Alles ist anders, steht Kopf, ist möglich. Die Eltern, die jahrzehntelang brav und ein bisschen spießig in Gera lebten, brechen sofort nach dem Mauerfall auf in eine unbekannte Welt, in der sie sich durchbeißen. Carl, der Sohn, landet in Berlin in einem »Rudel« anarchistischer Hausbesetzer. Sie träumen und organisieren. Sie haben ihre eigenen Gesetze und Werte. Carl kann mauern und kellnert in einer Untergrundkneipe, aber wichtiger für ihn: Er dichtet, mit hohen Ansprüchen und Phasen von Minderwertigkeitsgefühlen. Dann taucht Effi auf, und die Liebe scheint perfekt. Nicht lange. Auch im »Rudel« kriselt es.
Ich konnte das Buch nicht weglegen. Vom ersten Roman Seilers kennt man den »Kruso«-Sound: Sprachmächtig, geheimnisvoll, detailverliebt, voller Spannung und Rätsel. Ein Lyriker, der dicke Romane schreibt. Das ist keiner der üblichen Nachwenderomane, sondern ein Hohelied auf Freiheit, Unabhängigkeit, Kreativität. Auch Solidarität und der (illusionäre) Wunsch nach Wandel spielen eine Rolle. Selbst die Eltern kehren vielleicht zurück und Ziege Dodo kommt in den Tierpark.
Lutz Seiler: »Stern 111«, Suhrkamp, 391 Seiten, 24 €