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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Chemiekrieg gegen Jugoslawien

Am 24. April 1999 fei­er­te in Washing­ton die NATO ihren 50. Geburts­tag mit einem neu­en Stra­te­gie-Kon­zept. Das hieß, eine »Mis­si­on« begin­nen not­falls auch ohne Bünd­nis­fall, ohne UN-Man­dat und auch außer­halb des Bünd­nis­ge­bie­tes. Wäh­rend die Glä­ser klan­gen, wur­de dies schon die vier­te Woche per Luft­krieg in Jugo­sla­wi­en erprobt. Zur Ver­hin­de­rung einer »huma­ni­tä­ren Kata­stro­phe« im Koso­vo hat­te man am 24. März los­ge­schla­gen. Obwohl in den fürs deut­sche Par­la­ment vom Füh­rungs­zen­trum der Bun­des­wehr zusam­men­ge­stell­ten Wochen­be­rich­ten nur von einem blu­ti­gen Bür­ger­krieg die Rede war, nicht aber von »eth­ni­schen Säu­be­run­gen« und »Ver­trei­bung«. Behaup­tun­gen, mit denen Außen­mi­ni­ster Josch­ka Fischer (Grü­ne) und Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Rudolf Schar­ping (SPD) auch den Ein­satz deut­scher Tor­na­dos für uner­läss­lich erklär­ten. Das bezeugt Jochen Scholz, damals als Bun­des­wehr­of­fi­zier Refe­rent beim Stab des Gene­ral­inspek­teurs. Und weil die ser­bi­sche Armee den Sturz von Miloše­vić nicht so ein­fach zuließ und mili­tä­ri­sche Erfol­ge im Koso­vo aus­blie­ben, lenk­te die NATO schon bald ihre Bom­ben und Marsch­flug­kör­per auf soge­nann­te zivil­mi­li­tä­ri­sche Zie­le. Also auf Brücken, Stra­ßen, die Strom- und Was­ser­ver­sor­gung, auf Kran­ken­häu­ser, ein Fern­seh­zen­trum, Industriebetriebe.

Als beson­ders zyni­sches Kriegs­ver­bre­chen der NATO gilt bis heu­te neben dem Ein­satz von über 30.000 Uran­ge­schos­sen an über 80 Orten die vor­sätz­li­che Bom­bar­die­rung der gro­ßen Che­mie­zen­tren in Panče­vo, Novi Sad, Bor und des Auto­wer­kes von Zasta­va in Kra­gu­je­vac. Am 4. April 1999, zwölf Tage nach Beginn der NATO-Luft­schlä­ge, tra­fen zum ersten Mal meh­re­re Rake­ten die Raf­fi­ne­rie von Panče­vo. Das aus­lau­fen­de Öl brann­te zwei Wochen. Am 6. April 1999 wur­de mit Lang­strecken­bom­bern die älte­re Ölraf­fi­nie­re in der Donau­me­tro­po­le Novi Sad zer­stört. 80.000 Ton­nen Öl lie­fen aus, 20.000 Ton­nen ver­brann­ten. Eine rie­si­ge Wol­ke aus Ruß, Teer, Ölpar­ti­keln, Schwe­fel­di­oxid und Stick­oxi­den lag über der Stadt. Nur ein Bruch­teil davon löste vor kur­zem im geset­zes­stren­gen Deutsch­land den Die­sel­skan­dal und auf­ge­reg­te Opfer­de­bat­ten aus.

Am 15. und 18. April 1999 und schluss­end­lich kurz vor dem Waf­fen­still­stand am 8. Juni zer­stör­te die NATO voll­stän­dig das ser­bi­sche Che­mie­zen­trum in Panče­vo. Erst weni­ge Jah­re zuvor war es auch mit US-Hil­fe moder­ni­siert wor­den. Bau­plan­ge­nau tra­fen com­pu­ter­ge­steu­er­te Rake­ten und Prä­zi­si­ons­bom­ben die Dün­ge­mit­tel­fa­brik, die Ölraf­fi­ne­rie, das PVC-Werk und auf den Meter exakt einen noch halb­vol­len Tank mit 450 Ton­nen Vinyl­chlo­rid, dem krebs­er­re­gen­den Vor­pro­dukt für die PVC-Her­stel­lung. Es war einer der Behäl­ter, die die Werk­lei­tung noch als beson­ders gefähr­lich an die NATO gemel­det hat­te. Obwohl vor­sorg­lich per Eisen­bahn über 8000 Ton­nen Ammo­ni­ak nach Rumä­ni­en trans­por­tiert wor­den waren, ent­wi­chen auch von die­sem töd­li­chen Gas noch hun­der­te Ton­nen. So zog eine 20 Kilo­me­ter lan­ge Gift­gas­wol­ke mehr als zehn Tage west­wärts. Über die Vor­or­te von Bel­grad hin­weg in die Gemü­se- und Korn­kam­mern Ser­bi­ens. 40.000 Men­schen wur­den eva­ku­iert. Allein die Kon­zen­tra­ti­on des Vinyl­chlo­rids stieg zeit­wei­se auf das 10.600-fache des inter­na­tio­na­len Grenz­wer­tes. Als der Wind sich dreh­te, kroch die Wol­ke wei­ter nach Bul­ga­ri­en, Rumä­ni­en, Ungarn. Selbst 550 Kilo­me­ter süd­lich maßen Wis­sen­schaft­ler der grie­chi­schen Uni­ver­si­täts­sta­ti­on Xan­thi hoch­gif­ti­ge Dioxi­ne und poly­zy­kli­sche aro­ma­ti­sche Koh­len­was­ser­stoff­ver­bin­dun­gen und alar­mier­ten die inter­na­tio­na­le Öffentlichkeit.

