Die Fischerei kennt den Begriff der Überfischung. Etwas Vergleichbares für die ländliche Jagd ist mir noch nicht begegnet. Aber es gibt den analogen Sachverhalt in den Wäldern. Die Schorfheide – mit vierzigtausend Hektar Deutschlands größtes geschlossenes Waldgebiet – hat heute nur noch zehn Prozent des einstigen Wildbestandes. Und die Pegel der meisten Gewässer im südlichen Ausläufer der Mecklenburgischen Seenplatte lagen vor einigen Jahrzehnten um etwa zwei Meter höher. An vielen Seen stehen die Stege inzwischen auf dem Trocknen.
Ulf Wosnizek holt ein Taschenmesser aus der Hosentasche. Zwei Klingen in Hirschhorn gebettet, einfach, nichts Besonderes. Er hat das Messer als Auszeichnung erhalten, als er bester Forstlehrling der DDR wurde. Um es zu schützen, steckt es in einem kleinen Lederetui. Das hat er auf dem Flohmarkt erworben. Gedacht für ein Magazin einer Walther PPK, nun steckt darin das Messer. Es hat sowohl symbolische Bedeutung als auch, noch immer, praktischen Nutzwert. Wosnizek stammt von hier. Bis 1989 war der Wald Staatsjagdgebiet, das er als Teenager durchstreifte. Jetzt ist er hier Revierförster.
Am Wegesrand erinnern güldene Lettern auf einer behauenen Klamotte daran, dass Kaiser Wilhelm II. just an dieser Stelle am 20. September 1898 seinen tausendsten Hirsch »von XX Enden« geschossen, nein, »gefällt« hat. Nicht weit entfernt liegt ein Findling mit dem schlichten Schriftzug: »Generalfeldmarschall v. Hindenburg 25.9.1932«. Der seinerzeitige Reichspräsident, der vier Monate später Hitler zum Reichskanzler berief, soll hier seinen letzten Bock in freier Natur geschossen haben. Dieses Erinnerungsmal hat augenscheinlich einen (?) Mann inspiriert, einige Hundert Meter weiter einen Stein an den Waldwegesrand zu rollen mit der Inschrift: »Mein letzter Hirsch 8.11.1989«. Wosnizek empörte die Nacht- und Nebelaktion aus verschiedenen Gründen, ließ aber den Stein liegen und veranlasste, dass daneben eine instruktive Tafel errichtet wurde mit Fotos, der »Forstkarte des Militärforstwirtschaftsbetriebes Schorfheide« und einem sachlichen Text. Der erklärt, dass hier Erich Honecker – zwanzig Tage nach seinem erzwungenen Rücktritt – seinen letzten Hirsch erlegte. Man fand das tote Tier am nächsten Tag. Welche Ironie der Geschichte: Es war der Tag, an dem auch die DDR starb. Denn mit der Öffnung der Staatsgrenze war das Ende der zweiten deutschen Republik besiegelt.
Erich Honecker war, wie es auf der Tafel heißt, 1946 zum ersten Mal in der Schorfheide. Fünfzehn Sommer später, im Jahr des Mauerbaus, erklärte er das Areal zum Staatsjagdgebiet – nicht Staats- und Parteichef Ulbricht, der, im Unterschied zu seinem Nachfolger, kein Nimrod war. Das Jagdgebiet erfuhr stete Erweiterung, am Ende war es auf über zwanzigtausend Hektar angewachsen. Etwas abseits von Groß Schönebeck, mitten in jenem Wald, befand sich das einstige Wohnhaus eines Elchwächters nebst Pferdestall, das wurde Honeckers Jagdhütte »Wildfang«.
Seit 2017 ist das Anwesen wieder verpachtet. Nach einer Phase der Nutzung durch Naturschützer stand das Haus einige Zeit leer. Die Naturwacht zog zum Bahnhof in Groß Schönebeck – Endstation der berühmten Heidekrautbahn von Berlin – und in Wildfang der übliche Vandalismus ein. Der jetzige Pächter, ein Banker mit ostdeutschen Wurzeln, renoviert nunmehr seit mehreren Jahren das Objekt mit Gespür für Geschichte und den Genius loci. Das zeigt sich nicht nur darin, dass in den bereits wiederhergestellten Räumen Gemälde von Honeckers Enkel hängen. Roberto Yáñez verbrachte seine Kindheit hier, ab und an schickt er dem neuen Bewohner Bilder aus Valparaiso. Das ist der einzige noch bestehende Kanal zur Familie in Chile, nachdem die Tochter der Honeckers, seine Mutter Sonja Yáñez, im Februar 2022 verstorben ist.
