»Der Bau« ist im November/Dezember 1923 in Berlin entstanden, ein halbes Jahr vor Kafkas Tod. Der Dichter hatte sich von seiner Heimatstadt Prag gelöst (»das Mütterchen Prag hat Krallen«, konstatierte er), lebte zum ersten Mal mit einer Frau zusammen, der polnischen Jüdin Dora Diamant, und verbrachte hier in Berlin – bereits im Angesicht des Todes – die wohl glücklichste Zeit seines Lebens. Der längste Text, den er in Berlin schrieb, hat dann von seinem Freund und Nachlassverwalter Max Brod den Titel »Der Bau« erhalten. Diese Erzählung ist ein Modellfall für die gleitende, prozessierende Metapher der Erzählweise Kafkas mit ihren ineinander übergehenden Veränderungen.
Sie ist als Fabel und Parabel gelesen worden, hinter deren sinnlichen Bildern und Vorgängen sich ein anderer, tieferer Sinn verbirgt, der gleichfalls der Entschlüsselung und »Auslegung« bedarf. Man hat sie als Paradoxie verstanden, als Allegorie oder – genauer gesagt – als allegorischen Sinnentzug angesehen, der die Gestalten und Dinge verschwimmen lässt und ihnen den Boden wegzieht. Oder müsste sie doch eher als eine ins Paranoide gehende Angstgeschichte, als eine mit autobiographischen Signalen versehene Künstlergeschichte oder überhaupt als ein Werk selbsttherapeutischer Überlebenskunst gedeutet werden? Auch wenn man bei den vielen unabgeschlossenen Texten Kafkas über die fehlenden handschriftlichen Manuskriptseiten verfügen würde, so wäre deshalb die Ratlosigkeit diesem Text wie auch anderen Texten des Dichters gegenüber kaum geringer.
In dieser Erzählung spricht ein dachsartiges Tier – könnte es auch ein Maulwurf sein? – von seinem »wohlgelungenen« Bau, seinen verdeckten Ein- und Ausgängen, seinen Schein-Eingängen, Plätzen, Räumen, Vorratskammern, seinen Labyrinthen und Burgwällen, seinem Gefühl der Sicherheit, das der Bau vermitteln soll. Aber immer unsicherer erscheint dem Leser dieses Bau-Tier, immer unersättlicher in seiner Sicherheits-Gier, immer verwundbarer in seinen Sicherheitsvorkehrungen, bis dann auch vom »Zischen« eines großen Feindes die Rede ist, der dem nach totaler Sicherheit strebenden Tier zur existentiellen Gefährdung wird. Der Bau ist sozusagen die Chiffre des Menschen, der sich seine Existenz schafft, sie zu seinem Gesetz macht, mit dieser sich aber selbst bedroht. Den Entfremdungsprozess der modernen Gesellschaft hat Kafka schon früh durchschaut und nicht nur als Spannung zwischen dem Einzelnen und der Welt, dem »Ich« und dem »Man«, sondern auch im »Ich« selbst empfunden. Gesucht wird die Lücke in dem unaufhörlichen Gerede des erzählenden, reflektierenden Ichs, des Bau-Tieres, der Ausgang aus einem Labyrinth, das sich in ständigen Suchbewegungen immer weiter ausbaut, um ein Ende des unablässigen Überlegens und Argumentierens in einer Gewissheit, ein Ende der Angst im »Bau« zu erreichen. So wird Kafkas Schreiben wie unser Lesen immer wieder in schwindelerregende »Zirkel« und Kreise gedreht, und wenn überhaupt, dann bieten doch wieder nur die rätselhaften Figuren, wie hier das Bau-Tier, einen gewissen Halt. Diese Kette sich ständig erneuernder Überlegungen, Verzögerungen, Täuschungen, bei deren Darstellung die Feder des Autors sich selbständig gemacht zu haben scheint, der Finten, die erst in der strategischen Gesamtkomposition dieses Erzählens zu ihrem Recht kommen – das wird hier zum spannenden Lektüre-Erlebnis. Aber eben der Umschlag des jeweils Erwarteten ins Unerwartete erfolgt dann eben nicht. Dieses Nicht-zur-Sache-Kommen, dieses Umschweifige, Ausschweifende, Umwegige, das Vorbeireden macht Kafkas Erzählen der wechselnden Perspektiven aus. Sollte sich aus der Anordnung der einzelnen »Bauelemente« dann wirklich ein Bauprinzip ergeben, so gewiss keines, bei dem in den mannigfaltigen Interpretationen Übereinstimmung bestehen könnte.
Denn verschiedene Kontext-Welten haben mögliche Bedeutungen des »Baues« nahegelegt. So kann es hier ganz existenziell um Sorge und Vorsorge gehen, aber auch um den Schutz gegen Feinde und Naturgewalten. Aber handelt es sich nicht auch um ein depressives Zwangsverhalten und altruistisches Eigen-Interesse dieses Tieres, oder könnte es sich nicht, gerade auf den letzten Lebensabschnitt des von Lungentuberkulose und Hustenanfällen gepeinigten Kafka bezogen, um die Bedrohung durch Krankheit und Tod handeln? Ist mit dem »Bau« nicht das schriftstellerische Werk Kafkas gemeint, wird nicht in dem sich ständig verheddernden, aber doch rational durchdrungenen Grübeln dieses Ich-Erzählers, des Tieres, Kafkas Erzählkonzept transparent?
