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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Der Besuch der alten Dame«

In Fried­rich Dür­ren­matts Thea­ter­stück wird erzählt, wie sich eine Mil­li­ar­dä­rin »Gerech­tig­keit« kau­fen will, indem sie mit Mil­li­ar­den­ge­schen­ken wedelt, die sie der Bevöl­ke­rung von Gül­len ver­spricht, wenn, ja, wenn sie ein Opfer brin­gen, und zwar den ersten Lieb­ha­ber der Clai­re Zach­an­as­si­an, der sie ver­riet. Den Rich­ter, der sie in Gül­len einst wegen einer Falsch­aus­sa­ge ver­ur­teil­te, hat­te sie bereits in ihren But­ler ver­wan­delt, der ihr immer zu Dien­sten steht. Ich set­ze den Text von Dür­ren­matt als bekannt vor­aus und bezie­he mich zunächst nur auf Dür­ren­matts Gedan­ken, in und mit der Para­bel Wirk­lich­kei­ten auf­zu­su­chen, in denen das Muster wie­der erscheint.

In einem Arti­kel der FAZ vom 9.11.23, beti­telt: »Ein Feld wei­ter …«, wer­den im Bild Ursu­la von der Ley­en und Selen­skyj abge­bil­det, bei­de lachen und sind vol­ler Hoff­nung. Die EU-Kom­mis­si­on wedelt hier mit Mil­li­ar­den in Form von Zuschüs­sen und zins­gün­sti­gen Kre­di­ten. Mit der Ukrai­ne war bereits in 2020 ein Roh­stoff­ab­kom­men geschlos­sen wor­den, mit dem der EU der »unver­zerr­te Zugang« zu den dort vor­han­de­nen Roh­stof­fen zuge­bil­ligt wor­den war. Es dreht sich um »unse­re Korn­kam­mer«, um Gas, Öl und, was heu­te immer wich­ti­ger wird, um Lithi­um. Das Drit­te Reich woll­te die »Korn­kam­mer« und die Koh­le sowie das Öl in Beschlag neh­men und wur­de erst in Sta­lin­grad gestoppt.

Fai­rer­wei­se muss man die Zuschüs­se und Kre­di­te in ein Ver­hält­nis set­zen. Für Mili­tär­hil­fen will allein die Bun­des­re­pu­blik im näch­sten Jahr 8 Mrd. € bereit­stel­len. Für Tod und Ver­der­ben ist immer genug Geld vor­han­den. Dafür ste­hen die Rüstungs­kon­zer­ne ihrer­seits gern an, um sich den Kuchen aufzuteilen.

Aber es geht hier kei­nes­wegs nur um die Ukrai­ne. Um die Süd­flan­ke der Nato zu festi­gen, ste­hen neben der Ukrai­ne auch die Repu­blik Mol­dau und Geor­gi­en im Visier. »Die Erwei­te­rung der EU ist ein geo­po­li­ti­scher Pro­zess.« Gegen Russ­land ist er gerich­tet, damit die Grau­zo­ne der rus­si­schen Bedro­hung sei­ner Nach­barn geschlos­sen wer­den kann, so der Text in der FAZ. Die Kom­mis­si­on spricht gera­de­zu von einem »histo­ri­schen Auf­trag«. Wie nann­te das doch Wolf­gang Momm­sen in sei­nem monu­men­ta­len Werk: Bür­ger­stolz und Weltmachtstreben.

In den öffent­li­chen Erklä­run­gen ste­hen wie immer die Wor­te Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te im Mit­tel­punkt. Offen­bar sind die­se Wor­te sehr fle­xi­bel zu hand­ha­ben, schließ­lich sind sie offen­kun­dig doch kom­pa­ti­bel mit dem Ver­such der Ukrai­ne, die ukrai­nisch ortho­do­xe Kir­che zu ver­bie­ten. Mit ihren Min­der­hei­ten hat die Ukrai­ne eben­falls ein Pro­blem. Im öffent­li­chen Raum darf nicht mehr rus­sisch gespro­chen wer­den, denn für »die Ukrai­ner« ist Russ­land der Feind.

Die EU nimmt dabei die Rol­le eines Sekun­dan­ten ein, wenn im Arti­kel der FAZ for­mu­liert wird: »Man wer­de auf die Rech­te von Ungarn, Bul­ga­ren und Rumä­nen ach­ten, nicht aber auf die von Rus­sen.« Der ver­meint­lich uni­ver­sel­le Kos­mos der Men­schen­rech­te wird damit bewusst zer­teilt. Man darf sich das auf der Zun­ge zer­ge­hen las­sen, weil es aus­rei­chend vie­le Kri­ti­ken gibt, in denen der EU und dem Westen zwar Dop­pel­stan­dards vor­ge­wor­fen wer­den, die­ser Vor­wurf aber zumeist ver­bal ver­klei­stert wird. Mit der For­de­rung nach Recht­lo­sig­keit von Rus­sen in der Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Behör­den und Medi­en in deren Spra­che sowie im Unter­richt zer­reißt die EU ihre eige­nen Vor­hän­ge, und es kom­men nur noch Macht­spie­le in den Blick.

