Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

»Der Kalmenhof«

Der Titel die­ser wis­sen­schaft­li­chen Abhand­lung führt uns in die gut­erhal­te­ne und male­risch wir­ken­de »Fach­werk- und Hexen­turm-Stadt« Idstein im Tau­nus, die 32 km Luft­li­nie von Frank­furt am Main ent­fernt liegt. Die Arbeit beschäf­tigt sich mit der ver­ges­se­nen und ver­dräng­ten Geschich­te einer »Heil­an­stalt«, die 1888 mit finan­zi­el­ler Unter­stüt­zung Frank­fur­ter Groß-Bür­ger gegrün­det wur­de und »gei­stig zurück­ge­blie­be­nen Kin­dern (…) lie­be­vol­le kör­per­li­che und gei­sti­ge Pfle­ge« zuteil­wer­den las­sen woll­te. Das ende­te spä­te­stens im Okto­ber 1939. Schon von 1937 bis 1939 wur­den die Lebens­grund­la­gen etwa durch Her­ab­sen­kung der Pfle­ge­sät­ze und die Ein­schrän­kung medi­zi­nisch-pfle­ge­ri­scher Unter­stüt­zung auch im Kal­men­hof zur »Poli­tik einer geziel­ten Ermor­dung«. Der Autor die­ser Stu­die stellt (selbst­kri­tisch) ein­lei­tend-war­nend fest, dass mit der »Ver­sach­li­chung ihres Gegen­stan­des« »die Uner­träg­lich­keit des zugrun­de lie­gen­den Gesche­hens« getilgt wer­den könn­te. Die Mor­de fan­den in der weit über­wie­gen­den Zahl der Fäl­le im Kal­men­hof-Kran­ken­haus statt: »Töten im Rah­men ärzt­li­cher Ver­rich­tun­gen mit­hil­fe über­do­sier­ter Medi­ka­men­te und/​oder einer kal­ku­lier­ten Man­gel­er­näh­rung«. Die Ein­rich­tung war nicht nur als »Zwi­schen­an­stalt« für die Tötungs­an­stalt Hada­mar in die »Akti­on T4« ein­ge­bun­den. Ende 1941 wur­de zudem eine »Kin­der­fach­ab­tei­lung« ein­ge­rich­tet, in der Kin­der und Jugend­li­che ermor­det wurden.

Es beginnt eine lan­ge Spu­ren­su­che. Die Namen der Täter und Täte­rin­nen sind bekannt. Der »Kal­men­hof-Pro­zess« 1947 in Frank­furt am Main führ­te auch zu Ver­ur­tei­lun­gen. Wei­te­re ähn­lich gela­ger­te Straf­pro­zes­se wur­den auch nach ihren Tat­or­ten benannt: »Eich­berg­pro­zess« 1946-1947 und »Hada­mar­pro­zess« 1947-1948 und fan­den eben­falls am Land­ge­richt in Frank­furt statt. In Idstein begann der­weil das gro­ße Ver­ges­sen. Aber an den Grab­fel­dern dort wird das »unbe­que­me Erbe« gegen­ständ­lich greif­bar und immer wie­der – zum Teil nach Jahr­zehn­ten – Gegen­stand von (Grab-)Untersuchungen und Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Es geht um die Lage der Grab­fel­der, die Art der Beer­di­gun­gen, die Zahl der Ermor­de­ten und kon­kret auch um »De-Anony­mi­sie­rung« und wie das Erin­nern und Nicht­ver­ges­sen nicht auf Weni­ge in der Idstei­ner Stadt­ge­sell­schaft begrenzt bleibt. Kön­nen Ster­be­li­sten (des Kal­men­ho­fes, der Ster­be­re­gi­ster etc.) mit den Grä­bern anonym Beer­dig­ter (über z. B. die Grab­num­mern) ver­knüpft wer­den, um so den Toten Namen zu geben?

Der Idstei­ner Pfar­rer Boecker hält in sei­ner Chro­nik die Vor­gän­ge wäh­rend der Nazi-Zeit auch auf den Fried­hö­fen fest. Nach­dem von Ende 1939 bis Ende 1941 300 Grab­plät­ze (= 88 Pro­zent der in die­ser Zeit erfass­ten Ster­be­fäl­le in Idstein!) auf dem städ­ti­schen Fried­hof durch die Toten des Kal­men­ho­fes belegt wur­den, »sperr­te« die Stadt die Bele­gung »wegen Über­fül­lung« und »Mas­sen­an­drang von Lei­chen aus der Anstalt«. Der Kal­men­hof kauf­te »im Febru­ar 1942 für 300 Reichs­mark den jüdi­schen Fried­hof« an der Escher Stra­ße und betrieb die­sen ein drei­vier­tel Jahr. Die Jüdi­sche Gemein­de Idsteins war zu die­ser Zeit schon ver­trie­ben und aus­ge­löscht. Ohne Toten­ge­läut und ohne Grab­stei­ne wur­den jetzt die ermor­de­ten Kin­der und Jugend­li­chen aus dem Kal­men­hof in gro­ßer Zahl dort beer­digt. Die Idstei­ner waren den­noch ori­en­tiert, wie die Chro­nik ver­mit­telt: »In der Stadt sah man trotz feh­len­den Geläu­tes den Lei­chen­wa­gen und wuss­te, was pas­siert war.«

