In Friedrich Dürrenmatts Theaterstück wird erzählt, wie sich eine Milliardärin »Gerechtigkeit« kaufen will, indem sie mit Milliardengeschenken wedelt, die sie der Bevölkerung von Güllen verspricht, wenn, ja, wenn sie ein Opfer bringen, und zwar den ersten Liebhaber der Claire Zachanassian, der sie verriet. Den Richter, der sie in Güllen einst wegen einer Falschaussage verurteilte, hatte sie bereits in ihren Butler verwandelt, der ihr immer zu Diensten steht. Ich setze den Text von Dürrenmatt als bekannt voraus und beziehe mich zunächst nur auf Dürrenmatts Gedanken, in und mit der Parabel Wirklichkeiten aufzusuchen, in denen das Muster wieder erscheint.
In einem Artikel der FAZ vom 9.11.23, betitelt: »Ein Feld weiter …«, werden im Bild Ursula von der Leyen und Selenskyj abgebildet, beide lachen und sind voller Hoffnung. Die EU-Kommission wedelt hier mit Milliarden in Form von Zuschüssen und zinsgünstigen Krediten. Mit der Ukraine war bereits in 2020 ein Rohstoffabkommen geschlossen worden, mit dem der EU der »unverzerrte Zugang« zu den dort vorhandenen Rohstoffen zugebilligt worden war. Es dreht sich um »unsere Kornkammer«, um Gas, Öl und, was heute immer wichtiger wird, um Lithium. Das Dritte Reich wollte die »Kornkammer« und die Kohle sowie das Öl in Beschlag nehmen und wurde erst in Stalingrad gestoppt.
Fairerweise muss man die Zuschüsse und Kredite in ein Verhältnis setzen. Für Militärhilfen will allein die Bundesrepublik im nächsten Jahr 8 Mrd. € bereitstellen. Für Tod und Verderben ist immer genug Geld vorhanden. Dafür stehen die Rüstungskonzerne ihrerseits gern an, um sich den Kuchen aufzuteilen.
Aber es geht hier keineswegs nur um die Ukraine. Um die Südflanke der Nato zu festigen, stehen neben der Ukraine auch die Republik Moldau und Georgien im Visier. »Die Erweiterung der EU ist ein geopolitischer Prozess.« Gegen Russland ist er gerichtet, damit die Grauzone der russischen Bedrohung seiner Nachbarn geschlossen werden kann, so der Text in der FAZ. Die Kommission spricht geradezu von einem »historischen Auftrag«. Wie nannte das doch Wolfgang Mommsen in seinem monumentalen Werk: Bürgerstolz und Weltmachtstreben.
In den öffentlichen Erklärungen stehen wie immer die Worte Demokratie und Menschenrechte im Mittelpunkt. Offenbar sind diese Worte sehr flexibel zu handhaben, schließlich sind sie offenkundig doch kompatibel mit dem Versuch der Ukraine, die ukrainisch orthodoxe Kirche zu verbieten. Mit ihren Minderheiten hat die Ukraine ebenfalls ein Problem. Im öffentlichen Raum darf nicht mehr russisch gesprochen werden, denn für »die Ukrainer« ist Russland der Feind.
Die EU nimmt dabei die Rolle eines Sekundanten ein, wenn im Artikel der FAZ formuliert wird: »Man werde auf die Rechte von Ungarn, Bulgaren und Rumänen achten, nicht aber auf die von Russen.« Der vermeintlich universelle Kosmos der Menschenrechte wird damit bewusst zerteilt. Man darf sich das auf der Zunge zergehen lassen, weil es ausreichend viele Kritiken gibt, in denen der EU und dem Westen zwar Doppelstandards vorgeworfen werden, dieser Vorwurf aber zumeist verbal verkleistert wird. Mit der Forderung nach Rechtlosigkeit von Russen in der Kommunikation mit Behörden und Medien in deren Sprache sowie im Unterricht zerreißt die EU ihre eigenen Vorhänge, und es kommen nur noch Machtspiele in den Blick.
