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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der alarmierende Rechtsruck

Ich habe mei­ne Geburt, wäh­rend der Nazi­zeit, nur dem Zufall zu ver­dan­ken, dass mei­ne jüdi­schen Eltern als Jugend­li­che, ohne ihre Her­kunfts­fa­mi­li­en, in letz­ter Minu­te nach Eng­land flie­hen konn­ten. Den­noch lei­de auch ich an einer post­trau­ma­ti­schen Bela­stungs­stö­rung. Anders kann ich mir nicht erklä­ren, dass mich die heu­ti­gen poli­ti­schen Ver­hält­nis­se fatal an die Ideo­lo­gie der Hit­le­rei erin­nern. Dies kann zu einem »Déjà-vu« auch bei nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen füh­ren, sagen Psy­cho­lo­gen, das auf einer »schwa­chen Ver­ar­bei­tung« län­ger zurück­lie­gen­der Ereig­nis­se beruht. Bei mir scheint das nicht nur auf einer »Sin­nes­täu­schung« zu basie­ren. Denn, wie ich aus vie­len Gesprä­chen mit jüdi­schen und nicht jüdi­schen Freun­den und Bekann­ten weiß, lei­den auch sie unter ähn­li­chen Irri­ta­tio­nen, und man­che den­ken sogar dar­über nach, Deutsch­land zu ver­las­sen. Natür­lich treibt uns dabei nicht die Angst vor unmit­tel­ba­ren phy­si­schen Bedro­hun­gen um, son­dern eher die Asso­zia­tio­nen an gewis­se innen- und außen­po­li­ti­sche Par­al­le­len. Der Ungeist Hit­lers scheint, als Unto­ter oder Wie­der­gän­ger, unter uns heu­te Leben­den irgend­wie wie­der auf­er­stan­den zu sein. Oder ist das alles nur eine poli­ti­sche Fata Morgana?

Wie ist es aber zu erklä­ren, dass, trotz zuneh­men­der Straf­ta­ten gegen Aus­län­der und Juden, vie­le Deut­sche mit den Rech­ten sym­pa­thi­sie­ren und AfD wäh­len? Sie sagen zwar nicht mehr »Die Juden sind unser Unglück«, aber doch »Deutsch­land, den Deut­schen – Aus­län­der raus!« Das klingt so, wie: »Aus­län­der sind unser Unglück«? Und eini­ge ganz Radi­ka­le träum­ten wohl unlängst davon, Mil­lio­nen davon nach Afri­ka in Inter­nie­rungs­la­ger zu »remi­grie­ren«. Aber auch die herr­schen­de poli­ti­sche Klas­se bemüht sich ver­stärkt um »Abschie­bun­gen« – was für ein ver­rä­te­ri­scher Ter­mi­nus –, anstatt Flucht­ur­sa­chen in jenen Län­dern zu bekämp­fen, in denen das Elend zumeist durch west­li­che Kolo­ni­al- und Kriegs­po­li­tik ver­ur­sacht wurde.

Wie kann es zudem sein, dass wir täg­lich, im blu­ti­gen 3. Kriegs­jahr der Ukrai­ne mit Russ­land, eine bei­spiel­lo­se Kriegs­trei­be­rei von füh­ren­den Poli­ti­kern erle­ben, vor­an­ge­trie­ben durch die media­le Deu­tungs­ho­heit von Scharf­ma­che­rIn­nen wie der FDP-Waf­fen­lob­by­istin Strack-Zim­mer­mann, der grü­nen Außen­mi­ni­ste­rin Baer­bock und Herrn Hof­rei­ter, den CDU/C­SU-Poli­ti­kern Kie­se­wet­ter, Rött­gen, Merz und Söder. Sie wer­den direkt oder indi­rekt von den mei­sten Leit­me­di­en unter­stützt, ja befeu­ert, um immer wei­te­re mil­li­ar­den­schwe­re Waf­fen­lie­fe­run­gen und Finanz­sprit­zen im Krieg gegen Russ­land aus Steu­er­gel­dern locker zu machen.

Das alles erin­nert mich fatal an einen Aus­spruch Adolf Hit­lers: »Wir wer­den den Krieg so lan­ge fort­setz­ten, bis Russ­land kei­ne orga­ni­sa­to­ri­sche und mili­tä­ri­sche Kraft mehr übrig­bleibt!« Was dar­aus wur­de, dürf­te wohl alle Welt spä­te­stens seit 1945 klar gewor­den sein.