Ab Okto­ber 1942 hat­te Idstein einen 3. offi­zi­el­len Fried­hof: den Kal­men­hof-Fried­hof hin­ter dem Kran­ken­haus des Kal­men­ho­fes. Noch zur Zeit des Kal­men­hof-Pro­zes­ses 1947 konn­ten die »mit Num­mern­schil­dern ver­se­he­nen Grä­ber« besucht wer­den. Die Zah­len der dort Beer­dig­ten schwan­ken stark. Sind es 350? Oder sind es viel mehr? Das bleibt bis heu­te unge­klärt! Gibt es wei­te­re Grab­fel­der; steigt die Zahl der Toten auf 1.400 (2025)? Unter­su­chun­gen wur­den nur halb­her­zig durch­ge­führt. In der Kriegs­zeit kommt es zum Ein­satz eines ein­zi­gen »Klapp­sar­ges«, mit dem vie­le Beer­di­gun­gen kosten­gün­stig orga­ni­siert und Grä­ber mit über­ein­an­der geschich­te­ten Lei­chen mehr­fach belegt wur­den. Das Grä­ber­feld befin­det sich bis heu­te auf einem »gott­ver­las­se­nen« und nicht gut auf­find­ba­ren Ter­rain. Kurio­ser­wei­se ist die­ser Fried­hof als »Kriegs­grä­ber­stät­te« kon­zi­piert wor­den. Auf die hane­bü­che­nen Wider­sprü­che in die­ser Ange­le­gen­heit weist der Wis­sen­schaft­ler hin. Das Auf­fin­den des Grab­fel­des gestal­tet sich auch heu­te schwie­rig; der Weg dort­hin ist schlecht aus­ge­schil­dert. Mit einem christ­li­chen Kreuz im hin­te­ren Bereich ist der Bestat­tungs­ort als Fried­hof nur unzu­rei­chend kennt­lich gemacht.

Der Kul­tur­wis­sen­schaft­ler benennt 3 Bücher als »Stan­dard­li­te­ra­tur zum Kal­men­hof«: »Die erste Per­son, die histo­ri­sche For­schun­gen zum Kal­men­hof publi­zier­te, war Doro­thea Sick.« Die Abschluss-Arbeit im Fach Sozia­le Arbeit an der Fach­hoch­schu­le Frank­furt – »Eutha­na­sie im Natio­nal­so­zia­lis­mus am Bei­spiel des Kal­men­hofs in Idstein im Tau­nus«– wur­de durch den kürz­lich ver­stor­be­nen Sozi­al­me­di­zi­ner Prof.   betreut und 1983 publi­ziert. Wer traut sich an eine (erwei­ter­te) Neuauflage?

Wei­te­re Auf­hel­lun­gen des Gesche­hens im Idstei­ner Kal­men­hof wäh­rend der Nazi-Zeit blei­ben Auf­ga­be. Den »For­schungs­auf­trag« für kom­men­de Gene­ra­tio­nen greift der Wis­sen­schaft­ler fra­gend selbst auf: »Wie und wodurch konn­te eine so erfolg­rei­che und qua­li­fi­ziert auf- und aus­ge­bau­te Ein­rich­tung der­art tief in eine Ver­nich­tungs­ma­schi­ne­rie ver­strickt wer­den?« Und: »Wie und wodurch konn­te die Auf­klä­rung der NS-Ver­bre­chen im Kal­men­hof in den 1980er Jah­ren an einem ent­schei­den­den Punkt ihr Ziel ver­feh­len, so dass die Ver­wer­fun­gen im Umgang mit der Tat und dem Fried­hof aber­mals 30 Jah­re undurch­schaut blieben?«

Die heu­te tou­ri­stisch inter­es­san­te Stadt Idstein ist mit drei außer­or­dent­lich mon­strö­sen Ereig­nis­sen zu ver­bin­den. Ich sehe einen gewis­sen Zusam­men­hang im Umgang mit die­sen Ver­bre­chen: Noch im spä­ten 17. Jahr­hun­dert wur­den vom Idstei­ner Kur­für­sten (Glau­bens­be­kennt­nis: evan­ge­lisch) knapp 50 Men­schen als Hexen und Hexer ver­brannt oder geköpft. Die jüdi­schen Men­schen Idsteins wur­den sämt­lich wäh­rend der Zeit des Faschis­mus› ver­trie­ben und damit die jüdi­sche Gemein­de Idsteins aus­ge­löscht. Im Kal­men­hof wur­den hun­der­te zuwen­dungs­be­dürf­ti­ge und kran­ke Men­schen, wenn nicht gar weit über 1.000 Men­schen umge­bracht. Alle Taten wur­den lan­ge beschwie­gen. Es gibt kein »akti­ves Erin­nern« bis heu­te in der Stadt­ge­sell­schaft. Mit Unter­stüt­zung der VVN-Bund der Anti­fa­schi­sten Tau­nus lud jedoch der Ver­ein »Gedenk­ort Kal­men­hof e. V. « am 3.09.2024 ins Idstei­ner »Ger­ber­haus« zur Buch­vor­stel­lung mit Vor­trag ein. Da Idstein über Res­sour­cen ver­fügt, müss­te die ört­li­che Poli­tik die wei­te­re Erfor­schung (viel­leicht in Zusam­men­ar­beit mit Uni­ver­si­tä­ten im Nah­be­reich?) bezu­schus­sen und alles Erdenk­li­che tun, um der Nazi-Opfer (zumeist Kin­der und Jugend­li­che) anteil­neh­mend und ehrend zu gedenken.

Chri­stoph Schnei­der: Der Kal­men­hof – NS-»Euthanasie« und ihre Nach­ge­schich­te, Ver­lag Brill/​Schöningh 2024, 310 S., 56 €.