­risch. Die Betrof­fe­nen ahnen, dass sie ihrem Milieu nie wer­den ent­flie­hen kön­nen. Und ewig rau­chen die Fabrik­schlo­te im Hin­ter­grund, wie­der erweckt eine ver­härm­te Frau am lin­ken Bild­rand das Mit­leid des Betrach­ters. Sie ähnelt stark der Frau aus der »Elek­tri­schen«. Es sind vor allem auch die Gesich­ter der Men­schen, die Krayn äußerst lebens­nah wie­der­gab, weil sie das Innen­le­ben und vor allem die Schick­sal­haf­tig­keit ihres Daseins verkörperten.

Dra­men gab es jedoch auch in Krayns Leben. Der Tod des Vaters am 11. Janu­ar 1909 ließ die klei­ne Fami­lie ohne Ernäh­rer zurück. Mut­ter und Sohn waren nun allein auf sich gestellt. Gebrand­markt auch durch das beruf­li­che Schei­tern des Vaters, was eine Erklä­rung auch für die Rast­lo­sig­keit Hugo Krayns sein konn­te, der wie ein klei­nes Räd­chen an einem gro­ßen Wagen immer wei­ter und wei­ter mal­te, nach­dem er die Kunst­ge­wer­be­schu­le ver­las­sen hat­te. Sei­ne Gesund­heit war aller­dings Zeit sei­nes Lebens durch eine von Geburt an schwa­che Lun­ge ange­schla­gen. Licht und Schat­ten also nicht nur auf der Lein­wand, son­dern auch im rea­len Leben. Schwarz und Weiß auch die Far­ben sei­ner Litho­gra­fien und Radie­run­gen, die – laut Kunst­kri­ti­kern der dama­li­gen Zeit – eben­falls ein gro­ßes Talent erah­nen lie­ßen, eben­so wie die sehr lebens­na­hen Por­trait­zeich­nun­gen von Pro­mi­nen­ten. Immer wie­der aber kehr­te Krayn zu sei­nem Ursprung, der Stra­ße, zurück.

Zu den Fabri­ken mit den rau­chen­den Schlo­ten, zu den Kanä­len mit ihren Last­käh­nen, zu den abge­kämpf­ten Arbei­te­rin­nen und Arbei­tern. Dem Elend, der Ver­zweif­lung, der »Trau­er«, Letz­te­res war natür­lich auch Titel eines Krayn-Wer­kes. Und immer war es dun­kel, erhell­te allen­falls in den Fabri­ken das elek­tri­sche Licht das trü­be Dasein. Erst nach einem Erho­lungs­auf­ent­halt in Davos im Jahr 1913 wur­de es auf sei­nen Bil­dern mit­un­ter etwas hel­ler, mög­li­cher­wei­se auch im Leben Krayns, man kann auch das nicht wis­sen. Zumin­dest fand nun eine »schla­fen­de Venus« ihren Weg auf Krayns Lein­wand, eben­so ein »Lie­bes­paar in der Eisen­bahn«. Zwei Jah­re spä­ter wur­de Krayn Mit­glied der Ber­li­ner Sezes­si­on, für deren all­jähr­li­chen Aus­stel­lun­gen in den Räu­men am Kur­für­sten­damm er Bil­der lie­fer­te. Dann brach der Erste Welt­krieg aus, der natür­lich eben­falls unge­zähl­te Moti­ve für Krayns natu­ra­li­sti­sche Arbeit bot. Man ahnt auch das: Ver­krüp­pel­te Sol­da­ten oder Sol­da­ten auf Hei­mat­ur­laub, aber nach wie vor immer auch noch düste­re Indu­strie­um­ge­bun­gen wie zum Bei­spiel »Die Erschöpf­ten«. Der Rea­lis­mus auf der Lein­wand und auf dem Zei­chen­pa­pier war zu dem Zeit­punkt fast per­fekt. Der Künst­ler gereift, zu Höhe­rem bestimmt? Doch dar­aus wur­de nichts. Als die Spa­ni­sche Grip­pe auch in Ber­lin wüte­te und unge­zähl­te Todes­op­fer for­der­te, wur­de Krayn eines der Opfer die­ser furcht­ba­ren Pan­de­mie. Hugo Krayn starb im 33. Lebens­jahr am 25. Janu­ar 1919 an die­ser heim­tücki­schen Grip­pe, zehn Tage nach der Ermor­dung von Karl Lieb­knecht und Rosa Luxem­burg in einem durch Kri­sen erschüt­ter­ten Ber­lin, das nicht mehr zur Ruhe kom­men sollte.

Es ist tra­gisch, dass die Wer­ke Krayns nicht mehr an einem Ort ver­sam­melt und gewür­digt wer­den kön­nen. Eine Viel­zahl sei­ner Bil­der wur­den bei einem Flie­ger­an­griff ver­nich­tet. Ab und zu gelan­gen immer mal wie­der Wer­ke bei Auk­tio­nen ans Tages­licht. Ver­ein­zelt haben Muse­en das eine oder ande­re Gemäl­de in ihrem Bestand, so zum Bei­spiel die »Groß­stadt« im Deut­schen Histo­ri­schen Museum.

»Durch sei­nen Tod hat die deut­sche Kunst eine gro­ße Hoff­nung ein­ge­büßt«, hieß es im Nach­ruf der Ber­li­ner Sezes­si­on, und wei­ter­hin: »Der rüh­rend beschei­de­ne, stil­le Mensch war uns ein lie­ber Freund und Kol­le­ge.« Krayns Selbst­por­trät, das ihn mit sei­ner Mut­ter zeigt, konn­te geret­tet wer­den. Dr. Ernst Gru­mach, der frü­he­re Leh­rer an der Hoch­schu­le für die Wis­sen­schaft des Juden­tums, hat­te 1946 – so berich­te­te die Zeit­schrift Auf­bau – im Kel­ler der ehe­ma­li­gen Reichs­kul­tur­kam­mer in der Schlü­ter­stra­ße 45 die Gemäl­de­samm­lung des Ber­li­ner Jüdi­schen Muse­ums ent­deckt, dar­un­ter auch das Dop­pel­bild­nis von Krayn und sei­ner Mut­ter, wel­ches sich heu­te im Isra­el Muse­um in Jeru­sa­lem befin­det. Und dar­auf sieht man zum ersten Mal auch den Künst­ler sel­ber, der den Betrach­ter direkt anschaut – eine Repro­duk­ti­on des Gemäl­des ist auch in einer Publi­ka­ti­on von Karl Schwarz ent­hal­ten. Er hat­te den Lebens­weg des jun­gen Künst­lers auf­merk­sam ver­folgt und ließ es sich nach des­sen Tod nicht neh­men, eine klei­ne Mono­gra­fie über ihn zu ver­fas­sen. Das Buch, das auch ein loben­des Vor­wort von Lovis Corinth ent­hielt, erschien 1919 als Band 8 der Rei­he »Jun­ge Kunst« und ist bis heu­te die ein­zi­ge Ver­öf­fent­li­chung über Krayn, dem »Künst­ler des sozia­len Lebens«, wie Schwarz ihn auch bezeich­net hat­te. Eben­so wid­me­ten die Mit­glie­der der Ber­li­ner Sezes­si­on Krayn eine »Gedächt­nis-Aus­stel­lung«, die vom 19. Febru­ar bis zum 28. März 1919 gezeigt wurde.

Der auf­stre­ben­de Künst­ler und zugleich schar­fe Wirk­lich­keits­se­zie­rer war tot. Was hät­te er wohl alles in der Wei­ma­rer Zeit in Ber­lin gese­hen – und dann gemalt?