Die Truppen, die 1994 Deutschland in Richtung Russland endgültig verließen, waren fast fünf Jahrzehnte an der Grenzlinie zweier Weltsysteme stationiert. Sie hatten hier gedient als Besatzungsmacht, weil und nachdem sie ihr Land von räuberischen Barbaren befreit hatten, weil sie mit gutem Grund Reparationen verlangen konnten und überdies eine große Aufgabe zu erfüllen hatten: zu garantieren, dass vom Boden dieses Aggressors kein erneuter Krieg ausginge. Die Gründe waren denen ihrer Verbündeten gleich, das muss immer wieder gesagt werden; mit den westlichen Alliierten war ihr Hier-Sein in der Anti-Hitler-Koalition abgesprochen und vertraglich festgelegt worden. Siehe dazu das Potsdamer Abkommen mit seinen vier »De«s: Demilitarisierung, Denazifizierung, Dezentralisierung, Demokratisierung. Mit dem Abzug der Truppen neigte sich eine jahrzehntelange Periode Europas ohne Krieg dem Ende entgegen. Fünf Jahre später wurde Belgrad von der Bundeswehr im Nato-Verbund bombardiert.
Dies Gesagte war zu hören im ersten Teil von Wolfram Adolphis Vortrag über den Abzug der (ex)sowjetischen Streitkräfte, Untertitel: Gründe, Hoffnungen, Irrtümer, Wirkungen. Am Ende des Vortrags stand die lapidare Mitteilung: Der Abzug der 340.000 Sowjetsoldaten habe seinen Preis gehabt. Aus den zunächst geforderten 18,5 Milliarden DM seien schließlich »die von (Kanzler) Kohl angeblich im Kaukasus, aber zuvor in Moskau ausgehandelten 15 Milliarden DM« geworden. (Echt kaufmännisch gefeilscht. Kanzlerberater Horst Teltschik sagte im Interview, auch das 6fache wäre vertretbar gewesen.)
Der Vortragssaal in Berlin-Friedrichshain war zur Überraschung der Veranstalter bis zum letzten Platz gefüllt. Eingeladen hatte der Arbeitskreis 8. Mai im Bundesverband Deutscher West-Ost-Gesellschaften. Brigitte Großmann, die Arbeitskreis-Sprecherin und Autorin eines Fotobuches Freunde zum Anfassen, erwähnte eingangs die weltpolitische Seite des Themas. Genau darum ging es dem Referenten Adolphi – er wurde als China-Fachmann, Politikwissenschaftler und Romanautor vorgestellt –, der den Bogen von 1941 bis zur Gegenwart spannte.
Mittelteil seines Vortrags: Hoffnungen und Irrtümer. Die Hoffnung auf Überwindung der Blockkonfrontation erhielt Auftrieb, als Moskau die Sicherheitsarchitektur eines gemeinsamen Hauses Europa zum Programm erhob und den Rückzug aller Truppen auf sowjetisches Territorium einleitete. Die Auflösung des Ostblocks, des Warschauer Vertrages war eine beispiellose Tat, eine wirkliche Zeitenwende. Die zur Schau gestellte Freundlichkeit der Politiker des Nordatlantikpaktes (der sich nicht auflöste) verstärkte die Annahme, dass jetzt alle Aggressivität enden, dass alles friedlich würde. Das stellte sich als Irrtum heraus. Russlands Irrtum. Es verzichtete für lange Zeit darauf, Einfluss auf das Weltgeschehen zu nehmen. Höhnisch titulierte man es in Washington als Regionalmacht.
Der Irrtum des Nato-Westens bestand darin zu glauben, dass die Schwäche Russlands »ewig« sein würde. Das war eine Unterschätzung des geopolitischen Gewichts Russlands und seiner Fähigkeit, sich dessen nach der Niedergangsperiode Jelzin wieder zu besinnen. Trotz Truppenabzugs sieht sich Russland als Siegermacht im Weltkrieg. »Welchen Grund sollte es dafür geben, dies nicht zu tun«, fragte Adolphi. »Die Tatsache etwa, dass das alles der Regierung der Bundesrepublik Deutschland nicht gefällt? Der deutschen Regierung? Ausgerechnet?« Sarkastisch fuhr Adolphi fort: Das im zweiten Weltkrieg besiegte Deutschland »wählt den ›richtigen‹ Sieger aus, identifiziert sich mit dessen Interessen und spricht dem ›falschen‹ alle eigenen Interessen ab«.
Russland erfüllte seine sämtlichen Vertragsverpflichtungen, wurde übervorteilt, gedemütigt und auch noch dämonisiert. Das war’s dann. Der Geist der Scholz’schen Zeitenwende ist entgegengesetzt dem Geist des Truppenabzugs. Es gibt keinen hoffnungsvollen Schluss. Eine düstere Ahnung des Dramatikers Volker Braun, 1994 im Arbeitsbuch notiert, zitierte Adolphi: »Die gesonderte verabschiedung der russischen streitkräfte war eine stille kriegserklärung an russland. Die westalliierten, die im 2. weltkrieg zögernd die zweite front eröffneten, sind im 3. auf deutscher seite.«
Der Text von Wolfram Adolphis Vortrag ist auf der Homepage des Arbeitskreises nachlesbar: ak8mai.bdwo.de.