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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Alte kannte sich aus

Braucht es ein Buch, das der Mensch­heit einen alter­na­tiv­lo­sen Vor­schlag unter­brei­tet, wie sie sich vor dem Unter­gang ret­ten soll? Näch­ste Fra­ge: Darf die­ses Buch sich in der Haupt­sa­che auf die Ideen eines ein­zel­nen Men­schen stüt­zen? Aller guten Fra­gen sind drei: Soll­te die­ser Mensch aus­ge­rech­net Karl Marx sein, der erstens ein­hun­dert­fünf­zig Jah­re tot ist und zwei­tens der Lieb­lings­au­tor unter ande­rem meh­re­rer mas­sen­mör­de­ri­scher Dik­ta­to­ren? Die Ant­wort auf die drei Fra­gen lau­tet: Ja, das Buch »System­sturz« von Kohei Sai­to brau­chen wir drin­gend. Der Autor, ein jun­ger japa­ni­scher Phi­lo­soph, ist Marx­for­scher, Mit­her­aus­ge­ber der MEGA und hat in Spät­schrif­ten des sozia­li­sti­schen Klas­si­kers nicht weni­ger ent­deckt als ein zwei­tes Gesell­schafts­mo­dell, mit dem Marx »Das Kapi­tal« und sei­ne frü­he­ren Schrif­ten zurück­ge­nom­men hät­te, wäre er dafür nicht zu alt gewe­sen – und zu gut bewacht von Engels und den Marxisten.

»Der Sieg der Natur über den Kapi­ta­lis­mus« heißt Sai­tos Buch im Unter­ti­tel, und die Natur ist sein wich­tig­ster Prot­ago­nist. Da ihre Res­sour­cen begrenzt sind, da ihr beleb­ter Teil vom Kli­ma­wan­del in sei­nem Fort­be­stand bedroht wird, hält Sai­to es für tod­brin­gend, an dem System fest­zu­hal­ten, das die Bedro­hung her­vor­ge­bracht hat und sie jeden Tag unab­wend­ba­rer macht durch sein Dog­ma, das Wirt­schafts­wachs­tum. »Wer in einer Welt begrenz­ter Res­sour­cen an expo­nen­ti­el­les Wachs­tum glaubt, ist ent­we­der ver­rückt oder Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler«, soll der Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Ken­neth E. Boul­ding gesagt haben. Der japa­ni­sche Phi­lo­soph beginnt sei­nen Gedan­ken­gang damit, die öko­no­mi­schen Denk­schu­len der Gegen­wart vor­zu­stel­len und ihre Kon­zep­te nach­ein­an­der als untaug­lich zur Bewäl­ti­gung der Kli­ma­kri­se zu ver­wer­fen. Nicht nur der Neo­li­be­ra­lis­mus, auch eine »Donut-Öko­no­mie« oder ein Kli­ma-Keyne­sia­nis­mus, wie euro­päi­sche Leser ihn vom »Green New Deal« der EU her ken­nen, füh­re bei Erfolg zu immer wei­te­rem Wachs­tum der Waren­pro­duk­ti­on, der Roh­stoff­ex­trak­ti­on und damit im Welt­maß­stab auch der Kli­ma­gas­emis­si­on. Das Pro­blem wer­de etwa durch »sau­be­re« E-Autos nicht gelöst, die nur in wohl­ha­ben­den Län­dern fah­ren und das Lithi­um für ihre Bat­te­rien von den glo­ba­len Armen­häu­sern bezie­hen, die dafür ihre Lebens­grund­la­gen zer­stö­ren. »Aus­la­ge­rung« der Pro­ble­me vom Zen­trum in die Peri­phe­rie erkann­te Marx früh als ein Grund­prin­zip des Kapitalismus.