Die EU lässt den Bei­tritts­kan­di­da­ten jeweils ein Jahr Zeit, sich über Refor­men dem erhoff­ten Geld­se­gen wür­dig zu erwei­sen. »Sonst sol­le es kein Geld geben. Und wer die Reform­auf­la­gen der Kom­mis­si­on nicht inner­halb eines Jah­res erfüllt, ver­liert sei­nen Anteil am Gesamt­topf.« Zah­lun­gen der EU sind zwei­fel­los nicht beson­ders selbst­los und schon gar nicht auf Hil­fe aus­ge­rich­tet. Dies bele­gen, um ein Bei­spiel zu nen­nen, Fische­rei­ab­kom­men mit dem Sene­gal. Für ein Ent­gelt von 3 Mio. Euro dür­fen euro­päi­sche Traw­ler min­de­stens 10.000 Ton­nen Tun­fisch fan­gen und bei die­sem Vor­ha­ben in die 12-Mei­len­zo­ne ein­fah­ren bis auf 6 Mei­len hin zur Küste. Rech­net man die 10.000 Ton­nen in einen Ver­kaufs­wert um, so reprä­sen­tie­ren die­se einen Wert von ca. 100 Mio. € bis ca. 200 Mio. €. Die Fang­rech­te machen mit­hin nicht ein­mal 3 Pro­zent des Ver­kaufs­wer­tes aus. Eine sol­che Situa­ti­on kann man getrost als Res­sour­cen­aus­beu­tung pur bezeich­nen, bei der die klei­nen Fischer in wirt­schaft­li­che Not bug­siert wer­den, wor­aus der Wunsch ent­steht, in der EU arbei­ten zu können.

Ja, die EU will sich »Gerech­tig­keit« kau­fen und hat­te seit dem ersten Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der Ukrai­ne an die­ser her­um­ge­zerrt und deren wirt­schaft­li­che Ver­bin­dun­gen mit Russ­land zu zer­stö­ren gesucht. Wir wis­sen, wie das aus­ging und wie es wei­ter ver­läuft: ein Krieg, vor dem der ehe­ma­li­ge Bun­des­kanz­ler Hel­mut Schmidt schon 2014 ein­dring­lich gewarnt hatte.

Die Ukrai­ne – nein, muss man dazu sagen, die wirt­schaft­li­chen Akteu­re dort, denn nir­gends gibt es eine ein­heit­li­che Volks­iden­ti­tät – zielt auf den Geld­se­gen ab. Es han­delt sich um die ver­schie­de­nen Olig­ar­chen und inzwi­schen um die Agrar­kon­zer­ne, die sich Mil­lio­nen Hekt­ar besten Acker­lan­des ein­ver­leibt, sprich: gekauft haben. Die Bevöl­ke­rung erlebt dort einer­seits einen Luft­krieg und ande­rer­seits die Mas­sa­ker in den Schüt­zen­grä­ben und in Pan­zern an der Front. Sie sind die Opfer, die dem geo­po­li­ti­schen Stre­ben und den Mil­li­ar­den­ge­schen­ken dar­ge­bracht wer­den sol­len. Die Opfer wer­den von einem mög­li­chen spä­te­ren Wohl­stand und von allen »Wer­ten« unse­rer Gesell­schaft nichts mehr haben kön­nen und allen­falls in Gedenk­ta­feln einen letz­ten Platz fin­den, auch wenn Stücke und Tei­le von ihnen irgend­wo an der Front her­um­lie­gen. Wie schön wäre doch eine Welt, in der man sol­che Hel­den nicht benö­tig­te, son­dern die »Hel­den« der Ver­stän­di­gung und des fried­li­chen Zusam­men­le­bens mit den Nachbarn.

Die »Alte Dame« bei Dür­ren­matt such­te »Gerech­tig­keit«? Nein! Sie woll­te ein Men­schen­op­fer und Rache. Unse­re heu­ti­ge alte Dame sieht die hun­dert­tau­send Opfer, die die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung für einen Stell­ver­tre­ter­krieg erbringt und lächelt. Eine zyni­sche Ord­nung des Gel­des geht über die ver­stüm­mel­ten Lei­ber hin­weg. Seit Gene­ra­tio­nen wur­de der Impe­ria­lis­mus, ob als offe­ner oder getarn­ter, auf Blut aufgebaut.

Wie lau­te­te einst das Lied der Arbei­ter­be­we­gung: »Brü­der zur Son­ne zur Frei­heit«? Ver­trau auf kei­nen Kai­ser, Gott oder Tri­bun. Heu­te müss­te man hin­zu­set­zen, ver­traue auch nicht auf die EU, denn aus dem Elend sich zu befrei­en, das müs­sen die Aus­ge­beu­te­ten schon sel­ber tun.

P.S. Ukrai­ne hat lan­ge »anschrei­ben« las­sen. Vom IWF sind bereits 144 Mrd. Dol­lar an Kre­di­ten geflossen.