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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Krieg, die Alten, die Demenz

Unver­gess­lich ist mir die­ses Bild: Über den Dächern der viel­ge­schos­si­gen Miets­häu­ser in Ham­burg-Alto­na sah ich einen Mann, der an einem Fall­schirm hing und lang­sam her­un­ter­sank. Ich konn­te – so mei­ne ich – die Tarn­uni­form erken­nen. Ver­mut­lich war es der Pilot eines bri­ti­schen Bom­bers, der sich aus dem abge­schos­se­nen Flug­zeug hat­te ret­ten kön­nen. Weni­ge Sekun­den, dann ver­schwand der Fall­schirm zwi­schen den Dächern aus mei­nem Blick­feld. Ich frag­te mich, ob er wohl an einem Haus­dach oder in einem Baum hän­gen geblie­ben war. Und wie fürch­ter­lich das sein muss­te, so an den Fall­schirm­sei­len über dem Abgrund in der Luft zu hän­gen. Ob in die­sem Augen­blick oder ob erst spä­ter, das weiß ich nicht, aber bis heu­te ist sie da, die Fra­ge: Ist er lebend auf dem Boden ange­kom­men? Geriet er in Kriegs­ge­fan­gen­schaft? Oder haben die Haus­be­woh­ner, die wochen-, die mona­te­lang immer wie­der im Kel­ler Schutz vor den Bom­ben gesucht hat­ten, die ihre Kin­der und ihre Groß­el­tern 1943 im Ham­bur­ger Feu­er­sturm hat­ten ver­bren­nen sehen, deren Woh­nun­gen zer­stört waren und die das Sire­nen­ge­heul immer wie­der in Angst und Schrecken ver­setzt hat­te: Haben sie die­sen Sol­da­ten viel­leicht in rasen­der Wut erschlagen?

Der Krieg hat zahl­lo­se Bil­der hin­ter­las­sen, die in mir fest­ge­fro­ren sind. Heu­te wür­den wohl kind­li­che Trau­ma­ta dia­gno­sti­ziert. Jeden­falls stel­le ich mir vor, dass die Schrecken des Krie­ges wie Blind­gän­ger in mir abge­la­gert sind. Blind­gän­ger: Immer wie­der liest man ja, dass gera­de irgend­wo in Deutsch­land ein Stadt­vier­tel eva­ku­iert wer­den muss, weil bei Aus­schach­tungs­ar­bei­ten eine Bom­be, ein Blind­gän­ger, gefun­den wor­den ist. Jetzt, 70 Jah­re spä­ter, taucht die Bom­be bei Bau­ar­bei­ten wie­der aus dem Boden auf, wo sie wie ein schwei­gen­des Ver­häng­nis so lan­ge ver­ges­sen war.

Es kommt mir so vor, als wür­de der Krieg in der Ukrai­ne auf mich eine Wir­kung haben, die mit sol­chen zeit­ge­nös­si­schen Aus­schach­tungs­ar­bei­ten ver­gleich­bar sind. Die Blind­gän­ger tau­chen aus der Tie­fe wie­der auf. Ich den­ke, dass es gera­de vie­len alten Men­schen so geht wie mir: Die Zeit der Bom­ben kriecht wie ein Gespenst aus den Trüm­mern her­vor und macht den ange­streng­ten Ver­such zunich­te, die­se Schrecken in uns zu verschütten.