Bis zur Ver­öf­fent­li­chung von »Das Kapi­tal. Erster Band« (1867) hing Marx, nach Sai­to, der Vor­stel­lung an, dass eine uni­li­nea­re Ent­wick­lungs­ten­denz die Mensch­heit zur Aus­bil­dung des Kapi­ta­lis­mus füh­re und dass nur von dort aus eine Ver­ge­sell­schaf­tung der Wirt­schaft erfol­gen kön­ne. Der »histo­ri­sche Mate­ria­lis­mus« band sich inso­fern an genau die­je­ni­ge Ent­fes­se­lung der Pro­duk­tiv­kräf­te, die den Pla­ne­ten unbe­wohn­bar macht. Die »mar­xi­sti­schen« Expe­ri­men­te der UdSSR und Chi­nas bestä­ti­gen das Junk­tim. Kri­tik kam früh von Anar­chi­sten wie Gustav Land­au­er: »Der Vater des Mar­xis­mus ist der Dampf. Alte Wei­ber pro­phe­zei­en aus dem Kaf­fee­satz. Karl Marx pro­phe­zei­te aus dem Dampf.«

Die Fra­ge der rus­si­schen Sozia­li­stin Wera Sas­su­lit­sch, ob Russ­land denn kei­ne Abkür­zung zur Revo­lu­ti­on neh­men kön­ne, die ihm den Kapi­ta­lis­mus erspa­re, brach­te Marx ins Grü­beln. Sein spä­ter Brief an die Genos­sin, dazu Exzerp­te und Noti­zen, die noch unver­öf­fent­licht und nur weni­gen For­schern bekannt sind, zei­gen, dass der gründ­lich­ste Ken­ner des Kapi­tals sich im Alter um ein grö­ße­res Bild bemüh­te, in dem das Ver­hält­nis des Men­schen zur Natur die Haupt­rol­le spielt. Ange­regt von den Stu­di­en des Chemikers

Justus von Lie­big über den »Raub­bau« der indu­stria­li­sier­ten Land­wirt­schaft an ihrer wich­tig­sten Res­sour­ce, dem Boden, sowie des Agrar­wis­sen­schaft­lers Carl Fraas, der den Unter­gang anti­ker Zivi­li­sa­tio­nen auf deren Abhol­zungs­po­li­tik und nach­fol­gen­de Umwelt­kri­sen zurück­führ­te, ent­deck­te Marx »einen unheil­vol­len Riss (…) in dem Zusam­men­hang des gesell­schaft­li­chen und natür­li­chen (…) Stoff­wech­sels«. Fort­an setz­te er vor allem auf Gemein­schaf­ten, die sich ein nach­hal­ti­ges, mit der Natur im Ein­klang ste­hen­des Wirt­schaf­ten hat­ten bewah­ren kön­nen, wie die rus­si­sche Land­ge­mein­de oder in frü­he­ren Zei­ten die ger­ma­ni­sche Mark­ge­nos­sen­schaft. Inter­es­sant vor die­sem Hin­ter­grund ist, dass Sai­to auch im »Kapi­tal« und frü­he­ren Schrif­ten zei­gen kann, wie die »Asso­zia­ti­on«, die freie Ver­bin­dung von Pro­du­zen­ten, für Marx das Grund­prin­zip des Sozia­lis­mus dar­stellt, den er anstrebt.

Kon­se­quent for­dert Sai­to als Lösung aus der mensch­li­chen Exi­stenz­kri­se den Zusam­men­schluss von Pro­du­zie­ren­den zu Genos­sen­schaf­ten, die Umori­en­tie­rung weg vom Waren­wert, hin zum Gebrauchs­wert und zur Natur­ver­träg­lich­keit des­sen, was pro­du­ziert wird. Den Zusam­men­halt und die Über­le­bens­kräf­te der Zivil­ge­sell­schaft zu trai­nie­ren, hält er auch ange­sichts des­sen für sinn­voll, was an poli­ti­schen Alter­na­ti­ven droht. Kli­ma-Faschis­mus, Kli­ma-Mao­is­mus oder Bar­ba­rei (qua­si hai­tia­ni­sche Ver­hält­nis­se) sieht Sai­to als die drei Model­le, die bereit­stün­den, den libe­ra­len Kapi­ta­lis­mus abzu­lö­sen. Wer davon keins wol­le, dem blei­be immer noch das vom spä­ten Marx vor­ge­dach­te Kon­zept. »Degrowth-Kom­mu­nis­mus« nennt es Sai­to und postu­liert, es wer­de statt Man­gel und Dau­er­kri­se den Über­fluss brin­gen, vor­aus­ge­setzt, die Men­schen besin­nen sich auf ihre tat­säch­li­chen Bedürf­nis­se und lösen sich vom »impe­ria­len Lebens­stil«, der Anhäu­fung aller Arten von Waren, für die zuerst der glo­ba­le Süden und dann, per Kli­ma­wan­del, der ehe­dem wohl­ha­ben­de­re Rest der Welt zer­stört werden.

