Vor hundert Jahren erschien der »Zauberberg« von Thomas Mann, zehn Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dieses Jubiläum soll Anlass sein, den Roman einmal in Form eines Experiments vorzustellen, und zwar ausgehend von einer Nebenfigur: des hinkenden Concierge.
In dem tausendseitigen Roman über das Leben gutbetuchter Tuberkulose-Patienten im Sanatorium »Berghof« im Schweizer Hochgebirge kurz vor dem Ersten Weltkrieg hat der hinkende Concierge etwa 13 Auftritte. Beim ersten Zusammentreffen mit der Hauptperson Hans Castorp auf dem Bahnhof in Davos wird er als der für das Gepäck zuständige Mann mit Livree und Tressenmütze beschrieben, der auffällig hinkt und am Eingang des »Berghofs« seine Loge hat. In den weiteren Auftritten wird stets auf das Handicap hingewiesen, meistens heißt er nur kurz: der Hinkende. Seinen Namen verrät uns der Erzähler nicht.
Kurze Aufzählung der Tätigkeiten eines Concierge im »Berghof«: Er ordnet und verteilt Briefe und Telegramme an die Patienten, bedient den Fahrstuhl, hat Telefondienst, liest Zeitung, führt die ankommenden Patienten zu ihren Zimmern, verkauft Kindertrompeten und papierene Kopfbedeckungen an Fasching, sitzt bei Ausfahrten neben dem Kutscher auf dem Bock und besorgt Eisenbahnkarten für die Abreisenden. Diese Vielfalt an gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit zeigt, welch wichtige Rolle der Concierge für den reibungslosen Ablauf des Klinikalltags spielt.
Darüber hinaus übermittelt er auch noch Order und Befehle an die Patienten, um zum Beispiel eine gemeinschaftliche Spazierfahrt zu organisieren. Indem er als proletarischer Angestellter den bürgerlichen Patienten Anweisungen gibt, stellt er das hergebrachte Klassenverhältnis fast auf den Kopf. So erfüllt der Concierge für die Patienten wichtige Vorreiter-, Vermittler- und Organisationsfunktionen.
Nur eine der Hauptfiguren, der italienische Intellektuelle Settembrini, spricht abwertend über ihn und nennt ihn einen »hinkenden Teufel«. Im Kommentarband der großen kommentierten Frankfurter Ausgabe wird hier auf Goethes »Faust« verwiesen, wo der Teufel die Gestalt des hinkenden Mephistos annimmt. Mephisto repräsentiert in Natur und Geschichte die Negationskraft, die »stets das Böse will und stets das Gute schafft«. Damit würde dem proletarischen Concierge die Macht zugewiesen, Katastrophen, Umwälzungen und Revolutionen auszulösen.
Nahe liegt auch die Vermutung, in dem Hinken eine Kriegsverwundung zu sehen, wie es Hans Castorp anfangs getan hat. Dann würde der Concierge den Leuten in der Klinik ihr Schicksal im bald ausbrechenden Weltkrieg vorauszeigen.
Hierin liegt eine doppelte Wahrheit. Zum einen wurde das reale Vorbild des »Berghof«-Gebäudes im Ersten Weltkrieg als »Deutsches Kriegerkurhaus« genutzt, wo Verwundete behandelt wurden. Zum anderen aber wird Castorp als Kriegsfreiwilliger später auf dem Schlachtfeld in Flandern selbst zum Hinkenden. Der Erzähler berichtet: »Ein großer Erdklumpen fuhr ihm gegen das Schienbein, das tat wohl weh, ist aber lächerlich. Er macht sich auf, er taumelt hinkend weiter mit erdschweren Füßen.« Nun ist Castorp selbst geworden, was er sieben Jahre im »Berghof« am hinkenden Concierge beobachtet hat. Am Romanende bleibt für den Haupthelden nur die Statistenrolle von Kanonenfutter übrig.
Damit hat uns das Experiment, bei der Interpretation von einer Nebenfigur aus auf das Ganze zu schließen, in das Zentrum des »Zauberberg« geführt. Der Roman behandelt die Problemfrage, wie aus der Kultur des Bürgertums die Barbarei des Ersten Weltkriegs herauswachsen konnte. Antwortversuch: Der Kriegsgedanke wird von den bürgerlichen Hauptpersonen mit Kalkül und Absicht in die Welt gesetzt.
Schlüsselszene ist das Pistolenduell zwischen Settembrini und seinem Gegenspieler Naphta, die sich infolge einer Beleidigung in den »Urzustande der Natur« zurückgeworfen fühlen. Dort zählt keine Vernunft mehr, sondern nur noch der »körperliche Kampf«, wo der Mann »ein Mann« bleibt, wenn er sich »mit seinem Blute« für seine Ehre einsetzt. Dies sind Settembrinis Worte, der im Roman den Standpunkt des gesellschaftlichen Fortschritts vertritt. Der sogenannte »Naturzustand« eines Krieges aller gegen alle ist ein Gedankenkonstrukt, mit dem auch und gerade Realpolitiker ihre Abkehr von der Vernunftpolitik rechtfertigen und die Kriegsbarbarei als »Verteidigungskrieg« verkaufen.
