An einem Sommertag 1932: Auf dem Brocken im Harz trägt ein Mann eine weiße Ziege auf dem Arm. Mysteriöse Kreidezeichnungen auf dem Boden verraten die bevorstehende Zauberzeremonie auf dem »Blocksberg«, wie der Brocken im Volksmund auch genannt wird. Presseleute stehen mit gezückten Kameras am Rande und warten auf Sensationen, denn der Mann mit der Ziege ist der britische »Geisterjäger« Harry Price. Er will die alte Sage beweisen, dass sich just an diesem einsamen Ort in einer Vollmondnacht eine Ziege durch eine »Jungfrau reinen Herzens« in einen jungen Mann verwandeln könne. Das ist minimal skurril und maximal verrückt. Harry Price ist zu dieser Zeit bereits eine lebende Legende in Sachen Geisterforschung, zumindest in England. Doch sein Ruhm hat sich auch bis nach Deutschland herumgesprochen, wo er zuvor schon vielfältige Kontakte zu Gleichgesinnten gepflegt hat.
Heute ist Price in Deutschland nahezu vergessen. Wer war dieser Mann, und welche Rolle spielte seine deutsche Sekretärin? Und wie kam dann auch noch Adolf Hitler ins Spiel? Price selber war nicht unbedingt ein zuverlässiger Berichterstatter, wenn es um sein eigenes Leben ging. Er schummelte schon mal und verschwieg so zum Beispiel seinen wahren Geburtsort London. 1881 war aber tatsächlich das Jahr, in dem er das Licht der Welt erblickte. Als junger Mann wollte er Techniker werden, in seiner Freizeit beschäftigte er sich unter anderem mit Zaubertricks. Der Vater wünschte, dass Harry Handlungsreisender für seine Firma werde. Als Edward Price schließlich im Juli 1906 starb, sollte das das weitere Leben des Sohnes prägen. Price besuchte Treffen von Spiritualisten und fing an, exzessiv Bücher zum Thema zu sammeln. Früh hatte er zudem die Leichtgläubigkeit vieler Menschen und gleichzeitig die Profitgier anderer erkannt, und das war oft eine unheilvolle Allianz. Die Szene wimmelte von Scharlatanen, das war in England nicht anders als in Deutschland. In seiner großzügig bemessenen Freizeit konnte Price seiner wahren Leidenschaft frönen: der Erforschung übernatürlicher Phänomene und dem Entlarven von Scharlatanen. Er steckte seine ganze Kraft in diese Forschung, die notwendigen technischen Fähigkeiten hatte er sich an einer Abendschule in London angeeignet. Gleichzeitig suchte er aber auch das Rampenlicht und den Ruhm, und er war übermäßigen irdischen Besitz nicht abgeneigt. Sein frühester Wunsch war der Besitz eines Rolls-Royce’. Wann Price zum ersten Mal nach Deutschland kam, lässt sich nicht genau rekonstruieren.
Nach dem Ersten Weltkrieg, bei dem Price aufgrund einer nicht näher benannten Krankheit nicht in den Schützengraben musste, reist er nach Berlin, um für seine Bibliothek Bücher zu kaufen. Dort hat er, so berichtet er in seinem Buch Confessions of a Ghost-Hunter, ein vermeintlich paranormales Erlebnis, als er mehrmals und an verschiedenen Orten einem unheimlichen »monströsen« Mann begegnet, der wie ein Untoter wirkt und irgendwann spurlos verschwindet. Price muss schließlich abreisen und kann das Rätsel des »Unter den Linden«-Geistes, wie er ihn getauft hat, nicht mehr lösen. Er lässt ratlose Leser zurück in einer Zeit, in der viele Menschen verstärkt versuchen, Kontakte ins Jenseits aufzunehmen. Die Spiritistenszene boomt und das vor allem im sächsischen Raum und in Berlin.
1922 reist Price mehrmals nach Deutschland, um Experimente mit dem Medium Willi Schneider in München anzustellen, der sein »Vorzeigeprojekt« wird. Dass der aus Braunau in Österreich stammt, wird noch eine wichtige Rolle spielen. Vier Jahre später kann Harry Price in London sein eigenes Forschungslabor eröffnen, das National Laboratory of Psychical Research, das der Universität von London unterstellt ist. Am Tag der Eröffnung sind unter den Gästen unter anderem auch die Spiritistin Violet Kay und deren Tochter Lucy. Violet Kay hatte ihren Nachnamen, den sie durch die Heirat mit dem Versicherungsbeamten Max Kallenbach im Jahr 1898 angenommen hat, drei Jahre zuvor ändern lassen. Und auch die am 21. Dezember 1905 in Dalldorf geborene Tochter Lucie Kallenbach heißt nun Lucy Kay. Die lebenslustige junge Frau, die als Model arbeitet, trifft bei der Eröffnungsfeier auf den Mann, der wohl auch der Vater ihres unehelichen Kindes werden wird. So sollte es Richard Morris in seinem 2006 veröffentlichten Buch über Price (The Psychic Detective) jedenfalls behaupten, für das er sich tief in britisches Archivmaterial vergraben hatte. Er fand auch eine große Sammlung von handschriftlichen Briefen im Bestand der Harry Price Collection der Londoner Senate House Library, darunter auch einen sehr persönlichen Schriftverkehr zwischen Price und Kay.