Die EU lässt den Beitrittskandidaten jeweils ein Jahr Zeit, sich über Reformen dem erhofften Geldsegen würdig zu erweisen. »Sonst solle es kein Geld geben. Und wer die Reformauflagen der Kommission nicht innerhalb eines Jahres erfüllt, verliert seinen Anteil am Gesamttopf.« Zahlungen der EU sind zweifellos nicht besonders selbstlos und schon gar nicht auf Hilfe ausgerichtet. Dies belegen, um ein Beispiel zu nennen, Fischereiabkommen mit dem Senegal. Für ein Entgelt von 3 Mio. Euro dürfen europäische Trawler mindestens 10.000 Tonnen Tunfisch fangen und bei diesem Vorhaben in die 12-Meilenzone einfahren bis auf 6 Meilen hin zur Küste. Rechnet man die 10.000 Tonnen in einen Verkaufswert um, so repräsentieren diese einen Wert von ca. 100 Mio. € bis ca. 200 Mio. €. Die Fangrechte machen mithin nicht einmal 3 Prozent des Verkaufswertes aus. Eine solche Situation kann man getrost als Ressourcenausbeutung pur bezeichnen, bei der die kleinen Fischer in wirtschaftliche Not bugsiert werden, woraus der Wunsch entsteht, in der EU arbeiten zu können.
Ja, die EU will sich »Gerechtigkeit« kaufen und hatte seit dem ersten Assoziierungsabkommen mit der Ukraine an dieser herumgezerrt und deren wirtschaftliche Verbindungen mit Russland zu zerstören gesucht. Wir wissen, wie das ausging und wie es weiter verläuft: ein Krieg, vor dem der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt schon 2014 eindringlich gewarnt hatte.
Die Ukraine – nein, muss man dazu sagen, die wirtschaftlichen Akteure dort, denn nirgends gibt es eine einheitliche Volksidentität – zielt auf den Geldsegen ab. Es handelt sich um die verschiedenen Oligarchen und inzwischen um die Agrarkonzerne, die sich Millionen Hektar besten Ackerlandes einverleibt, sprich: gekauft haben. Die Bevölkerung erlebt dort einerseits einen Luftkrieg und andererseits die Massaker in den Schützengräben und in Panzern an der Front. Sie sind die Opfer, die dem geopolitischen Streben und den Milliardengeschenken dargebracht werden sollen. Die Opfer werden von einem möglichen späteren Wohlstand und von allen »Werten« unserer Gesellschaft nichts mehr haben können und allenfalls in Gedenktafeln einen letzten Platz finden, auch wenn Stücke und Teile von ihnen irgendwo an der Front herumliegen. Wie schön wäre doch eine Welt, in der man solche Helden nicht benötigte, sondern die »Helden« der Verständigung und des friedlichen Zusammenlebens mit den Nachbarn.
Die »Alte Dame« bei Dürrenmatt suchte »Gerechtigkeit«? Nein! Sie wollte ein Menschenopfer und Rache. Unsere heutige alte Dame sieht die hunderttausend Opfer, die die ukrainische Bevölkerung für einen Stellvertreterkrieg erbringt und lächelt. Eine zynische Ordnung des Geldes geht über die verstümmelten Leiber hinweg. Seit Generationen wurde der Imperialismus, ob als offener oder getarnter, auf Blut aufgebaut.
Wie lautete einst das Lied der Arbeiterbewegung: »Brüder zur Sonne zur Freiheit«? Vertrau auf keinen Kaiser, Gott oder Tribun. Heute müsste man hinzusetzen, vertraue auch nicht auf die EU, denn aus dem Elend sich zu befreien, das müssen die Ausgebeuteten schon selber tun.
P.S. Ukraine hat lange »anschreiben« lassen. Vom IWF sind bereits 144 Mrd. Dollar an Krediten geflossen.