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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der hinkende Teufel vom »Zauberberg«

Vor hun­dert Jah­ren erschien der »Zau­ber­berg« von Tho­mas Mann, zehn Jah­re nach Aus­bruch des Ersten Welt­kriegs. Die­ses Jubi­lä­um soll Anlass sein, den Roman ein­mal in Form eines Expe­ri­ments vor­zu­stel­len, und zwar aus­ge­hend von einer Neben­fi­gur: des hin­ken­den Concierge.

In dem tau­send­sei­ti­gen Roman über das Leben gut­be­tuch­ter Tuber­ku­lo­se-Pati­en­ten im Sana­to­ri­um »Berg­hof« im Schwei­zer Hoch­ge­bir­ge kurz vor dem Ersten Welt­krieg hat der hin­ken­de Con­cier­ge etwa 13 Auf­trit­te. Beim ersten Zusam­men­tref­fen mit der Haupt­per­son Hans Cas­torp auf dem Bahn­hof in Davos wird er als der für das Gepäck zustän­di­ge Mann mit Livree und Tres­sen­müt­ze beschrie­ben, der auf­fäl­lig hinkt und am Ein­gang des »Berg­hofs« sei­ne Loge hat. In den wei­te­ren Auf­trit­ten wird stets auf das Han­di­cap hin­ge­wie­sen, mei­stens heißt er nur kurz: der Hin­ken­de. Sei­nen Namen ver­rät uns der Erzäh­ler nicht.

Kur­ze Auf­zäh­lung der Tätig­kei­ten eines Con­cier­ge im »Berg­hof«: Er ord­net und ver­teilt Brie­fe und Tele­gram­me an die Pati­en­ten, bedient den Fahr­stuhl, hat Tele­fon­dienst, liest Zei­tung, führt die ankom­men­den Pati­en­ten zu ihren Zim­mern, ver­kauft Kin­der­trom­pe­ten und papie­re­ne Kopf­be­deckun­gen an Fasching, sitzt bei Aus­fahr­ten neben dem Kut­scher auf dem Bock und besorgt Eisen­bahn­kar­ten für die Abrei­sen­den. Die­se Viel­falt an gesell­schaft­lich nütz­li­cher Tätig­keit zeigt, welch wich­ti­ge Rol­le der Con­cier­ge für den rei­bungs­lo­sen Ablauf des Kli­nik­all­tags spielt.

Dar­über hin­aus über­mit­telt er auch noch Order und Befeh­le an die Pati­en­ten, um zum Bei­spiel eine gemein­schaft­li­che Spa­zier­fahrt zu orga­ni­sie­ren. Indem er als pro­le­ta­ri­scher Ange­stell­ter den bür­ger­li­chen Pati­en­ten Anwei­sun­gen gibt, stellt er das her­ge­brach­te Klas­sen­ver­hält­nis fast auf den Kopf. So erfüllt der Con­cier­ge für die Pati­en­ten wich­ti­ge Vor­rei­ter-, Ver­mitt­ler- und Organisationsfunktionen.

Nur eine der Haupt­fi­gu­ren, der ita­lie­ni­sche Intel­lek­tu­el­le Set­tem­b­ri­ni, spricht abwer­tend über ihn und nennt ihn einen »hin­ken­den Teu­fel«. Im Kom­men­tar­band der gro­ßen kom­men­tier­ten Frank­fur­ter Aus­ga­be wird hier auf Goe­thes »Faust« ver­wie­sen, wo der Teu­fel die Gestalt des hin­ken­den Mephi­stos annimmt. Mephi­sto reprä­sen­tiert in Natur und Geschich­te die Nega­ti­ons­kraft, die »stets das Böse will und stets das Gute schafft«. Damit wür­de dem pro­le­ta­ri­schen Con­cier­ge die Macht zuge­wie­sen, Kata­stro­phen, Umwäl­zun­gen und Revo­lu­tio­nen auszulösen.

Nahe liegt auch die Ver­mu­tung, in dem Hin­ken eine Kriegs­ver­wun­dung zu sehen, wie es Hans Cas­torp anfangs getan hat. Dann wür­de der Con­cier­ge den Leu­ten in der Kli­nik ihr Schick­sal im bald aus­bre­chen­den Welt­krieg vorauszeigen.