An der Stel­le muss ange­merkt wer­den, dass die grund­le­gen­den Ideen Sai­tos ali­as des spä­ten Marx bei anar­chi­sti­schen Theo­re­ti­kern schon aus­führ­lich vor­kom­men. Kro­pot­kins »Gegen­sei­ti­ge Hil­fe in der Ent­wick­lung« erzählt in der Haupt­sa­che von Gemein­schaf­ten, die in vor­ka­pi­ta­li­sti­scher Zeit ihre »com­mons« gegen den Zugriff von Ober­klas­sen und Staa­ten erfolg­reich ver­tei­dig­ten. Ihr Bei­spiel und das von ihnen ver­wirk­lich­te Prin­zip der Zusam­men­ar­beit sind der Aus­gangs­punkt für eine anar­chi­sti­sche Gesell­schafts­trans­for­ma­ti­on. Auch Gustav Land­au­er bezieht sich auf vor­ka­pi­ta­li­sti­sche Model­le. »Volk ist (…) etwas, das es seit Jahr­hun­der­ten nicht mehr gibt, das erst wie­der geschaf­fen wer­den muss. Volk ist eine Wirt­schafts­ge­mein­schaft. Volk ist ein Kul­tur­ver­band.« Wenn Sai­to dem Anar­chis­mus, mit dem er sich anson­sten nicht aus­ein­an­der­setzt, vor­wirft, kein Rezept zur Ver­hin­de­rung des Kli­maG­AUs zu haben, muss ent­geg­net wer­den, dass die Ver­bin­dung zwi­schen Pro­duk­ti­on und Natur im Anar­chis­mus immer eine Rol­le spiel­te, dass zudem Sai­tos Ansatz zur Ver­än­de­rung (s. o.) dem­je­ni­gen Land­au­ers ähnelt, der for­dert: »Auf dem Grun­de des Pro­duk­ti­ons- und Zir­ku­la­ti­ons­pro­zes­ses müs­sen sich die Men­schen zusam­men­fin­den, zusam­men­wach­sen zu einem Gebil­de, zu einer Zusam­men­ge­hö­rig­keit, zu einem Orga­nis­mus mit unzäh­li­gen Orga­nen und Glie­de­run­gen. Nicht im Staat wird der Sozia­lis­mus Wirk­lich­keit wer­den, son­dern drau­ßen, außer­halb des Staa­tes, zunächst, solan­ge die­se über­al­ter­te Albern­heit, die­ser orga­ni­sier­te Über­griff, die­ser Rie­sen­töl­pel noch besteht, neben dem Staat.«

Der Degrowth-Kom­mu­nis­mus weist also deut­li­che Über­schnei­dun­gen mit dem Anar­chis­mus auf. Ähn­li­ches gilt für die neue­ren Arbei­ten von Tho­mas Piket­ty und Sla­voj Žižek, denen Sai­to eben­falls nahe­steht. Was wür­de auch ein Befund wie, dass jeder das Gegen­teil von jedem will und nur Kohei Sai­to das Rich­ti­ge, an Hoff­nung übrig­las­sen, dass irgend­et­was aus die­sem Buch folgt? Aka­de­mi­sche Eitel­keit und »Meisterdenker«-Allüren füh­ren zu nichts, sie sind Sai­to gott­lob fremd. Das Buch ist ein­fach, fak­ten­reich und didak­tisch geschrie­ben, will, dass so schnell, wie es geht, so viel Anti­ka­pi­ta­lis­mus wie mög­lich pas­siert auf der Welt. Denn die Zeit läuft ab. Dar­auf weist der Autor immer wie­der hin. Und die Eine-Mil­li­on-Euro-Fra­ge löst sein Buch auch nicht: Wie, kon­kret, besie­gen wir die Giga­ver­mö­gen, ent­eig­nen sie, been­den ihre Macht und damit das alles zer­stö­ren­de Wirtschaftswachstum?

 Kohei Sai­to: System­sturz. Der Sieg der Natur über den Kapi­ta­lis­mus. Aus dem Japa­ni­schen von Gre­gor Wakounig, dtv, Mün­chen 2023, 316 S., 14 €.