Er hat das Wort benutzt. Gleich zum Eingang. »Abrüsten« hat er gefordert. Allerdings bezog er sich dabei nicht auf die Weltlage, sondern auf seine Titulierung. Der Appell ging an den Moderator, der in den folgenden anderthalb Stunden mit permanent gebeugtem Kreuz und gesenktem Blick auf dem Podium saß. Die Anrede »Herr Bundespräsident« sei zwar korrekt, aber er wäre ja in Pension und würde darum vorschlagen, abzurüsten und die bürgerliche Anrede »Herr Gauck« zu benutzen. Nun, das kam gut an im Kaiserbädersaal zu Heringsdorf, einem der drei sogenannten Kaiserbäder auf Usedom.
Der Saal, der einigen hundert Menschen Platz bietet, war eher dünn besetzt. Das wohl mäßige Interesse an der Audienz war geschickt dadurch kaschiert worden, dass jeder zweite Stuhl nicht besetzt werden durfte. Wegen Corona. Bis auf die beiden Herren auf dem Podium mussten darum auch alle Zuhörer Masken tragen. Einige Dutzend Menschen waren bereit und finanziell auch in der Lage, 18 oder 25 Euro für den Auftritt des Bürgers Gauck auszugeben. Dem Augenschein nach: mehrheitlich nachösterlich urlaubende Pensionärs-Paare aus dem Westen.
Die Visite musste wohl kurzfristig zu einem gesellschaftlichen Ereignis von überregionaler Bedeutung erklärt worden sein, was die Usedomer Literaturtage für gewöhnlich kaum sind. Der NDR war mit einem Übertragungswagen vorgefahren und bat zuvor den Herrn Bundespräsidenten a. D. zu einem Live-Interview. Und der neben mir sitzende Kollege von dpa erwähnte, dass er ursprünglich zu einer Demonstration nach Demmin hatte fahren sollen, dann aber von seinem Arbeitgeber telefonisch nach Heringsdorf beordert worden sei.
Gauck predigte, wie er stets zu predigen pflegt. Der Ukraine-Krieg verhalf ihm zum aktuellen Einstieg, womit er einmal mehr den Medien-Profi offenbarte: Nur das, was man in den ersten fünfzehn Minuten sagt, besitzt die Chance, als Nachricht verbreitet zu werden. Und erst die Nachricht macht aus Stammtisch-Plattheiten staatsmännische Ansagen. (Wenig später schon verbreiteten die Online-Redaktionen der wichtigsten Blätter des Landes, Gauck habe erklärt, dass Putin nicht Partner, sondern Gegner sei und Lawrow die Welt mit der Drohung eines Dritten Weltkriegs nur habe einschüchtern wollen.) Nachdem die »aggressive imperialistische Politik Putins« pflicht- und nachrichtenschuldig verurteilt worden war – deren Wegbereiter von Bahr bis Brandt eingeschlossen, über Schröder wolle er gar nicht erst reden –, sagte Gauck dem Moderator, dass er nun über sein Buch reden wolle und forderte eine Frage ein. Sofern bis dato noch Zweifel bestanden, wer auf dem Podium Regie führte – sie wurden damit endgültig ausgeräumt.
Der eingeforderten Frage aber bedurfte es keineswegs, denn Gauck folgte seinem Programm. Er monologisierte jovial und weitschweifig, mitunter pointiert, was gelegentlich zu Heiterkeit im Saale führte. Nur der hochgewachsene BKA-Beamte neben mir, der zu seinem Schutz abkommandiert war, verzog hinter seiner Maske keinen Muskel, er kannte die Plattitüden seines Schutzbefohlenen. Ich hatte meinen Platz für ihn räumen müssen. Wahrscheinlich wünschte der Personenschützer aus dem gleichen Grunde wie ich ganz außen in der ersten Reihe zu sitzen: Von dort gelangte man am schnellsten ins Freie. Sein Kollege saß auf der anderen Seite des Saales, mit dem Rücken zur Wand und mit festem Blick ins Auditorium. Er hatte es weniger glücklich getroffen.