Lucy ist an diesem Tag von dem Labor und vor allem auch von Price begeistert. »Wie schön wäre es doch, hier zu arbeiten« ruft sie spontan aus, was Price überhört und ihr kurzerhand anbietet, seine Sekretärin zu werden, obwohl es gar nicht in seiner Befugnis liegt, das Institutspersonal der Universität zu rekrutieren. Fünf Jahre lang wird sie dann doch seine treue Assistentin, begleitet ihn auf seinen Terminen im In- und Ausland und assistiert ihm bei seinen Experimenten. Sie chauffiert ihn, übernachtet mit ihm in Spukhäusern oder wird sich auf Bergen auf der Suche nach Ziegen herumtreiben, die zu Menschen verwandelt werden sollen. Doch Lucy Kay, so Richard Morris, war wohl weitaus mehr als nur die Arbeitskollegin von Harry Price. Als sie ungewollt schwanger wird, bedeutet das auch das Ende der Beziehung. Price ist angeblich der Kindsvater, doch er ist verheiratet, und einen Skandal kann er nicht gebrauchen. Lucy trägt das Kind dennoch aus und gibt es dann zur Adoption frei. Lucy Kay wird zwei Mal heiraten und zwei Söhne bekommen, von denen einer, David Meeker, das Archiv des renommierten British Film Institute (BFI) aufbauen wird.
1936 haben sich die Wege von Price und Kay längst getrennt. In diesem Jahr versucht Price, sein Institut von England nach Deutschland zu verlegen, als wichtigster Verbindungsmann vor Ort dient ihm der Parapsychologe Dr. Hans Bender. Die Universität zu Bonn hat angedeutet, eine »Abteilung für Abnorme Psychologie und Parapsychologie« einrichten zu wollen. Mehrmals reist Price zu weiteren Gesprächen nach Deutschland, wo er sich sowieso sehr wohl fühlt. Er plant sogar, irgendwann dorthin zu ziehen. Dann endlich erhält er im Februar 1937 die Nachricht, dass die deutsche Regierung dem Projekt eine Zusage erteilt habe und man auch das Forschungsfeld offiziell anerkennen würde. Hitler habe sich der Sache gegenüber sehr aufgeschlossen gezeigt. Doch am Ende kann das Projekt wegen des Zweiten Weltkrieges nicht mehr realisiert werden.
Price hätte sich wohl mit den Nationalsozialisten arrangiert, eindeutig Stellung hat er ihnen gegenüber jedoch nie bezogen. Dass er Kontakt zu Hitler gehabt haben muss, belegt ein Briefentwurf vom 28. Juli 1939 aus der Harry Price-Collection, in dem er Hitler bittet, dafür zu sorgen, dass er möglichst »bequem« zum Nürburgring reisen und sich dort ein Rennen ansehen könne. In einem seiner Bücher hat Price zudem eine seltsame Verbindung zwischen Hitler und Willi Schneider konstruiert. Hitlers Interesse am Okkultismus sei vor allem dadurch entstanden, dass er ebenfalls in Braunau geboren wurde. Eine merkwürdige Logik und so widersprüchlich und exzentrisch, wie es Harry Price wohl auch selber war. Denn immer wieder tauchten Anschuldigungen ihm gegenüber auf, dass er bei den angeblich paranormalen Phänomenen, so vor allem im »Spukhaus« von Borley, nachgeholfen habe, um langfristig seinen begehrten Ruhm und ein nicht unerhebliches Einkommen zu sichern. Abgesehen von diesen Zweifeln an seiner Person war Price aber auch eine Symbolfigur für das ewige Dilemma der Akzeptanz der Parapsychologie, sei es nun in Deutschland oder England, das durch solche Anschuldigungen weiter geschmälert wurde. In streng wissenschaftlichen Kreisen galt Price als Spiritist, bei den Spiritisten wiederum als unerbittlicher Skeptiker. Dieses Dilemma in Verbindung mit einem ausgeprägten Geltungsbewusstsein könnte Harry Price dazu verleitet haben, zum Betrüger zu werden. Zumindest war die Ziege echt – und sie hat den Tag auf dem Brocken überlebt und ist nicht zu einem jungen Mann mutiert.
Harry Price starb am 29. März 1948 im englischen Pulborough. Der Geisterjäger war tot, doch sein widersprüchliches, aber auch spannendes Leben fasziniert bis heute.