Der Zufall wollte es, dass wir am Spätnachmittag des 20. Februar auf dem Hamburger Rathausmarkt plötzlich nebeneinander standen, als zwei von über 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der spontanen Kundgebung zum Gedenken an die Anschlagsopfer von Hanau: Carsten Brosda, seit Februar 2017 Senator der Hamburger Behörde für Kultur und Medien, und ich, der sich gerade mit seinen beiden neuesten Büchern befasste.
Der erste Essay – »Die Zerstörung – Warum wir für den gesellschaftlichen Zusammenhalt streiten müssen« – ist im Sommer 2019 auf Anregung der Programm-Verlagsleiterin von Hoffmann und Campe entstanden, wie Brosda gerne berichtet. Anlass waren die Wahl zum Europäischen Parlament und die während des Wahlkampfes durch einen Clip des YouTubers Rezo mit dem Titel »Die Zerstörung der CDU« ausgelöste aufgeregte Kontroverse. Diese Diskussionen, so Brosda, »lassen sich als stellvertretend für eine Entfremdung zwischen Politik und Teilen der Gesellschaft auffassen«, ähnlich wie die Debatten über die Teilnahme von Schülerinnen und Schülern während der Unterrichtszeit an den Fridays-for-Future-Demonstrationen oder über die europäische Urheberrechtsrichtlinie.
In allen Fällen sei es der Politik »augenscheinlich nicht gelungen«, über die »üblichen strategielosen Reflexe« hinaus zum »inhaltlichen Kern der offensichtlichen Wut der zivilgesellschaftlichen Kritik vorzudringen«. Sie habe »die Zerstörung eher als Störung des politisch-kommunikativen Routinemodus« betrachtet, statt mit »Respekt und Ernsthaftigkeit … auf die Leidenschaft der Kritik [zu] reagieren«.
Zerstörung allüberall, die Überschriften der einzelnen Kapitel sollen es belegen: Zerstörung des öffentlichen Gesprächs, der Mitte, der offenen Gesellschaft, des Planeten, der Zuversicht, der Volksparteien. Brosda warnt allerdings vor dem Modus der Zerstörung als Prinzip einer neuen Politik, »die sich über das Versagen der Verantwortungsträgerinnen und -träger so sehr aufregt, dass uns jegliche Legitimation demokratisch repräsentativer Politik abhanden zu kommen droht«.
Dass Brosda außer Politikwissenschaft auch Journalismus studiert hat, kommt der Lesbarkeit seiner beiden Bücher, aber auch seinen Vorträgen zugute (in denen kein einziges »Ähm« Sprechpausen füllt). Gerade weil er seinen Habermas gelesen hat – und nicht »obwohl« – hat er gelernt, sein Handwerk zu denken, bevor er sein Tagewerk, das Alltags-Geschäft, beginnt. Wenn er in einem Vortrag über »Werte und Zusammenhalt« in einem Seniorenheim schon mal das heutige Internet mit Brechts Radiotheorie vergleicht (siehe dazu in Brechts »Schriften«: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, Juli 1932) oder als Gastredner bei einem winterlichen Grünkohlessen den französischen Literaturnobelpreisträger und Philosophen Albert Camus als Kronzeugen heranzieht, wirkt das weder aufgesetzt noch über die Köpfe hinweggesprochen.
Und dass Brosda Sozialdemokrat ist – er war Leiter der Abteilung Kommunikation des SPD-Parteivorstands, bevor er 2011 als Leiter des Amtes Medien zu Olaf Scholz nach Hamburg kam, und er ist Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie –, das bleibt in dem Essay nicht verborgen. Was ihn umtreibt ist die Frage, wie die Volksparteien, die 70 Jahre lang für die Politik der Bundesrepublik Deutschland prägend waren, heute auf »die Zerstörung des gesellschaftlichen Gesprächszusammenhangs, die Verächtlichmachung gemeinwohlorientierter Kompromisse, auf die neue Polarität des gesellschaftlichen Diskursraums entlang der beiden angstbesetzten Diskurskerne Migration und Vielfalt auf der einen sowie Umwelt- und Klimaschutz auf der anderen Seite« reagieren können.