Ja, die Sorge des Bau-Tieres um Schutz und Geborgenheit nimmt in seiner psychopathologischen, verbohrten Grübelei den Charakter zwanghafter Absicherung an. Die absolute Sicherheit bestünde im Graben eines »Grabes« ohne Ausgang (welch eine Paradoxie!); doch das »Loch« der neurotischen Angst kann nicht verschlossen werden. Das Tier ist in einem unlösbaren Dilemma: Je mehr es sich um »Stille«, »Ruhe«, »Alleinsein« und »Schutz« bemüht, desto geräuschvoller, unruhiger, gefährdeter erscheint sein »Bau« durch dieses bedrohliche »Zischen«. Es könnte vielleicht – so Kafka – von »einer großen Herde kleiner Tiere« oder von einem einzelnen »großen Tier« herrühren. Das wird nun zur Allegorie der Angst, welche überhaupt Grund und Resultat des zwanghaften Bauens ist. So gräbt sich das dachsähnliche Tier sein »Grab« in die Erde, denn durch seine Abwehr und seine Verdrängungen wird ja Leben vernichtet und Tod hervorgerufen. »Aufschub« bedeutet hier nichts anderes als eben eine Art »Sterben«. Im Namen der Rettung und des Schutzes des Lebens führt jeder Schritt paradoxerweise zur Gefährdung und Einschränkung ebendieses Lebens. Das Bauen nimmt daher den Charakter eines Kampfes zwischen Leben und Tod, eines Kampfes um den Aufschub des vermeidbar geglaubten und doch so gewissen, unvermeidlichen Endes an.
Wenn man das »Zischen« mit Kafkas Lungenhusten assoziiert, dann könnte dieser unbekannte Gegner durchaus auch die Krankheit und der Tod sein. Es geht um ein Tier, das »ich noch nicht kenne«, oder »eine große Herde kleiner Tiere«, also vielleicht Mikroorganismen, Mikroben wie Bakterien oder Viren. Doch die Gefahr wird »verdrängt«, sie wird im Sinne des Psychoanalytikers Sigmund Freud »verleugnet«, also sowohl anerkannt als auch abgewehrt: Das Tier gräbt verzweifelt – und doch glaubt es »im Grunde nicht« an ein böses Ende. Der Gegner wohnt im Inneren; daher hört das Tier auch am Ende außerhalb seines Baues »tiefe Stille«, in seinem Bau hingegen herrscht Unruhe, das so uneindeutige »Zischen«. Dennoch bleibt dieser Gegner ein »Anderer« – sei es im Innern, sei es im Äußern. Der äußere Feind ist durch den inneren, durch Zwang und Angst, ersetzt worden, ist Symptom, Krankheit und auch – allerdings nur scheinbar – Heilung geworden. Das ist die gleitende Metapher, die zu Vexierbildern, zu Bildverzerrungen führt, die jenen »Zirkel von Drinnen und Draußen« ergibt, die Innenbestimmtheit des Außen und die Außenbestimmtheit des Innen, wie sie als charakteristisch für Kafkas Erzählwelt angesehen wird.
Immer wieder verbindet sich diese gleitende Metapher mit der Paradoxie; so wird der Bau der Sicherheit schließlich zum Bau der Unsicherheit, was er von Anfang an war. Das Unbewusste tritt in Widerspruch zum Bewussten. Der Bau scheint »wohlgelungen« und ist doch missraten. Das höchste Ziel des Baues sollte seine »Stille« sein, doch nun hat das Tier keine »ruhige Stunde« mehr, besonders, sobald vom »Zischen« die Rede ist. Jetzt herrscht nur mehr außerhalb des Baues »tiefe Stille«. Das Draußen, der eigentliche »Ort der Gefahr ist ein Ort des Friedens« geworden. Soll das Tier nun zurückkehren in die »sinnlose Freiheit«, vor der es ja geflohen war?
Die gleitende Metapher – so ist in der Kafka-Forschung ermittelt worden – verbindet sich also dort, wo ihre Bedeutungen einander mehr und mehr widersprechen, mit der gleitenden Paradoxie; aber auch jene Doppel-Metapher, die ständige Verwandlung dieses Zirkels von Innen und Außen ist hier wieder klar erkennbar. Die Kafka’schen Grundfiguren verschränken sich ineinander. In den Romanfragmenten »Der Prozess« und »Das Schloss« ist jener prozesshafte, gleitende und paradoxe Zeichenprozess in großem Maßstab inszeniert worden.
So kann man den »Bau«, den der todkranke Kafka noch zu schreiben vermochte, wohl als sein Vermächtnis bezeichnen. Trotz seines frühen Todes mit 41 Jahren erreichte sein Werk – allerdings erst Jahrzehnte später – Weltwirkung. Tatsächlich heißt es im ersten Satz, der Bau sei »wohlgelungen«, und im vorletzten »aber alles blieb unverändert«. Kafkas Bau ist eben nicht von einem unsichtbaren Feind zerstört worden, sondern lebt mit uns, lebt vielleicht sogar in uns fort.