Braucht es ein Buch, das der Menschheit einen alternativlosen Vorschlag unterbreitet, wie sie sich vor dem Untergang retten soll? Nächste Frage: Darf dieses Buch sich in der Hauptsache auf die Ideen eines einzelnen Menschen stützen? Aller guten Fragen sind drei: Sollte dieser Mensch ausgerechnet Karl Marx sein, der erstens einhundertfünfzig Jahre tot ist und zweitens der Lieblingsautor unter anderem mehrerer massenmörderischer Diktatoren? Die Antwort auf die drei Fragen lautet: Ja, das Buch »Systemsturz« von Kohei Saito brauchen wir dringend. Der Autor, ein junger japanischer Philosoph, ist Marxforscher, Mitherausgeber der MEGA und hat in Spätschriften des sozialistischen Klassikers nicht weniger entdeckt als ein zweites Gesellschaftsmodell, mit dem Marx »Das Kapital« und seine früheren Schriften zurückgenommen hätte, wäre er dafür nicht zu alt gewesen – und zu gut bewacht von Engels und den Marxisten.
»Der Sieg der Natur über den Kapitalismus« heißt Saitos Buch im Untertitel, und die Natur ist sein wichtigster Protagonist. Da ihre Ressourcen begrenzt sind, da ihr belebter Teil vom Klimawandel in seinem Fortbestand bedroht wird, hält Saito es für todbringend, an dem System festzuhalten, das die Bedrohung hervorgebracht hat und sie jeden Tag unabwendbarer macht durch sein Dogma, das Wirtschaftswachstum. »Wer in einer Welt begrenzter Ressourcen an exponentielles Wachstum glaubt, ist entweder verrückt oder Wirtschaftswissenschaftler«, soll der Wirtschaftswissenschaftler Kenneth E. Boulding gesagt haben. Der japanische Philosoph beginnt seinen Gedankengang damit, die ökonomischen Denkschulen der Gegenwart vorzustellen und ihre Konzepte nacheinander als untauglich zur Bewältigung der Klimakrise zu verwerfen. Nicht nur der Neoliberalismus, auch eine »Donut-Ökonomie« oder ein Klima-Keynesianismus, wie europäische Leser ihn vom »Green New Deal« der EU her kennen, führe bei Erfolg zu immer weiterem Wachstum der Warenproduktion, der Rohstoffextraktion und damit im Weltmaßstab auch der Klimagasemission. Das Problem werde etwa durch »saubere« E-Autos nicht gelöst, die nur in wohlhabenden Ländern fahren und das Lithium für ihre Batterien von den globalen Armenhäusern beziehen, die dafür ihre Lebensgrundlagen zerstören. »Auslagerung« der Probleme vom Zentrum in die Peripherie erkannte Marx früh als ein Grundprinzip des Kapitalismus.
Bis zur Veröffentlichung von »Das Kapital. Erster Band« (1867) hing Marx, nach Saito, der Vorstellung an, dass eine unilineare Entwicklungstendenz die Menschheit zur Ausbildung des Kapitalismus führe und dass nur von dort aus eine Vergesellschaftung der Wirtschaft erfolgen könne. Der »historische Materialismus« band sich insofern an genau diejenige Entfesselung der Produktivkräfte, die den Planeten unbewohnbar macht. Die »marxistischen« Experimente der UdSSR und Chinas bestätigen das Junktim. Kritik kam früh von Anarchisten wie Gustav Landauer: »Der Vater des Marxismus ist der Dampf. Alte Weiber prophezeien aus dem Kaffeesatz. Karl Marx prophezeite aus dem Dampf.«
Die Frage der russischen Sozialistin Wera Sassulitsch, ob Russland denn keine Abkürzung zur Revolution nehmen könne, die ihm den Kapitalismus erspare, brachte Marx ins Grübeln. Sein später Brief an die Genossin, dazu Exzerpte und Notizen, die noch unveröffentlicht und nur wenigen Forschern bekannt sind, zeigen, dass der gründlichste Kenner des Kapitals sich im Alter um ein größeres Bild bemühte, in dem das Verhältnis des Menschen zur Natur die Hauptrolle spielt. Angeregt von den Studien des Chemikers
Justus von Liebig über den »Raubbau« der industrialisierten Landwirtschaft an ihrer wichtigsten Ressource, dem Boden, sowie des Agrarwissenschaftlers Carl Fraas, der den Untergang antiker Zivilisationen auf deren Abholzungspolitik und nachfolgende Umweltkrisen zurückführte, entdeckte Marx »einen unheilvollen Riss (…) in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und natürlichen (…) Stoffwechsels«. Fortan setzte er vor allem auf Gemeinschaften, die sich ein nachhaltiges, mit der Natur im Einklang stehendes Wirtschaften hatten bewahren können, wie die russische Landgemeinde oder in früheren Zeiten die germanische Markgenossenschaft. Interessant vor diesem Hintergrund ist, dass Saito auch im »Kapital« und früheren Schriften zeigen kann, wie die »Assoziation«, die freie Verbindung von Produzenten, für Marx das Grundprinzip des Sozialismus darstellt, den er anstrebt.