Hier­in liegt eine dop­pel­te Wahr­heit. Zum einen wur­de das rea­le Vor­bild des »Berghof«-Gebäudes im Ersten Welt­krieg als »Deut­sches Krie­ger­kur­haus« genutzt, wo Ver­wun­de­te behan­delt wur­den. Zum ande­ren aber wird Cas­torp als Kriegs­frei­wil­li­ger spä­ter auf dem Schlacht­feld in Flan­dern selbst zum Hin­ken­den. Der Erzäh­ler berich­tet: »Ein gro­ßer Erd­klum­pen fuhr ihm gegen das Schien­bein, das tat wohl weh, ist aber lächer­lich. Er macht sich auf, er tau­melt hin­kend wei­ter mit erd­schwe­ren Füßen.« Nun ist Cas­torp selbst gewor­den, was er sie­ben Jah­re im »Berg­hof« am hin­ken­den Con­cier­ge beob­ach­tet hat. Am Roma­nen­de bleibt für den Haupt­hel­den nur die Sta­ti­sten­rol­le von Kano­nen­fut­ter übrig.

Damit hat uns das Expe­ri­ment, bei der Inter­pre­ta­ti­on von einer Neben­fi­gur aus auf das Gan­ze zu schlie­ßen, in das Zen­trum des »Zau­ber­berg« geführt. Der Roman behan­delt die Pro­blem­fra­ge, wie aus der Kul­tur des Bür­ger­tums die Bar­ba­rei des Ersten Welt­kriegs her­aus­wach­sen konn­te. Ant­wort­ver­such: Der Kriegs­ge­dan­ke wird von den bür­ger­li­chen Haupt­per­so­nen mit Kal­kül und Absicht in die Welt gesetzt.

Schlüs­sel­sze­ne ist das Pisto­len­du­ell zwi­schen Set­tem­b­ri­ni und sei­nem Gegen­spie­ler Naph­ta, die sich infol­ge einer Belei­di­gung in den »Urzu­stan­de der Natur« zurück­ge­wor­fen füh­len. Dort zählt kei­ne Ver­nunft mehr, son­dern nur noch der »kör­per­li­che Kampf«, wo der Mann »ein Mann« bleibt, wenn er sich »mit sei­nem Blu­te« für sei­ne Ehre ein­setzt. Dies sind Set­tem­bri­nis Wor­te, der im Roman den Stand­punkt des gesell­schaft­li­chen Fort­schritts ver­tritt. Der soge­nann­te »Natur­zu­stand« eines Krie­ges aller gegen alle ist ein Gedan­ken­kon­strukt, mit dem auch und gera­de Real­po­li­ti­ker ihre Abkehr von der Ver­nunft­po­li­tik recht­fer­ti­gen und die Kriegs­bar­ba­rei als »Ver­tei­di­gungs­krieg« verkaufen.

Gera­de des­halb hat lei­der auch in unse­rer heu­ti­gen mehr über­kan­di­del­ten als gro­ßen Zeit der »Zau­ber­berg« nichts an sei­ner Aktua­li­tät ver­lo­ren. Aber des­sen Autor kann auch zau­bern und weist über die Kata­stro­phe des Welt­krie­ges hinaus.

Am Ende ent­lässt Tho­mas Mann den Leser mit der Fra­ge, ob aus den Schlacht­fel­dern des Welt­krie­ges, »aus die­sem Welt­fest des Todes« auch »ein­mal die Lie­be stei­gen« werde.

Dem zu fol­gen, wird dem Leser eini­ges abver­langt. Wenn die Lie­be sich gegen­über ihrem Gegen­satz, dem Tod, behaup­ten und durch­set­zen soll, muss man den Tod als unter­ge­ord­ne­tes Moment der Lie­be den­ken. An einer Text­stel­le im »Schnee«-Kapitel stellt Hans Cas­torp die berühmt-berüch­tig­te For­de­rung: »Der Mensch soll um der Güte und Lie­be wil­len dem Tode kei­ne Herr­schaft ein­räu­men über sei­ne Gedan­ken.« Die Gedan­ken­be­we­gung, die zu die­sem Satz führt, bezeich­net der Erzäh­ler mit dem Spe­zi­al­be­griff »regie­ren«, der im Roman auf viel­fäl­ti­ge Wei­se zuta­ge tritt.

Regie­ren ist ein Gedan­ken­spiel, bei dem die her­ge­brach­te Welt­sicht mit einem Ide­al kon­fron­tiert und in eine neue, ganz ande­re Welt­sicht über­führt wird. So kann auch in Zei­ten des Krie­ges mit­hil­fe eines Lie­bes- und Ver­nunft-Ide­als eine Welt des Frie­dens vor­ge­stellt und gefor­dert werden.

