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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der »Geisterjäger« und ein Brief an Hitler

An einem Som­mer­tag 1932: Auf dem Brocken im Harz trägt ein Mann eine wei­ße Zie­ge auf dem Arm. Myste­riö­se Krei­de­zeich­nun­gen auf dem Boden ver­ra­ten die bevor­ste­hen­de Zau­ber­ze­re­mo­nie auf dem »Blocks­berg«, wie der Brocken im Volks­mund auch genannt wird. Pres­se­leu­te ste­hen mit gezück­ten Kame­ras am Ran­de und war­ten auf Sen­sa­tio­nen, denn der Mann mit der Zie­ge ist der bri­ti­sche »Gei­ster­jä­ger« Har­ry Pri­ce. Er will die alte Sage bewei­sen, dass sich just an die­sem ein­sa­men Ort in einer Voll­mond­nacht eine Zie­ge durch eine »Jung­frau rei­nen Her­zens« in einen jun­gen Mann ver­wan­deln kön­ne. Das ist mini­mal skur­ril und maxi­mal ver­rückt. Har­ry Pri­ce ist zu die­ser Zeit bereits eine leben­de Legen­de in Sachen Gei­ster­for­schung, zumin­dest in Eng­land. Doch sein Ruhm hat sich auch bis nach Deutsch­land her­um­ge­spro­chen, wo er zuvor schon viel­fäl­ti­ge Kon­tak­te zu Gleich­ge­sinn­ten gepflegt hat.

Heu­te ist Pri­ce in Deutsch­land nahe­zu ver­ges­sen. Wer war die­ser Mann, und wel­che Rol­le spiel­te sei­ne deut­sche Sekre­tä­rin? Und wie kam dann auch noch Adolf Hit­ler ins Spiel? Pri­ce sel­ber war nicht unbe­dingt ein zuver­läs­si­ger Bericht­erstat­ter, wenn es um sein eige­nes Leben ging. Er schum­mel­te schon mal und ver­schwieg so zum Bei­spiel sei­nen wah­ren Geburts­ort Lon­don. 1881 war aber tat­säch­lich das Jahr, in dem er das Licht der Welt erblick­te. Als jun­ger Mann woll­te er Tech­ni­ker wer­den, in sei­ner Frei­zeit beschäf­tig­te er sich unter ande­rem mit Zau­ber­tricks. Der Vater wünsch­te, dass Har­ry Hand­lungs­rei­sen­der für sei­ne Fir­ma wer­de. Als Edward Pri­ce schließ­lich im Juli 1906 starb, soll­te das das wei­te­re Leben des Soh­nes prä­gen. Pri­ce besuch­te Tref­fen von Spi­ri­tua­li­sten und fing an, exzes­siv Bücher zum The­ma zu sam­meln. Früh hat­te er zudem die Leicht­gläu­big­keit vie­ler Men­schen und gleich­zei­tig die Pro­fit­gier ande­rer erkannt, und das war oft eine unheil­vol­le Alli­anz. Die Sze­ne wim­mel­te von Schar­la­ta­nen, das war in Eng­land nicht anders als in Deutsch­land. In sei­ner groß­zü­gig bemes­se­nen Frei­zeit konn­te Pri­ce sei­ner wah­ren Lei­den­schaft frö­nen: der Erfor­schung über­na­tür­li­cher Phä­no­me­ne und dem Ent­lar­ven von Schar­la­ta­nen. Er steck­te sei­ne gan­ze Kraft in die­se For­schung, die not­wen­di­gen tech­ni­schen Fähig­kei­ten hat­te er sich an einer Abend­schu­le in Lon­don ange­eig­net. Gleich­zei­tig such­te er aber auch das Ram­pen­licht und den Ruhm, und er war über­mä­ßi­gen irdi­schen Besitz nicht abge­neigt. Sein frü­he­ster Wunsch war der Besitz eines Rolls-Roy­ce’. Wann Pri­ce zum ersten Mal nach Deutsch­land kam, lässt sich nicht genau rekonstruieren.

