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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der beispiellose Rückzug

Die Trup­pen, die 1994 Deutsch­land in Rich­tung Russ­land end­gül­tig ver­lie­ßen, waren fast fünf Jahr­zehn­te an der Grenz­li­nie zwei­er Welt­sy­ste­me sta­tio­niert. Sie hat­ten hier gedient als Besat­zungs­macht, weil und nach­dem sie ihr Land von räu­be­ri­schen Bar­ba­ren befreit hat­ten, weil sie mit gutem Grund Repa­ra­tio­nen ver­lan­gen konn­ten und über­dies eine gro­ße Auf­ga­be zu erfül­len hat­ten: zu garan­tie­ren, dass vom Boden die­ses Aggres­sors kein erneu­ter Krieg aus­gin­ge. Die Grün­de waren denen ihrer Ver­bün­de­ten gleich, das muss immer wie­der gesagt wer­den; mit den west­li­chen Alli­ier­ten war ihr Hier-Sein in der Anti-Hit­ler-Koali­ti­on abge­spro­chen und ver­trag­lich fest­ge­legt wor­den. Sie­he dazu das Pots­da­mer Abkom­men mit sei­nen vier »De«s: Demi­li­ta­ri­sie­rung, Den­a­zi­fi­zie­rung, Dezen­tra­li­sie­rung, Demo­kra­ti­sie­rung. Mit dem Abzug der Trup­pen neig­te sich eine jahr­zehn­te­lan­ge Peri­ode Euro­pas ohne Krieg dem Ende ent­ge­gen. Fünf Jah­re spä­ter wur­de Bel­grad von der Bun­des­wehr im Nato-Ver­bund bombardiert.

Dies Gesag­te war zu hören im ersten Teil von Wolf­ram Adol­phis Vor­trag über den Abzug der (ex)sowjetischen Streit­kräf­te, Unter­ti­tel: Grün­de, Hoff­nun­gen, Irr­tü­mer, Wir­kun­gen. Am Ende des Vor­trags stand die lapi­da­re Mit­tei­lung: Der Abzug der 340.000 Sowjet­sol­da­ten habe sei­nen Preis gehabt. Aus den zunächst gefor­der­ten 18,5 Mil­li­ar­den DM sei­en schließ­lich »die von (Kanz­ler) Kohl angeb­lich im Kau­ka­sus, aber zuvor in Mos­kau aus­ge­han­del­ten 15 Mil­li­ar­den DM« gewor­den. (Echt kauf­män­nisch gefeilscht. Kanz­ler­be­ra­ter Horst Telt­schik sag­te im Inter­view, auch das 6fache wäre ver­tret­bar gewesen.)

Der Vor­trags­saal in Ber­lin-Fried­richs­hain war zur Über­ra­schung der Ver­an­stal­ter bis zum letz­ten Platz gefüllt. Ein­ge­la­den hat­te der Arbeits­kreis 8. Mai im Bun­des­ver­band Deut­scher West-Ost-Gesell­schaf­ten. Bri­git­te Groß­mann, die Arbeits­kreis-Spre­che­rin und Autorin eines Foto­bu­ches Freun­de zum Anfas­sen, erwähn­te ein­gangs die welt­po­li­ti­sche Sei­te des The­mas. Genau dar­um ging es dem Refe­ren­ten Adol­phi – er wur­de als Chi­na-Fach­mann, Poli­tik­wis­sen­schaft­ler und Roman­au­tor vor­ge­stellt –, der den Bogen von 1941 bis zur Gegen­wart spannte.

Mit­tel­teil sei­nes Vor­trags: Hoff­nun­gen und Irr­tü­mer. Die Hoff­nung auf Über­win­dung der Block­kon­fron­ta­ti­on erhielt Auf­trieb, als Mos­kau die Sicher­heits­ar­chi­tek­tur eines gemein­sa­men Hau­ses Euro­pa zum Pro­gramm erhob und den Rück­zug aller Trup­pen auf sowje­ti­sches Ter­ri­to­ri­um ein­lei­te­te. Die Auf­lö­sung des Ost­blocks, des War­schau­er Ver­tra­ges war eine bei­spiel­lo­se Tat, eine wirk­li­che Zei­ten­wen­de. Die zur Schau gestell­te Freund­lich­keit der Poli­ti­ker des Nord­at­lan­tik­pak­tes (der sich nicht auf­lö­ste) ver­stärk­te die Annah­me, dass jetzt alle Aggres­si­vi­tät enden, dass alles fried­lich wür­de. Das stell­te sich als Irr­tum her­aus. Russ­lands Irr­tum. Es ver­zich­te­te für lan­ge Zeit dar­auf, Ein­fluss auf das Welt­ge­sche­hen zu neh­men. Höh­nisch titu­lier­te man es in Washing­ton als Regionalmacht.

Der Irr­tum des Nato-Westens bestand dar­in zu glau­ben, dass die Schwä­che Russ­lands »ewig« sein wür­de. Das war eine Unter­schät­zung des geo­po­li­ti­schen Gewichts Russ­lands und sei­ner Fähig­keit, sich des­sen nach der Nie­der­gangs­pe­ri­ode Jel­zin wie­der zu besin­nen. Trotz Trup­pen­ab­zugs sieht sich Russ­land als Sie­ger­macht im Welt­krieg. »Wel­chen Grund soll­te es dafür geben, dies nicht zu tun«, frag­te Adol­phi. »Die Tat­sa­che etwa, dass das alles der Regie­rung der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land nicht gefällt? Der deut­schen Regie­rung? Aus­ge­rech­net?« Sar­ka­stisch fuhr Adol­phi fort: Das im zwei­ten Welt­krieg besieg­te Deutsch­land »wählt den ›rich­ti­gen‹ Sie­ger aus, iden­ti­fi­ziert sich mit des­sen Inter­es­sen und spricht dem ›fal­schen‹ alle eige­nen Inter­es­sen ab«.

Russ­land erfüll­te sei­ne sämt­li­chen Ver­trags­ver­pflich­tun­gen, wur­de über­vor­teilt, gede­mü­tigt und auch noch dämo­ni­siert. Das war’s dann. Der Geist der Scholz’schen Zei­ten­wen­de ist ent­ge­gen­ge­setzt dem Geist des Trup­pen­ab­zugs. Es gibt kei­nen hoff­nungs­vol­len Schluss. Eine düste­re Ahnung des Dra­ma­ti­kers Vol­ker Braun, 1994 im Arbeits­buch notiert, zitier­te Adol­phi: »Die geson­der­te ver­ab­schie­dung der rus­si­schen streit­kräf­te war eine stil­le kriegs­er­klä­rung an russ­land. Die west­al­li­ier­ten, die im 2. welt­krieg zögernd die zwei­te front eröff­ne­ten, sind im 3. auf deut­scher seite.«

Der Text von Wolf­ram Adol­phis Vor­trag ist auf der Home­page des Arbeits­krei­ses nach­les­bar: ak8mai.bdwo.de.