Im Som­mer 1939 bin ich gebo­ren. Kurz vor dem Beginn des 2. Welt­kriegs. Die Jah­re vom Anfang bis zum Ende des Krie­ges (und bis zur Nach­ge­burt des Krie­ges, die Hun­ger und Käl­te hieß), habe ich in Ham­burg gelebt. Die Leu­te – so erin­ne­re ich mich – haben von die­ser Zeit immer als von »der schlech­ten Zeit« gespro­chen. Das ist eine sehr pri­vat-fami­lia­le For­mu­lie­rung, in der die Nazi­herr­schaft mit dem Hun­ger und der Win­ter­käl­te nach 1945 ver­schmolz. Poli­tisch nicht kor­rekt, ver­harm­lo­send auch, aber die Men­schen haben es, die Zusam­men­hän­ge ver­drän­gend, wohl so emp­fun­den. Es waren schlech­te Zei­ten. Die Men­schen kämpf­ten ums Über­le­ben: Bei Sire­nen­ge­heul, in Bom­ben­kel­lern, in abge­dun­kel­ten Zim­mern (wegen »des Fein­des«), mit knur­ren­dem Magen und oft in unge­heiz­ten Zim­mern. Der Schau­spie­ler Edgar Sel­ge hat in sei­nem wun­der­ba­ren Buch »Hast Du uns end­lich gefun­den« über einen par­al­le­len Begriff aus die­ser Zeit sin­niert, über den Begriff »Zusam­men­bruch«, der in sei­ner Nach­kriegs­fa­mi­lie gän­gig war: »Es ist wie mit die­sem Wort ›Zusam­men­bruch‹, das immer wie­der fällt. Ich krie­ge nie raus, ob das eine Kata­stro­phe war oder eine Erlö­sung. Kei­ner scheint es genau zu wis­sen. Kei­ner will sich ent­schei­den. Unse­re Eltern sagen: Letzt­lich muss man froh sein, dass es so gekom­men ist. Aber ihre Gesich­ter sehen nicht froh aus, wenn sie das sagen. Und das gibt mir zu denken.«

Die Erin­ne­run­gen an die­se Zei­ten waren tief in mir ein­ge­schlos­sen. Weg­ge­schlos­sen. Und wenn die Schrecken­s­er­in­ne­run­gen mal auf­tauch­ten, dann waren sie nicht will­kom­men, nicht bei mir und nicht bei Zuhö­rern. Nie­mand – das ist mei­ne Erfah­rung – woll­te in den ver­gan­ge­nen Zei­ten etwas dar­über wis­sen. Es gab seit den sech­zi­ger Jah­ren die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um das Schwei­gen der Väter und Müt­ter über die Nazi­zeit. Es gab die Debat­ten um den Holo­caust, um den Faschis­mus, um die Schuld der Deut­schen. Aber wie es mei­nen Eltern, mei­nen Brü­dern oder mir im Krieg gegan­gen ist, das war kein The­ma, ich den­ke: Es durf­te kein The­ma sein. Erst als Sabi­ne Bode über Kriegs­kin­der zu schrei­ben begann, durf­te etwas davon zur Spra­che kom­men. »Die ver­ges­se­ne Gene­ra­ti­on. Die Kriegs­kin­der bre­chen ihr Schwei­gen« hieß das 2004 erschie­ne­ne Buch.

Und da ist das Wort: ver­ges­sen. Wie groß müs­sen die Anstren­gun­gen der Kriegse­l­tern und der Kriegs­kin­der gewe­sen sein, die Erin­ne­run­gen zum Schwei­gen zu brin­gen? Die erwach­se­ne und die kind­li­che Flucht in das Ver­ges­sen, man könn­te sagen, die Flucht in eine Art kul­tu­rel­le Demenz, ist ein zen­tra­les Motiv die­ser Gene­ra­tio­nen. Wir wer­den nie wis­sen, wie viel von der Demenz, mit der wir es in den letz­ten Jahr­zehn­ten zu tun bekom­men haben, aus dem Boden die­ser krampf­haf­ten, ange­streng­ten Ver­su­che zu ver­ges­sen, erwach­sen ist. Es scheint so, als wür­de die Gene­ra­ti­on der Kriegs­kin­der, von denen jetzt vie­le in Pfle­ge­hei­men sind und von denen vie­le unter »kogni­ti­ven Ein­schrän­kun­gen« lei­den, den Ukrai­ne­krieg als ein Ereig­nis erle­ben, das sie mit ihren ver­schüt­te­ten Äng­sten kon­fron­tiert. Mit einem Mal ist das Sire­nen­ge­heul im Kopf wie­der da, die­ser quä­len­de Ton zwi­schen den Ohren. Die­ser nächt­li­che Augen­blick wird wach, in dem die Mut­ter oder die Groß­mutter das Kind in Eile aus dem Bett reißt; das Kind, das schon ange­zo­gen unter der Decke schlief, weil Nacht für Nacht mit Alarm zu rech­nen war. Hastig in den Kel­ler oder in den Bun­ker. Im Bun­ker phos­pho­res­zie­ren­de Anwei­sun­gen an den Wän­den. Geschrei und Stöh­nen, als der Spitz­bun­ker von einer Bom­be getrof­fen, zu wackeln beginnt. Der Spitz­bun­ker hat­te – so wur­de gesagt – ein spit­zes Dach, damit Bom­ben an ihm abglit­ten. Innen war ein spi­ral­för­mi­ger Auf­gang, da saßen die Men­schen dicht­ge­drängt. Heu­te ist der Bun­ker eine stim­mungs­vol­le Cocktailbar.