Konsequent fordert Saito als Lösung aus der menschlichen Existenzkrise den Zusammenschluss von Produzierenden zu Genossenschaften, die Umorientierung weg vom Warenwert, hin zum Gebrauchswert und zur Naturverträglichkeit dessen, was produziert wird. Den Zusammenhalt und die Überlebenskräfte der Zivilgesellschaft zu trainieren, hält er auch angesichts dessen für sinnvoll, was an politischen Alternativen droht. Klima-Faschismus, Klima-Maoismus oder Barbarei (quasi haitianische Verhältnisse) sieht Saito als die drei Modelle, die bereitstünden, den liberalen Kapitalismus abzulösen. Wer davon keins wolle, dem bleibe immer noch das vom späten Marx vorgedachte Konzept. »Degrowth-Kommunismus« nennt es Saito und postuliert, es werde statt Mangel und Dauerkrise den Überfluss bringen, vorausgesetzt, die Menschen besinnen sich auf ihre tatsächlichen Bedürfnisse und lösen sich vom »imperialen Lebensstil«, der Anhäufung aller Arten von Waren, für die zuerst der globale Süden und dann, per Klimawandel, der ehedem wohlhabendere Rest der Welt zerstört werden.
An der Stelle muss angemerkt werden, dass die grundlegenden Ideen Saitos alias des späten Marx bei anarchistischen Theoretikern schon ausführlich vorkommen. Kropotkins »Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung« erzählt in der Hauptsache von Gemeinschaften, die in vorkapitalistischer Zeit ihre »commons« gegen den Zugriff von Oberklassen und Staaten erfolgreich verteidigten. Ihr Beispiel und das von ihnen verwirklichte Prinzip der Zusammenarbeit sind der Ausgangspunkt für eine anarchistische Gesellschaftstransformation. Auch Gustav Landauer bezieht sich auf vorkapitalistische Modelle. »Volk ist (…) etwas, das es seit Jahrhunderten nicht mehr gibt, das erst wieder geschaffen werden muss. Volk ist eine Wirtschaftsgemeinschaft. Volk ist ein Kulturverband.« Wenn Saito dem Anarchismus, mit dem er sich ansonsten nicht auseinandersetzt, vorwirft, kein Rezept zur Verhinderung des KlimaGAUs zu haben, muss entgegnet werden, dass die Verbindung zwischen Produktion und Natur im Anarchismus immer eine Rolle spielte, dass zudem Saitos Ansatz zur Veränderung (s. o.) demjenigen Landauers ähnelt, der fordert: »Auf dem Grunde des Produktions- und Zirkulationsprozesses müssen sich die Menschen zusammenfinden, zusammenwachsen zu einem Gebilde, zu einer Zusammengehörigkeit, zu einem Organismus mit unzähligen Organen und Gliederungen. Nicht im Staat wird der Sozialismus Wirklichkeit werden, sondern draußen, außerhalb des Staates, zunächst, solange diese überalterte Albernheit, dieser organisierte Übergriff, dieser Riesentölpel noch besteht, neben dem Staat.«
Der Degrowth-Kommunismus weist also deutliche Überschneidungen mit dem Anarchismus auf. Ähnliches gilt für die neueren Arbeiten von Thomas Piketty und Slavoj Žižek, denen Saito ebenfalls nahesteht. Was würde auch ein Befund wie, dass jeder das Gegenteil von jedem will und nur Kohei Saito das Richtige, an Hoffnung übriglassen, dass irgendetwas aus diesem Buch folgt? Akademische Eitelkeit und »Meisterdenker«-Allüren führen zu nichts, sie sind Saito gottlob fremd. Das Buch ist einfach, faktenreich und didaktisch geschrieben, will, dass so schnell, wie es geht, so viel Antikapitalismus wie möglich passiert auf der Welt. Denn die Zeit läuft ab. Darauf weist der Autor immer wieder hin. Und die Eine-Million-Euro-Frage löst sein Buch auch nicht: Wie, konkret, besiegen wir die Gigavermögen, enteignen sie, beenden ihre Macht und damit das alles zerstörende Wirtschaftswachstum?
Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Aus dem Japanischen von Gregor Wakounig, dtv, München 2023, 316 S., 14 €.