Während die Predigt über Demokratie und »kämpferische Toleranz«, Frieden und Freiheit, vom großen Glück hienieden und der Unfähigkeit, dies zu begreifen, so wohlig dahinplätscherte, geschah ein Kurzschluss in meinem Kopf. In seiner schlichten Weltsicht, mit der merkwürdig-kruden Geschichtsauffassung und der gottgläubigen Zuversicht, vor Selbstbewusstsein strotzend und von keinerlei Selbstzweifel heimgesucht, besaß der Prediger durchaus eine gewisse Ähnlichkeit ausgerechnet mit dem Manne, den er fortgesetzt geißelte. Im Beisein des Popen hielt jener zu Ostern in der Moskauer Erlöserkirche die Kerze, während uns Gauck mit der Fackel der Freiheit den Weg leuchtete und wir für diese froren. Spätestens jetzt hätte ich ihm die Frage stellen mögen, wer denn in seinem Berliner Quartier die gestiegenen Heizkosten finanzierte, denn etwas heizen werde er wohl schon, ob nun mit oder ohne Russengas. Doch Fragen waren – wie in Gottesdiensten und bei Audienzen – nicht zugelassen. Vielleicht wäre dabei dieser oder jener im Saal auch auf konkrete soziale Probleme zu sprechen gekommen, die in Gaucks Reden und damit wohl auch in seinem Denken nicht mehr vorkommen. Vielleicht noch nie vorkamen. Der Bürger Gauck scheint jedenfalls dem irdischen Dasein derart entrückt, dass er von seiner Wolke nicht mehr heruntergeholt zu werden wünscht. Dort lässt sich trefflich über »die Zerbrechlichkeit unserer Demokratie« schwadronieren, statt über die Zerbrechlichkeit sozialer Existenzen und die gesellschaftlichen Ursachen ihrer Gefährdung nachdenken. »Wir sind eine Mischung aus hochgenial und bekloppt«, tümelte er stattdessen, wobei unklar blieb, wer dieses kollektive WIR war: wir im Saale, wir Deutschen oder gar die Menschheit? Russen natürlich ausgenommen. Die haben uns 1945 nämlich nicht befreit, sondern die Unfreiheit gebracht, wie er die Zuhörer wissen ließ.
Vielleicht rechnete er zu den Bekloppten auch die Kaiserbäderverwaltung, denn auf der Uferpromenade hatte ich zuvor eine Flaggenparade abgenommen. Seit Jahr und Tag wehen dort die Fahnen der zehn Ostsee-Anrainer. Nun jedoch war die russische Trikolore durch die ukrainische Flagge ersetzt worden. Sollte auf diese Weise etwa an Polens vergangenen Traum vom Zwei-Meere-Staat erinnert werden? Oder dachte man an Großlitauen, das auch mal von der Ostsee bis ans Schwarze Meer reichte? Die Ukraine im Huckepack also ein Ostsee-Anrainer … Ach, soweit wird man beim Flaggenwechsel wohl nicht gedacht haben, Hauptsache blaugelb. Wo doch die ukrainische Nation im Krieg gegen Nazideutschland mehr Opfer gebracht habe als Russland, so Gauck an einer anderen Stelle.
Gern hätte ich noch mehr über die »Anpassungsstrategien« der Ostdeutschen erfahren, die jetzt in einem »Zwischenraum« leben und sich vor der offenen Gesellschaft fürchteten, weil sie doch bisher erst dreißig Jahre Eigenverantwortung trainieren konnten – im Unterschied zu den Westdeutschen, die diese Haltung seit über siebzig Jahren beherrschten. Aber auch wir Ostdeutschen können nun endlich Bürger sein. »Das unterscheidet uns von der früheren Zeit in der DDR, wo wir nicht wählen und nicht offen miteinander reden durften.« Wir sollten doch mal vergleichen, wie es woanders zugehe, etwa in Russland oder in der Türkei …
Nun, ich als Ewiggestriger vergleiche immer gern mit der Vergangenheit. Und so erinnere ich mich beispielsweise an eine ADN-Meldung, die am 20. Juni 1988 auf der zweiten Seite im Neuen Deutschland stand, seinerzeit »Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands«. Darin wurde der Abschluss des Evangelischen Kirchentages in Rostock gemeldet, und der letzte Satz lautete: »Der Vorsitzende des Landesausschusses der Landeskirche Mecklenburgs, Joachim Gauck, dankte den staatlichen Organen für die großzügige Unterstützung des Kirchentages und sprach sich für ein engagiertes Wirken der Christen in der Gesellschaft aus.«
Der Heimgang auf der Uferpromenade in lauer Frühlingsluft war das Beste am ganzen Abend. Neben der Tatsache, dass mir Dank des Presseausweises der Kauf eines Tickets erspart geblieben war. Wenigstens das.