Gerade deshalb hat leider auch in unserer heutigen mehr überkandidelten als großen Zeit der »Zauberberg« nichts an seiner Aktualität verloren. Aber dessen Autor kann auch zaubern und weist über die Katastrophe des Weltkrieges hinaus.
Am Ende entlässt Thomas Mann den Leser mit der Frage, ob aus den Schlachtfeldern des Weltkrieges, »aus diesem Weltfest des Todes« auch »einmal die Liebe steigen« werde.
Dem zu folgen, wird dem Leser einiges abverlangt. Wenn die Liebe sich gegenüber ihrem Gegensatz, dem Tod, behaupten und durchsetzen soll, muss man den Tod als untergeordnetes Moment der Liebe denken. An einer Textstelle im »Schnee«-Kapitel stellt Hans Castorp die berühmt-berüchtigte Forderung: »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.« Die Gedankenbewegung, die zu diesem Satz führt, bezeichnet der Erzähler mit dem Spezialbegriff »regieren«, der im Roman auf vielfältige Weise zutage tritt.
Regieren ist ein Gedankenspiel, bei dem die hergebrachte Weltsicht mit einem Ideal konfrontiert und in eine neue, ganz andere Weltsicht überführt wird. So kann auch in Zeiten des Krieges mithilfe eines Liebes- und Vernunft-Ideals eine Welt des Friedens vorgestellt und gefordert werden.
Das weltaufhebende utopische Regieren ist aber ein Vorgehen, das den ganzen Körper ergreift. Bei Castorp bewirkt es häufig Schwindel und Taumeln, eine innere Reaktion, die sich auch als Hinken äußern könnte. Deshalb sei die These gewagt, dass Castorp sich im hinkenden Concierge selbst wiedererkennt.
Aber im weiteren Romanverlauf verliert er seinen Halt im alltäglichen Leben, seine Freizeitbeschäftigung des Regierens kehrt sich um, indem er sich nun von kriegsbejahenden anti-utopischen Zielen leiten lässt.
Diese Umkehrung in die Barbarei ist Folge seines sozialen Rückzugs in die Eigenbrötelei. Castorp versinkt beim einsamen Anhören von Schubertliedern auf Grammophonplatten mehr und mehr in Todes- und Vernichtungsverzückung. Die Kunstepoche der Romantik kommt den lebensverneinenden Bestrebungen entgegen. Gipfel des Zynismus: Castorp schlägt als Schauplatz des tödlichen Duells zwischen Naphta und Settembrini den »malerischen, im Sommer blau blühenden Ort« vor, wo er immer so schön »regiert« hat. Naphta kommt zu Tode, während der Leser an die Blaue Blume der Romantik erinnert wird.
Auch den Concierge betrachtet Castorp zum Romanende hin nur noch als »ganz fernstehende Person«, die ihm kein Vorbild mehr für Leben und Vernunft sein kann. Als Arbeiter ist der Concierge Teil jener Kraft, die den Weltkrieg mit Streiks und Revolutionen in Russland und Deutschland beenden und den Frieden bringen wird.
Am Ende bleibt nur der Erzähler übrig, der trotz des bislang so kühl erzählten Romans plötzlich aus seiner Haut fährt und Castorp, der nun statt des Lebens mehr und mehr Tod und Krieg verherrlicht, zuruft: »Aber das war ja erklärter Wahnsinn!« Ein Wahnsinn, dem Thomas Mann als Kriegsbefürworter selbst einmal verfallen war und der direkt in die Schlachten des Ersten Weltkriegs führen wird.
Hat Mann, indem er den »Zauberberg« erzählt, sich von seinen barbarischen Gedanken befreit und sich humanisiert?
Allerdings wird mit der bewusst herbeigerufenen Herrschaft des deutschen Faschismus ein weiterer Roman nötig, der den Prozess der »Re-Barbarisierung« in noch radikalerer Form aufgreifen wird, der »Doktor Faustus« (1947).
Resümee: Der hinkende Concierge erweist sich als energiegeladene Nebenfigur, in der sich die Problematik des ganzen Romans widerspiegelt, wie sie umgekehrt als Mephisto-Verkörperung dem Roman die Aussicht auf grundlegende Veränderungen eröffnet. Die Aufwertung der Nebenfigur wird ermöglicht durch die dialektische Erzählkunst von Thomas Mann.
Eingeladen sind nun aufgeschlossene Leser, die den »Zauberberg« wieder hervorholen und sich dem überwältigenden Lesefluss hingeben mögen. Dann hätten sie die Chance, sich zu entscheiden, ob sie mit Leib und Seele eine Friedenswelt fördern und schaffen oder doch lieber in den nächsten Weltkrieg hinken und taumeln wollen.