Im Hinblick auf die zukünftige SPD nimmt Brosda Anleihe beim früheren sozialdemokratischen Bundesgeschäftsführer Peter Glotz – sicherlich eines seiner intellektuellen Vorbilder. Dieser wies schon Anfang der achtziger Jahre seine Partei auf die Notwendigkeit hin, »dass sie Politik nicht aufs Administrative schrumpfen lässt. Sie muss die Partei als Lebensraum, als Forum der Kommunikation, als Organ der Bewusstseinsbildung neu organisieren«.
Brosda: »Deshalb greift es zu kurz, wenn gesagt wird, es reiche aus, den kommunalpolitischen Pragmatismus der Partei auf die Bundesebene zu verlängern.« Es brauche strategische und intellektuelle Kompetenz, »die die Partei anschlussfähig macht an gesellschaftliche Grundströmungen«. Eine Mitte-links-Partei zu sein bedeute, »einen politischen Kern als Mitte der Gesellschaft zu definieren und dann um Zustimmung zu dieser Programmatik zu werben, mit dem Ziel, die Mitte um diesen programmatischen Pol herum zu schaffen«.
»Die Kunst der Demokratie – Die Bedeutung der Kultur für eine offene Gesellschaft«, das zweite Brosda-Buch, ist vor kurzem erschienen. Es beginnt mit einem Zitat aus dem Grußwort Willy Brandts im September 1992 an den Kongress der Sozialistischen Internationale in Berlin: »Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.« Für Brosda hat Brandt damit an eine Selbstverständlichkeit aufgeklärter Gesellschaften erinnert: »Alles in der Moderne ist kontingent und muss ständig neu errungen werden – kultur- und geistesgeschichtlich.« Der Himmel kennt halt keine Günstlinge.
Eine hochaktuelle Mahnung in einer Zeit, da »nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Industrienationen sich populistische Rückschritte feststellen lassen«. In einer Zeit, in der »die Beschwörungen traditioneller und oft apodiktischer Positionen von Würde, kultureller Homogenität und nationaler Selbstbestimmung zunehmend dröhnender werden« und »aus tiefsitzendem Unbehagen an der freiheitlichen und offenen Gesellschaft der Moderne« heraus ein auch kultureller Kampf geführt wird gegen Offenheit, Vielfalt und Freiheit.
Die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Rolle, die die Kunst dabei einnehmen kann – die Lage ist viel zu ernst, um hier »spielen« zu schreiben –, treibt Brosda um. Für ihn ist die Freiheit der Kunst auch immer ein Gradmesser der demokratischen Freiheit.
Carsten Brosda: »Die Zerstörung«, 175 Seiten, 18 €; »Die Kunst der Demokratie«, 253 Seiten, 24 €, beide Hoffmann und Campe
Nachtrag: Am 23. Februar wurde Brosda mit 7933 Personenstimmen über die Landesliste wieder in die Hamburgische Bürgerschaft gewählt, nur drei SPD-Kandidaten erreichten mehr Personenstimmen. Schon drei Tage später sahen sich Kulturschaffende der Hansestadt – NDR: »Das ›Who’s who‹ der Hamburger Kultur« – veranlasst, mit einem Offenen Brief an den bisherigen Bürgermeister Peter Tschentscher und seine bisherige Stellvertreterin Katharina Fegebank hervorzutreten. Sie erhoben die Forderung, dass die Kulturbehörde wieder »mit der derzeit fachlich qualifiziertesten Person, also mit Carsten Brosda besetzt wird«. Mit ihm habe die Kulturpolitik der Stadt einen großen Schritt nach vorn gemacht. Hintergrund war die Sorge, dass im Zuge von Neubesetzungen einzelner Senatorenposten plötzlich aus Proporzgründen an der Spitze der Kulturbehörde ein neuer Name auftauchen könnte.