Ein ande­rer Ort, den ich erin­ne­re: Das Rat­haus in Alto­na. Im Som­mer 1943 schlug eine Spreng­bom­be direkt durch den Uhren­turm in das Gebäu­de ein. Die Hand­schrif­ten von Klop­stock, Clau­di­us, Lili­en­cron waren in einem feu­er­si­che­ren Pan­zer­schrank gela­gert, in dem man aber, als er Wochen spä­ter gebor­gen wur­de, nur Asche fand. Auch eine Aus­lö­schung von Erin­ne­run­gen. Das kul­tu­rel­le Gedächt­nis unwi­der­ruf­lich beschä­digt. Wäh­rend oben im Pan­zer­schrank die Brie­fe zer­schmol­zen, ver­such­te im Kel­ler ein Offi­zier, die grü­ne Uni­form bleibt unver­gess­lich, mir die Gas­mas­ke auf­zu­set­zen, woge­gen ich mich erfolg­reich zur Wehr setz­te. Er schob mich ersatz­wei­se unter eine Bank. Ich kann mich nicht an die Gesich­ter der Men­schen, mei­ner Mut­ter, mei­ner Groß­mutter, mei­ner Brü­der erin­nern. Es muss Schreie gege­ben haben als die Bom­be ein­schlug, aber die Erin­ne­rung dar­an bleibt für mich wohl­tu­end ver­schlos­sen. Mir kommt es so vor, als hät­ten die dicht­ge­drängt dasit­zen­den Men­schen geschwie­gen, aber das ist wohl nicht wahr. Irgend­wann lie­fen Män­ner mit Mull­bin­den um den Kopf hin und her und ver­such­ten, den von her­ab­stür­zen­den Trüm­mern ver­sperr­ten Aus­gang frei zu räu­men. Was gelang. Auf der Stra­ße lagen über­all Glas­split­ter. Es war dun­kel, aus den Gebäu­den schlu­gen Flam­men. Und mei­ne Mut­ter wisch­te die Split­ter von mei­nem Man­tel­kra­gen. Ich weiß bis heu­te nicht, ob das eine Geste der Ord­nung, des Tro­stes oder der Zuwen­dung war. Das Miets­haus, in das wir zurück­kehr­ten, stand noch. Mit­ten in der Nacht wur­de dann Mucke­fuck gekocht, Ersatz­kaf­fee. Den Was­ser­kes­sel sehe ich vor mir, die Gesich­ter der Men­schen nicht. In einem klei­nen Zim­mer dann das Bett der Mut­ter, der Groß­mutter und das drei­stöcki­ge Luft­schutz­bett für uns drei Kin­der. Die Sire­nen heul­ten: Ent­war­nung. Es war Ruhe eingekehrt.

Die Kriegs­kin­der haben ver­sucht zu ver­ges­sen. Sie wuch­sen auf in einer Gesell­schaft, die krampf­haft um Ver­ges­sen bemüht war. Um das Ver­ges­sen der Schrecken und der (eige­nen) Ver­bre­chen. Viel­leicht muss man die Nach­kriegs­ge­sell­schaft über­haupt als eine »Gesell­schaft mit Demenz« ver­ste­hen? Jetzt wer­den Kin­der in der Ukrai­ne zu Kriegs­kin­dern. Und wenn sie in sie­ben oder acht Jahr­zehn­ten alt gewor­den sind, wer­den die Schrecken­s­er­in­ne­run­gen aus dem Jahr 2022 wie ein Blind­gän­ger aus der Tie­fe ihrer See­le wie­der auftauchen.