Unvergesslich ist mir dieses Bild: Über den Dächern der vielgeschossigen Mietshäuser in Hamburg-Altona sah ich einen Mann, der an einem Fallschirm hing und langsam heruntersank. Ich konnte – so meine ich – die Tarnuniform erkennen. Vermutlich war es der Pilot eines britischen Bombers, der sich aus dem abgeschossenen Flugzeug hatte retten können. Wenige Sekunden, dann verschwand der Fallschirm zwischen den Dächern aus meinem Blickfeld. Ich fragte mich, ob er wohl an einem Hausdach oder in einem Baum hängen geblieben war. Und wie fürchterlich das sein musste, so an den Fallschirmseilen über dem Abgrund in der Luft zu hängen. Ob in diesem Augenblick oder ob erst später, das weiß ich nicht, aber bis heute ist sie da, die Frage: Ist er lebend auf dem Boden angekommen? Geriet er in Kriegsgefangenschaft? Oder haben die Hausbewohner, die wochen-, die monatelang immer wieder im Keller Schutz vor den Bomben gesucht hatten, die ihre Kinder und ihre Großeltern 1943 im Hamburger Feuersturm hatten verbrennen sehen, deren Wohnungen zerstört waren und die das Sirenengeheul immer wieder in Angst und Schrecken versetzt hatte: Haben sie diesen Soldaten vielleicht in rasender Wut erschlagen?
Der Krieg hat zahllose Bilder hinterlassen, die in mir festgefroren sind. Heute würden wohl kindliche Traumata diagnostiziert. Jedenfalls stelle ich mir vor, dass die Schrecken des Krieges wie Blindgänger in mir abgelagert sind. Blindgänger: Immer wieder liest man ja, dass gerade irgendwo in Deutschland ein Stadtviertel evakuiert werden muss, weil bei Ausschachtungsarbeiten eine Bombe, ein Blindgänger, gefunden worden ist. Jetzt, 70 Jahre später, taucht die Bombe bei Bauarbeiten wieder aus dem Boden auf, wo sie wie ein schweigendes Verhängnis so lange vergessen war.
Es kommt mir so vor, als würde der Krieg in der Ukraine auf mich eine Wirkung haben, die mit solchen zeitgenössischen Ausschachtungsarbeiten vergleichbar sind. Die Blindgänger tauchen aus der Tiefe wieder auf. Ich denke, dass es gerade vielen alten Menschen so geht wie mir: Die Zeit der Bomben kriecht wie ein Gespenst aus den Trümmern hervor und macht den angestrengten Versuch zunichte, diese Schrecken in uns zu verschütten.
Im Sommer 1939 bin ich geboren. Kurz vor dem Beginn des 2. Weltkriegs. Die Jahre vom Anfang bis zum Ende des Krieges (und bis zur Nachgeburt des Krieges, die Hunger und Kälte hieß), habe ich in Hamburg gelebt. Die Leute – so erinnere ich mich – haben von dieser Zeit immer als von »der schlechten Zeit« gesprochen. Das ist eine sehr privat-familiale Formulierung, in der die Naziherrschaft mit dem Hunger und der Winterkälte nach 1945 verschmolz. Politisch nicht korrekt, verharmlosend auch, aber die Menschen haben es, die Zusammenhänge verdrängend, wohl so empfunden. Es waren schlechte Zeiten. Die Menschen kämpften ums Überleben: Bei Sirenengeheul, in Bombenkellern, in abgedunkelten Zimmern (wegen »des Feindes«), mit knurrendem Magen und oft in ungeheizten Zimmern. Der Schauspieler Edgar Selge hat in seinem wunderbaren Buch »Hast Du uns endlich gefunden« über einen parallelen Begriff aus dieser Zeit sinniert, über den Begriff »Zusammenbruch«, der in seiner Nachkriegsfamilie gängig war: »Es ist wie mit diesem Wort ›Zusammenbruch‹, das immer wieder fällt. Ich kriege nie raus, ob das eine Katastrophe war oder eine Erlösung. Keiner scheint es genau zu wissen. Keiner will sich entscheiden. Unsere Eltern sagen: Letztlich muss man froh sein, dass es so gekommen ist. Aber ihre Gesichter sehen nicht froh aus, wenn sie das sagen. Und das gibt mir zu denken.«
Die Erinnerungen an diese Zeiten waren tief in mir eingeschlossen. Weggeschlossen. Und wenn die Schreckenserinnerungen mal auftauchten, dann waren sie nicht willkommen, nicht bei mir und nicht bei Zuhörern. Niemand – das ist meine Erfahrung – wollte in den vergangenen Zeiten etwas darüber wissen. Es gab seit den sechziger Jahren die Auseinandersetzungen um das Schweigen der Väter und Mütter über die Nazizeit. Es gab die Debatten um den Holocaust, um den Faschismus, um die Schuld der Deutschen. Aber wie es meinen Eltern, meinen Brüdern oder mir im Krieg gegangen ist, das war kein Thema, ich denke: Es durfte kein Thema sein. Erst als Sabine Bode über Kriegskinder zu schreiben begann, durfte etwas davon zur Sprache kommen. »Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« hieß das 2004 erschienene Buch.