Das welt­auf­he­ben­de uto­pi­sche Regie­ren ist aber ein Vor­ge­hen, das den gan­zen Kör­per ergreift. Bei Cas­torp bewirkt es häu­fig Schwin­del und Tau­meln, eine inne­re Reak­ti­on, die sich auch als Hin­ken äußern könn­te. Des­halb sei die The­se gewagt, dass Cas­torp sich im hin­ken­den Con­cier­ge selbst wiedererkennt.

Aber im wei­te­ren Roman­ver­lauf ver­liert er sei­nen Halt im all­täg­li­chen Leben, sei­ne Frei­zeit­be­schäf­ti­gung des Regie­rens kehrt sich um, indem er sich nun von kriegs­be­ja­hen­den anti-uto­pi­schen Zie­len lei­ten lässt.

Die­se Umkeh­rung in die Bar­ba­rei ist Fol­ge sei­nes sozia­len Rück­zugs in die Eigen­brö­te­lei. Cas­torp ver­sinkt beim ein­sa­men Anhö­ren von Schu­bert­lie­dern auf Gram­mo­phon­plat­ten mehr und mehr in Todes- und Ver­nich­tungs­ver­zückung. Die Kunst­epo­che der Roman­tik kommt den lebens­ver­nei­nen­den Bestre­bun­gen ent­ge­gen. Gip­fel des Zynis­mus: Cas­torp schlägt als Schau­platz des töd­li­chen Duells zwi­schen Naph­ta und Set­tem­b­ri­ni den »male­ri­schen, im Som­mer blau blü­hen­den Ort« vor, wo er immer so schön »regiert« hat. Naph­ta kommt zu Tode, wäh­rend der Leser an die Blaue Blu­me der Roman­tik erin­nert wird.

Auch den Con­cier­ge betrach­tet Cas­torp zum Roma­nen­de hin nur noch als »ganz fern­ste­hen­de Per­son«, die ihm kein Vor­bild mehr für Leben und Ver­nunft sein kann. Als Arbei­ter ist der Con­cier­ge Teil jener Kraft, die den Welt­krieg mit Streiks und Revo­lu­tio­nen in Russ­land und Deutsch­land been­den und den Frie­den brin­gen wird.

Am Ende bleibt nur der Erzäh­ler übrig, der trotz des bis­lang so kühl erzähl­ten Romans plötz­lich aus sei­ner Haut fährt und Cas­torp, der nun statt des Lebens mehr und mehr Tod und Krieg ver­herr­licht, zuruft: »Aber das war ja erklär­ter Wahn­sinn!« Ein Wahn­sinn, dem Tho­mas Mann als Kriegs­be­für­wor­ter selbst ein­mal ver­fal­len war und der direkt in die Schlach­ten des Ersten Welt­kriegs füh­ren wird.

Hat Mann, indem er den »Zau­ber­berg« erzählt, sich von sei­nen bar­ba­ri­schen Gedan­ken befreit und sich humanisiert?

Aller­dings wird mit der bewusst her­bei­ge­ru­fe­nen Herr­schaft des deut­schen Faschis­mus ein wei­te­rer Roman nötig, der den Pro­zess der »Re-Bar­ba­ri­sie­rung« in noch radi­ka­le­rer Form auf­grei­fen wird, der »Dok­tor Faustus« (1947).

Resü­mee: Der hin­ken­de Con­cier­ge erweist sich als ener­gie­ge­la­de­ne Neben­fi­gur, in der sich die Pro­ble­ma­tik des gan­zen Romans wider­spie­gelt, wie sie umge­kehrt als Mephi­sto-Ver­kör­pe­rung dem Roman die Aus­sicht auf grund­le­gen­de Ver­än­de­run­gen eröff­net. Die Auf­wer­tung der Neben­fi­gur wird ermög­licht durch die dia­lek­ti­sche Erzähl­kunst von Tho­mas Mann.

Ein­ge­la­den sind nun auf­ge­schlos­se­ne Leser, die den »Zau­ber­berg« wie­der her­vor­ho­len und sich dem über­wäl­ti­gen­den Lese­fluss hin­ge­ben mögen. Dann hät­ten sie die Chan­ce, sich zu ent­schei­den, ob sie mit Leib und See­le eine Frie­dens­welt för­dern und schaf­fen oder doch lie­ber in den näch­sten Welt­krieg hin­ken und tau­meln wollen.