Der Titel dieser wissenschaftlichen Abhandlung führt uns in die guterhaltene und malerisch wirkende »Fachwerk- und Hexenturm-Stadt« Idstein im Taunus, die 32 km Luftlinie von Frankfurt am Main entfernt liegt. Die Arbeit beschäftigt sich mit der vergessenen und verdrängten Geschichte einer »Heilanstalt«, die 1888 mit finanzieller Unterstützung Frankfurter Groß-Bürger gegründet wurde und »geistig zurückgebliebenen Kindern (…) liebevolle körperliche und geistige Pflege« zuteilwerden lassen wollte. Das endete spätestens im Oktober 1939. Schon von 1937 bis 1939 wurden die Lebensgrundlagen etwa durch Herabsenkung der Pflegesätze und die Einschränkung medizinisch-pflegerischer Unterstützung auch im Kalmenhof zur »Politik einer gezielten Ermordung«. Der Autor dieser Studie stellt (selbstkritisch) einleitend-warnend fest, dass mit der »Versachlichung ihres Gegenstandes« »die Unerträglichkeit des zugrunde liegenden Geschehens« getilgt werden könnte. Die Morde fanden in der weit überwiegenden Zahl der Fälle im Kalmenhof-Krankenhaus statt: »Töten im Rahmen ärztlicher Verrichtungen mithilfe überdosierter Medikamente und/oder einer kalkulierten Mangelernährung«. Die Einrichtung war nicht nur als »Zwischenanstalt« für die Tötungsanstalt Hadamar in die »Aktion T4« eingebunden. Ende 1941 wurde zudem eine »Kinderfachabteilung« eingerichtet, in der Kinder und Jugendliche ermordet wurden.
Es beginnt eine lange Spurensuche. Die Namen der Täter und Täterinnen sind bekannt. Der »Kalmenhof-Prozess« 1947 in Frankfurt am Main führte auch zu Verurteilungen. Weitere ähnlich gelagerte Strafprozesse wurden auch nach ihren Tatorten benannt: »Eichbergprozess« 1946-1947 und »Hadamarprozess« 1947-1948 und fanden ebenfalls am Landgericht in Frankfurt statt. In Idstein begann derweil das große Vergessen. Aber an den Grabfeldern dort wird das »unbequeme Erbe« gegenständlich greifbar und immer wieder – zum Teil nach Jahrzehnten – Gegenstand von (Grab-)Untersuchungen und Auseinandersetzungen. Es geht um die Lage der Grabfelder, die Art der Beerdigungen, die Zahl der Ermordeten und konkret auch um »De-Anonymisierung« und wie das Erinnern und Nichtvergessen nicht auf Wenige in der Idsteiner Stadtgesellschaft begrenzt bleibt. Können Sterbelisten (des Kalmenhofes, der Sterberegister etc.) mit den Gräbern anonym Beerdigter (über z. B. die Grabnummern) verknüpft werden, um so den Toten Namen zu geben?
Der Idsteiner Pfarrer Boecker hält in seiner Chronik die Vorgänge während der Nazi-Zeit auch auf den Friedhöfen fest. Nachdem von Ende 1939 bis Ende 1941 300 Grabplätze (= 88 Prozent der in dieser Zeit erfassten Sterbefälle in Idstein!) auf dem städtischen Friedhof durch die Toten des Kalmenhofes belegt wurden, »sperrte« die Stadt die Belegung »wegen Überfüllung« und »Massenandrang von Leichen aus der Anstalt«. Der Kalmenhof kaufte »im Februar 1942 für 300 Reichsmark den jüdischen Friedhof« an der Escher Straße und betrieb diesen ein dreiviertel Jahr. Die Jüdische Gemeinde Idsteins war zu dieser Zeit schon vertrieben und ausgelöscht. Ohne Totengeläut und ohne Grabsteine wurden jetzt die ermordeten Kinder und Jugendlichen aus dem Kalmenhof in großer Zahl dort beerdigt. Die Idsteiner waren dennoch orientiert, wie die Chronik vermittelt: »In der Stadt sah man trotz fehlenden Geläutes den Leichenwagen und wusste, was passiert war.«