Nach dem Ersten Welt­krieg, bei dem Pri­ce auf­grund einer nicht näher benann­ten Krank­heit nicht in den Schüt­zen­gra­ben muss­te, reist er nach Ber­lin, um für sei­ne Biblio­thek Bücher zu kau­fen. Dort hat er, so berich­tet er in sei­nem Buch Con­fes­si­ons of a Ghost-Hun­ter, ein ver­meint­lich para­nor­ma­les Erleb­nis, als er mehr­mals und an ver­schie­de­nen Orten einem unheim­li­chen »mon­strö­sen« Mann begeg­net, der wie ein Unto­ter wirkt und irgend­wann spur­los ver­schwin­det. Pri­ce muss schließ­lich abrei­sen und kann das Rät­sel des »Unter den Linden«-Geistes, wie er ihn getauft hat, nicht mehr lösen. Er lässt rat­lo­se Leser zurück in einer Zeit, in der vie­le Men­schen ver­stärkt ver­su­chen, Kon­tak­te ins Jen­seits auf­zu­neh­men. Die Spi­ri­ti­sten­sze­ne boomt und das vor allem im säch­si­schen Raum und in Berlin.

1922 reist Pri­ce mehr­mals nach Deutsch­land, um Expe­ri­men­te mit dem Medi­um Wil­li Schnei­der in Mün­chen anzu­stel­len, der sein »Vor­zei­ge­pro­jekt« wird. Dass der aus Brau­nau in Öster­reich stammt, wird noch eine wich­ti­ge Rol­le spie­len. Vier Jah­re spä­ter kann Har­ry Pri­ce in Lon­don sein eige­nes For­schungs­la­bor eröff­nen, das Natio­nal Labo­ra­to­ry of Psy­chi­cal Rese­arch, das der Uni­ver­si­tät von Lon­don unter­stellt ist. Am Tag der Eröff­nung sind unter den Gästen unter ande­rem auch die Spi­ri­ti­stin Vio­let Kay und deren Toch­ter Lucy. Vio­let Kay hat­te ihren Nach­na­men, den sie durch die Hei­rat mit dem Ver­si­che­rungs­be­am­ten Max Kal­len­bach im Jahr 1898 ange­nom­men hat, drei Jah­re zuvor ändern las­sen. Und auch die am 21. Dezem­ber 1905 in Dall­dorf gebo­re­ne Toch­ter Lucie Kal­len­bach heißt nun Lucy Kay. Die lebens­lu­sti­ge jun­ge Frau, die als Model arbei­tet, trifft bei der Eröff­nungs­fei­er auf den Mann, der wohl auch der Vater ihres unehe­li­chen Kin­des wer­den wird. So soll­te es Richard Mor­ris in sei­nem 2006 ver­öf­fent­lich­ten Buch über Pri­ce (The Psy­chic Detec­ti­ve) jeden­falls behaup­ten, für das er sich tief in bri­ti­sches Archiv­ma­te­ri­al ver­gra­ben hat­te. Er fand auch eine gro­ße Samm­lung von hand­schrift­li­chen Brie­fen im Bestand der Har­ry Pri­ce Coll­ec­tion der Lon­do­ner Sena­te Hou­se Libra­ry, dar­un­ter auch einen sehr per­sön­li­chen Schrift­ver­kehr zwi­schen Pri­ce und Kay.

Lucy ist an die­sem Tag von dem Labor und vor allem auch von Pri­ce begei­stert. »Wie schön wäre es doch, hier zu arbei­ten« ruft sie spon­tan aus, was Pri­ce über­hört und ihr kur­zer­hand anbie­tet, sei­ne Sekre­tä­rin zu wer­den, obwohl es gar nicht in sei­ner Befug­nis liegt, das Insti­tuts­per­so­nal der Uni­ver­si­tät zu rekru­tie­ren. Fünf Jah­re lang wird sie dann doch sei­ne treue Assi­sten­tin, beglei­tet ihn auf sei­nen Ter­mi­nen im In- und Aus­land und assi­stiert ihm bei sei­nen Expe­ri­men­ten. Sie chauf­fiert ihn, über­nach­tet mit ihm in Spuk­häu­sern oder wird sich auf Ber­gen auf der Suche nach Zie­gen her­um­trei­ben, die zu Men­schen ver­wan­delt wer­den sol­len. Doch Lucy Kay, so Richard Mor­ris, war wohl weit­aus mehr als nur die Arbeits­kol­le­gin von Har­ry Pri­ce. Als sie unge­wollt schwan­ger wird, bedeu­tet das auch das Ende der Bezie­hung. Pri­ce ist angeb­lich der Kinds­va­ter, doch er ist ver­hei­ra­tet, und einen Skan­dal kann er nicht gebrau­chen. Lucy trägt das Kind den­noch aus und gibt es dann zur Adop­ti­on frei. Lucy Kay wird zwei Mal hei­ra­ten und zwei Söh­ne bekom­men, von denen einer, David Mee­ker, das Archiv des renom­mier­ten Bri­tish Film Insti­tu­te (BFI) auf­bau­en wird.