Und da ist das Wort: vergessen. Wie groß müssen die Anstrengungen der Kriegseltern und der Kriegskinder gewesen sein, die Erinnerungen zum Schweigen zu bringen? Die erwachsene und die kindliche Flucht in das Vergessen, man könnte sagen, die Flucht in eine Art kulturelle Demenz, ist ein zentrales Motiv dieser Generationen. Wir werden nie wissen, wie viel von der Demenz, mit der wir es in den letzten Jahrzehnten zu tun bekommen haben, aus dem Boden dieser krampfhaften, angestrengten Versuche zu vergessen, erwachsen ist. Es scheint so, als würde die Generation der Kriegskinder, von denen jetzt viele in Pflegeheimen sind und von denen viele unter »kognitiven Einschränkungen« leiden, den Ukrainekrieg als ein Ereignis erleben, das sie mit ihren verschütteten Ängsten konfrontiert. Mit einem Mal ist das Sirenengeheul im Kopf wieder da, dieser quälende Ton zwischen den Ohren. Dieser nächtliche Augenblick wird wach, in dem die Mutter oder die Großmutter das Kind in Eile aus dem Bett reißt; das Kind, das schon angezogen unter der Decke schlief, weil Nacht für Nacht mit Alarm zu rechnen war. Hastig in den Keller oder in den Bunker. Im Bunker phosphoreszierende Anweisungen an den Wänden. Geschrei und Stöhnen, als der Spitzbunker von einer Bombe getroffen, zu wackeln beginnt. Der Spitzbunker hatte – so wurde gesagt – ein spitzes Dach, damit Bomben an ihm abglitten. Innen war ein spiralförmiger Aufgang, da saßen die Menschen dichtgedrängt. Heute ist der Bunker eine stimmungsvolle Cocktailbar.
Ein anderer Ort, den ich erinnere: Das Rathaus in Altona. Im Sommer 1943 schlug eine Sprengbombe direkt durch den Uhrenturm in das Gebäude ein. Die Handschriften von Klopstock, Claudius, Liliencron waren in einem feuersicheren Panzerschrank gelagert, in dem man aber, als er Wochen später geborgen wurde, nur Asche fand. Auch eine Auslöschung von Erinnerungen. Das kulturelle Gedächtnis unwiderruflich beschädigt. Während oben im Panzerschrank die Briefe zerschmolzen, versuchte im Keller ein Offizier, die grüne Uniform bleibt unvergesslich, mir die Gasmaske aufzusetzen, wogegen ich mich erfolgreich zur Wehr setzte. Er schob mich ersatzweise unter eine Bank. Ich kann mich nicht an die Gesichter der Menschen, meiner Mutter, meiner Großmutter, meiner Brüder erinnern. Es muss Schreie gegeben haben als die Bombe einschlug, aber die Erinnerung daran bleibt für mich wohltuend verschlossen. Mir kommt es so vor, als hätten die dichtgedrängt dasitzenden Menschen geschwiegen, aber das ist wohl nicht wahr. Irgendwann liefen Männer mit Mullbinden um den Kopf hin und her und versuchten, den von herabstürzenden Trümmern versperrten Ausgang frei zu räumen. Was gelang. Auf der Straße lagen überall Glassplitter. Es war dunkel, aus den Gebäuden schlugen Flammen. Und meine Mutter wischte die Splitter von meinem Mantelkragen. Ich weiß bis heute nicht, ob das eine Geste der Ordnung, des Trostes oder der Zuwendung war. Das Mietshaus, in das wir zurückkehrten, stand noch. Mitten in der Nacht wurde dann Muckefuck gekocht, Ersatzkaffee. Den Wasserkessel sehe ich vor mir, die Gesichter der Menschen nicht. In einem kleinen Zimmer dann das Bett der Mutter, der Großmutter und das dreistöckige Luftschutzbett für uns drei Kinder. Die Sirenen heulten: Entwarnung. Es war Ruhe eingekehrt.
Die Kriegskinder haben versucht zu vergessen. Sie wuchsen auf in einer Gesellschaft, die krampfhaft um Vergessen bemüht war. Um das Vergessen der Schrecken und der (eigenen) Verbrechen. Vielleicht muss man die Nachkriegsgesellschaft überhaupt als eine »Gesellschaft mit Demenz« verstehen? Jetzt werden Kinder in der Ukraine zu Kriegskindern. Und wenn sie in sieben oder acht Jahrzehnten alt geworden sind, werden die Schreckenserinnerungen aus dem Jahr 2022 wie ein Blindgänger aus der Tiefe ihrer Seele wieder auftauchen.