Ab Oktober 1942 hatte Idstein einen 3. offiziellen Friedhof: den Kalmenhof-Friedhof hinter dem Krankenhaus des Kalmenhofes. Noch zur Zeit des Kalmenhof-Prozesses 1947 konnten die »mit Nummernschildern versehenen Gräber« besucht werden. Die Zahlen der dort Beerdigten schwanken stark. Sind es 350? Oder sind es viel mehr? Das bleibt bis heute ungeklärt! Gibt es weitere Grabfelder; steigt die Zahl der Toten auf 1.400 (2025)? Untersuchungen wurden nur halbherzig durchgeführt. In der Kriegszeit kommt es zum Einsatz eines einzigen »Klappsarges«, mit dem viele Beerdigungen kostengünstig organisiert und Gräber mit übereinander geschichteten Leichen mehrfach belegt wurden. Das Gräberfeld befindet sich bis heute auf einem »gottverlassenen« und nicht gut auffindbaren Terrain. Kurioserweise ist dieser Friedhof als »Kriegsgräberstätte« konzipiert worden. Auf die hanebüchenen Widersprüche in dieser Angelegenheit weist der Wissenschaftler hin. Das Auffinden des Grabfeldes gestaltet sich auch heute schwierig; der Weg dorthin ist schlecht ausgeschildert. Mit einem christlichen Kreuz im hinteren Bereich ist der Bestattungsort als Friedhof nur unzureichend kenntlich gemacht.
Der Kulturwissenschaftler benennt 3 Bücher als »Standardliteratur zum Kalmenhof«: »Die erste Person, die historische Forschungen zum Kalmenhof publizierte, war Dorothea Sick.« Die Abschluss-Arbeit im Fach Soziale Arbeit an der Fachhochschule Frankfurt – »Euthanasie im Nationalsozialismus am Beispiel des Kalmenhofs in Idstein im Taunus«– wurde durch den kürzlich verstorbenen Sozialmediziner Prof. betreut und 1983 publiziert. Wer traut sich an eine (erweiterte) Neuauflage?
Weitere Aufhellungen des Geschehens im Idsteiner Kalmenhof während der Nazi-Zeit bleiben Aufgabe. Den »Forschungsauftrag« für kommende Generationen greift der Wissenschaftler fragend selbst auf: »Wie und wodurch konnte eine so erfolgreiche und qualifiziert auf- und ausgebaute Einrichtung derart tief in eine Vernichtungsmaschinerie verstrickt werden?« Und: »Wie und wodurch konnte die Aufklärung der NS-Verbrechen im Kalmenhof in den 1980er Jahren an einem entscheidenden Punkt ihr Ziel verfehlen, so dass die Verwerfungen im Umgang mit der Tat und dem Friedhof abermals 30 Jahre undurchschaut blieben?«
Die heute touristisch interessante Stadt Idstein ist mit drei außerordentlich monströsen Ereignissen zu verbinden. Ich sehe einen gewissen Zusammenhang im Umgang mit diesen Verbrechen: Noch im späten 17. Jahrhundert wurden vom Idsteiner Kurfürsten (Glaubensbekenntnis: evangelisch) knapp 50 Menschen als Hexen und Hexer verbrannt oder geköpft. Die jüdischen Menschen Idsteins wurden sämtlich während der Zeit des Faschismus› vertrieben und damit die jüdische Gemeinde Idsteins ausgelöscht. Im Kalmenhof wurden hunderte zuwendungsbedürftige und kranke Menschen, wenn nicht gar weit über 1.000 Menschen umgebracht. Alle Taten wurden lange beschwiegen. Es gibt kein »aktives Erinnern« bis heute in der Stadtgesellschaft. Mit Unterstützung der VVN-Bund der Antifaschisten Taunus lud jedoch der Verein »Gedenkort Kalmenhof e. V. « am 3.09.2024 ins Idsteiner »Gerberhaus« zur Buchvorstellung mit Vortrag ein. Da Idstein über Ressourcen verfügt, müsste die örtliche Politik die weitere Erforschung (vielleicht in Zusammenarbeit mit Universitäten im Nahbereich?) bezuschussen und alles Erdenkliche tun, um der Nazi-Opfer (zumeist Kinder und Jugendliche) anteilnehmend und ehrend zu gedenken.
Christoph Schneider: Der Kalmenhof – NS-»Euthanasie« und ihre Nachgeschichte, Verlag Brill/Schöningh 2024, 310 S., 56 €.