1936 haben sich die Wege von Pri­ce und Kay längst getrennt. In die­sem Jahr ver­sucht Pri­ce, sein Insti­tut von Eng­land nach Deutsch­land zu ver­le­gen, als wich­tig­ster Ver­bin­dungs­mann vor Ort dient ihm der Para­psy­cho­lo­ge Dr. Hans Ben­der. Die Uni­ver­si­tät zu Bonn hat ange­deu­tet, eine »Abtei­lung für Abnor­me Psy­cho­lo­gie und Para­psy­cho­lo­gie« ein­rich­ten zu wol­len. Mehr­mals reist Pri­ce zu wei­te­ren Gesprä­chen nach Deutsch­land, wo er sich sowie­so sehr wohl fühlt. Er plant sogar, irgend­wann dort­hin zu zie­hen. Dann end­lich erhält er im Febru­ar 1937 die Nach­richt, dass die deut­sche Regie­rung dem Pro­jekt eine Zusa­ge erteilt habe und man auch das For­schungs­feld offi­zi­ell aner­ken­nen wür­de. Hit­ler habe sich der Sache gegen­über sehr auf­ge­schlos­sen gezeigt. Doch am Ende kann das Pro­jekt wegen des Zwei­ten Welt­krie­ges nicht mehr rea­li­siert werden.

Pri­ce hät­te sich wohl mit den Natio­nal­so­zia­li­sten arran­giert, ein­deu­tig Stel­lung hat er ihnen gegen­über jedoch nie bezo­gen. Dass er Kon­takt zu Hit­ler gehabt haben muss, belegt ein Brief­ent­wurf vom 28. Juli 1939 aus der Har­ry Pri­ce-Coll­ec­tion, in dem er Hit­ler bit­tet, dafür zu sor­gen, dass er mög­lichst »bequem« zum Nür­burg­ring rei­sen und sich dort ein Ren­nen anse­hen kön­ne. In einem sei­ner Bücher hat Pri­ce zudem eine selt­sa­me Ver­bin­dung zwi­schen Hit­ler und Wil­li Schnei­der kon­stru­iert. Hit­lers Inter­es­se am Okkul­tis­mus sei vor allem dadurch ent­stan­den, dass er eben­falls in Brau­nau gebo­ren wur­de. Eine merk­wür­di­ge Logik und so wider­sprüch­lich und exzen­trisch, wie es Har­ry Pri­ce wohl auch sel­ber war. Denn immer wie­der tauch­ten Anschul­di­gun­gen ihm gegen­über auf, dass er bei den angeb­lich para­nor­ma­len Phä­no­me­nen, so vor allem im »Spuk­haus« von Bor­ley, nach­ge­hol­fen habe, um lang­fri­stig sei­nen begehr­ten Ruhm und ein nicht uner­heb­li­ches Ein­kom­men zu sichern. Abge­se­hen von die­sen Zwei­feln an sei­ner Per­son war Pri­ce aber auch eine Sym­bol­fi­gur für das ewi­ge Dilem­ma der Akzep­tanz der Para­psy­cho­lo­gie, sei es nun in Deutsch­land oder Eng­land, das durch sol­che Anschul­di­gun­gen wei­ter geschmä­lert wur­de. In streng wis­sen­schaft­li­chen Krei­sen galt Pri­ce als Spi­ri­tist, bei den Spi­ri­ti­sten wie­der­um als uner­bitt­li­cher Skep­ti­ker. Die­ses Dilem­ma in Ver­bin­dung mit einem aus­ge­präg­ten Gel­tungs­be­wusst­sein könn­te Har­ry Pri­ce dazu ver­lei­tet haben, zum Betrü­ger zu wer­den. Zumin­dest war die Zie­ge echt – und sie hat den Tag auf dem Brocken über­lebt und ist nicht zu einem jun­gen Mann mutiert.

Har­ry Pri­ce starb am 29. März 1948 im eng­li­schen Pul­bo­rough. Der Gei­ster­jä­ger war tot, doch sein wider­sprüch­li­ches, aber auch span­nen­des Leben fas­zi­niert bis heute.