Im Unterschied zur Jagdhütte Wildfang existiert das einst nur wenige Hundert Meter entfernt gelegene Badehaus am Ufer des Großen Pinnowsees nicht mehr. Ulf Wosnizek breitet die Arme aus. Der Schilfgürtel ist nachgewachsen, wo einst ein kleiner Strand war. Das Holzhäuschen bildete die Kulisse auf einem Foto auf der ersten Seite im Neuen Deutschland vom 1. Juni 1973, ohne dass verraten wurde, um welches Anwesen es sich handelte. In der Bildunterschrift hatte es lediglich protokollarisch geheißen: »Der Erste Sekretär des ZK der SED, Erich Honecker, empfing am Donnerstagnachmittag die Vorsitzenden der SPD- und der FDP-Fraktion im Bundestag der BRD, Herbert Wehner und Wolfgang Mischnick, zum Abschluss ihres Aufenthaltes in der DDR zu einem gemeinsamen Gespräch.«
Worüber bei Kaffee und Kuchen am Ufer des Pinnowsees parliert worden war, verriet jüngst Egon Krenz im ersten Band seiner Memoiren »Aufbruch und Aufstieg 1937-1973«. »Die bundesdeutschen Medien verbreiteten später, Wehner sei wegen humanitärer Angelegenheiten in die DDR gefahren. Als Beleg dienten die sogenannten Kofferfälle. So bezeichnete man im Westen offene Ausreiseprobleme. DDR-Bürger saßen praktisch auf gepackten Koffern, und um diese Fälle zu klären, habe sich Wehner entschlossen, nach Berlin zu reisen und mit Honecker darüber zu sprechen. Das war jedoch reine Maskerade. Solche Legenden brauchte man als Westpolitiker, um sich bei DDR-Reisen nicht öffentlicher Kritik auszusetzen.« Nun, diese Praxis ist nicht aus der Mode gekommen. Wenn es heute um Krieg und Sanktionen geht, spricht man auch vorzugsweise von Menschenrechten, die es zu wahren, und von humanitären Katastrophen, die es zu verhindern gelte.
Krenz weiter: Wehner habe um Zustimmung zu dem am 21. Dezember 1972 unterzeichneten Grundlagenvertrag geworben. Dessen Ratifizierung war nämlich gefährdet. Bayerns Ministerpräsident Strauß hatte vor dem Bundesverfassungsgericht Klage gegen den Vertrag eingereicht, weil er gegen das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes verstoße. »Als Reaktion wollte die DDR mit der Ratifizierung durch die Volkskammer warten, bis Karlsruhe entschieden habe. Wehner kam mit der Bitte des Bundeskanzlers (Brandt): Nehmt das Gebaren des Bayern nicht so ernst. Ratifiziert den Vertrag trotz des Störfeuers aus München.«
Die Beteiligten des Kaffeekränzchens sind tot, die Hütte ist abgerissen und der von den Parlamenten in Bonn und in Berlin schließlich angenommene Grundlagenvertrag längst vergessen. Hat es die DDR überhaupt jemals gegeben? Über die Sache wächst Gras.
Im Gebiet liegt auch das Jagdschloss Hubertusstock. Seinen hochstapelnden Namen verdankt das Haus der Tatsache, dass es dem Kaiser, den Reichspräsidenten in der Weimarer Zeit und eben auch dem Staatsoberhaupt der DDR für repräsentative Aufgaben diente. Honecker begrüßte hier unter anderem Bundeskanzler Helmut Schmidt, Franz Josef Strauß und Berthold Beitz, den westdeutschen Wirtschaftskapitän ostdeutscher Herkunft, der häufig zum Jagen in den Osten kam. Das Gelände ist heute sehr gesichert, hinter dem Metallzaun befindet sich das Ringhotel/Tagungszentrum der Wirtschaft, das den lautmalerischen Titel trägt: Kommunikationszentrum des Bildungswerkes der Wirtschaft in Berlin und Brandenburg e. V., abgekürzt bbw.
Die Zufahrt war fest verschlossen, als ich im Lichte von übriggebliebenen DDR-Straßenlaternen den Klingelknopf drückte und Einlass begehrte. Die Dame am anderen Ende der Kameraleitung erklärte ihr Bedauern, mir nicht öffnen zu können. Selbst meine nachgeschobene Erklärung, dass ich nicht ins Haus, sondern es mir nur von außen betrachten wolle, erweichte sie nicht. Die Teilnehmer der Tagung könnten sich allein durch meine Anwesenheit auf der Objektstraße belästigt fühlen. Sie sagte tatsächlich »belästigt«. Ich Helot hatte hier also nichts verloren.
Er lebt also noch, der alte Geist von aristokratischer Siegermacht und Herrlichkeit. Ich Naivling dachte, der neue Geist der Demokratie hätte ihm den Garaus gemacht. Zumindest hier, in der Schorfheide, die doch jetzt wieder allen gehört. Angeblich. Zumindest hatte Ulf Wosnizek, der sympathische Revierförster, solches behauptet.