Schon weni­ge Jah­re nach Kriegs­en­de beob­ach­te­ten ser­bi­sche Medi­zi­ner wie der füh­ren­de Bel­gra­der Onko­lo­ge Vla­di­mir Čika­rić und die Neu­ro­lo­gin Dani­ca Gru­ji­čić einen dra­ma­ti­schen Anstieg der Krebs­ra­te und Sterb­lich­keit. Heu­te liegt Ser­bi­en bei Lun­gen- und Brust­krebs an der Spit­ze Euro­pas. Doch erst im Mai 2018 konn­ten enga­gier­te Medi­zi­ner im Bel­gra­der Par­la­ment die Grün­dung einer Kom­mis­si­on durch­set­zen, die die ver­hee­ren­den Fol­gen des frei gewor­de­nen Uran­oxid­stau­bes und der Che­mie­an­grif­fe unter­sucht. Die ser­bi­sche Staats­po­li­tik hat auf dem Weg in die EU viel zu lan­ge höf­lich die Kriegs­fol­gen geschluckt.

Für die Toxi­ko­lo­gin Ursu­la Ste­phan aus Halle/​Saale ist die Bom­bar­die­rung der ser­bi­schen Che­mie­be­trie­be bis heu­te ein unge­sühn­ter vor­sätz­li­cher Che­mie­krieg, der nach deut­schem Recht ein »Super-GAU« war. Und tau­sen­de Opfer von Lang­zeit­schä­den bewusst in Kauf nahm. Als 1999 alle deut­schen Umwelt­ver­bän­de dazu schwie­gen, war Frau Ste­phan Vor­sit­zen­de der deut­schen Stör­fall-Kom­mis­si­on. Einer Exper­ten­ver­ei­ni­gung für alle Sicher­heits­fra­gen der Indu­strie und auch für die Fol­gen und Ver­hü­tung von Chemieunfällen.

Als sich kein ande­rer deut­scher Toxi­ko­lo­ge bereit erklär­te, folg­te Frau Ste­phan ohne zu zögern Ende Juli 1999 dem Wunsch des World Wide Fund for Natu­re (WWF-Büro in Wien) und erstell­te mit einer Exper­tin des Umwelt­la­bors »ÖKO-CONTROL« Des­sau an den zer­stör­ten ser­bi­schen Che­mie­or­ten ein Gut­ach­ten. Fast zeit­gleich unter­such­ten auch Spe­zia­li­sten der damals von Klaus Töp­fer gelei­te­ten UN-Umwelt­be­hör­de UNEP vor Ort die Schä­den der Che­mie­an­grif­fe; doch sie hiel­ten am Ende in ihrem Bericht den Ball NATO-freund­lich flach, erklär­ten als Fazit ihrer Ana­ly­sen, dass die mei­sten der durch die aus­ge­lau­fe­nen und ver­brann­ten Che­mi­ka­li­en ent­stan­de­nen »Ver­schmut­zun­gen« Alt­la­sten aus der Zeit vor dem Krieg seien.

Die Pro­fes­so­rin Ursu­la Ste­phan dage­gen dekla­rier­te das Aus­maß der Zer­stö­rung, der Boden­be­la­stung und vor allem der weit­räu­mi­gen Gift­gas­wol­ken nach den stren­gen deut­schen Geset­zen als »exzep­tio­nel­len Stör­fall«. Das heißt als eine Kata­stro­phe, für deren Aus­ma­ße es kei­ne Erfah­run­gen, Bere­chen­bar­keit, kei­ne Vor­be­rei­tungs­mög­lich­kei­ten und des­halb auch kei­ne Abwehr­sze­na­ri­en gibt. Ver­gleich­bar mit Tscher­no­byl oder Fukushima.

Schon wäh­rend der Luft­an­grif­fe hat­te auch der Ber­li­ner Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor für Umwelt­pla­nung Knut Kru­se­witz die Schlä­ge gegen Che­mie­zen­tren als neu­ar­ti­gen Umwelt­krieg bezeich­net. Mit dem die NATO das Gen­fer Ver­bot von Che­mi­schen Waf­fen gezielt umging und damit auch gegen die ENMOD-Kon­ven­ti­on der UN-Voll­ver­samm­lung von 1978 ver­stieß, nach der »umwelt­ver­än­dern­de Tech­ni­ken, die weit­räu­mi­ge, lan­ge andau­ern­de oder schwer­wie­gen­de Aus­wir­kun­gen« haben, als Mit­tel der Kriegs­füh­rung ver­bo­ten sind.

In Kür­ze wer­den die Glä­ser zum 70. Geburts­tag der NATO klin­gen. Wie lan­ge wer­den sie den Schrei nach völ­ker­recht­li­chen Kon­se­quen­zen übertönen?