Kriegs­mi­ni­ster Pisto­ri­us, der bereits als elo­quen­ter Nach­fol­ger des wenig cha­ris­ma­ti­schen Olaf Scholz gehan­delt wird, schwa­dro­niert erneut von »Kriegs­tüch­tig­keit« und Wehr­pflicht der Deut­schen, ande­re sogar von »Wehr­ertüch­ti­gung« der Kin­der und Jugend­li­chen usw. Sol­che Aus­sa­gen, die gebets­müh­len­ar­tig von den Leit­me­di­en wie­der­holt wer­den, erin­nern mich an die »Gleich­schal­tung« der NS-Pro­pa­gan­da: In »Mein Kampf« hieß es zu die­ser Art von PR-Arbeit: »Die Auf­nah­me­fä­hig­keit der gro­ßen Mas­se ist nur sehr beschränkt., dafür jedoch die Ver­gess­lich­keit groß. Aus die­sen Tat­sa­chen her­aus muss sich jede wir­kungs­vol­le Pro­pa­gan­da auf nur sehr weni­ge Punk­te beschrän­ken und die­se schlag­wort­ar­tig so lan­ge ver­wen­den, bis auch der Letz­te (…) unter einem sol­chen Wor­te das Gewoll­te sich vor­zu­stel­len ver­mag. Han­delt sich aber, wie bei der Durch­füh­rung eines Krie­ges dar­um, ein gan­zes Volk in ihren Wir­kungs­kreis zu zie­hen, so kann die Vor­sicht bei der Ver­mei­dung zu hoher gei­sti­ger Vor­aus­set­zun­gen gar nicht groß genug sein.« Weni­ger bekannt dürf­te sein, dass für Hit­ler und Rosen­berg der Umgang der wei­ßen Ame­ri­ka­ner mit den dor­ti­gen Urein­woh­nern bereits vor­bild­lich war.

Wer nach den tie­fe­ren Ursa­chen des heu­ti­gen Rechts­rucks nicht nur in Deutsch­land fragt, muss sich bewuss­ter wer­den, wie wenig die kolo­nia­le Ideo­lo­gie und Pra­xis der »wei­ßen Her­ren­men­schen« Euro­pas und Ame­ri­kas bis­her kri­tisch reflek­tiert und über­wun­den wur­de. Seit Kolum­bus wur­den die indi­ge­nen Völ­ker aller Kon­ti­nen­te durch Völ­ker­mor­de, Ver­skla­vung, eth­ni­sche Säu­be­run­gen, Get­toi­sie­rung usw. von den Herr­schen­den der west­li­chen Welt unter­wor­fen; sie stie­gen des­halb zu Welt­mäch­ten auf und konn­ten ihren ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­run­gen dadurch einen System-sta­bi­li­sie­ren­den, rela­ti­ven Wohl­stand ermöglichen.

Die Mehr­heit der Deut­schen, die nicht zuletzt auf­grund des tra­dier­ten Unter­ta­nen­gei­stes Hit­ler bis zum Schluss folg­ten, ori­en­tier­te sich nach 1945 fast naht­los an der Ideo­lo­gie und den Mythen der herr­schen­den Besat­zungs­mäch­te. Wäh­rend die Ost­deut­schen das sowje­ti­sche Gesell­schafts­sy­stem, von oben, mit Hil­fe der SED-Par­tei­füh­rung auf­ge­drückt beka­men, wur­de den West­deut­schen das west­lich-ame­ri­ka­ni­sche Gesell­schafts­sy­stem und sei­ne bür­ger­li­che Mytho­lo­gie in die Her­zen und Köp­fe implan­tiert. Dies wur­de noch dadurch beför­dert, dass die Finanz­sprit­zen des US-Mar­shall­pla­nes rela­tiv schnell den Wie­der­auf­bau und die west­li­che Wohl­stand­ge­sell­schaft ermög­lich­ten. Es war die lang ersehn­te kon­sum­ti­ve »Befrei­ung« nach den ent­beh­rungs­rei­chen Kriegs- und Nach­kriegs­jah­ren. Da die USA und die West­mäch­te aber zugleich ein­ge­schwo­re­ne Anti­kom­mu­ni­sten waren, sich also als radi­ka­le System­kon­kur­ren­ten zu Sowjet­russ­land defi­nier­ten, konn­te fast naht­los an ein wesent­li­ches Ideo­lo­gem der Nazis ange­knüpft wer­den: der anti­kom­mu­ni­sti­schen Rus­sen-Pho­bie. Die­se man­gel­haf­te ideo­lo­gi­sche und prak­ti­sche Ent­na­zi­fi­zie­rung in der Ade­nau­er-Ära, von den West­mäch­ten auch als Boll­werk gegen einen nach 1945 dro­hen­den Links­ruck in West­eu­ro­pa instal­liert, befe­stig­te zusätz­lich die Bestä­ti­gung des ame­ri­ka­nisch-west­li­chen Men­schen- und Gesell­schafts­bil­des und sein glo­ba­les Poli­tik­ver­ständ­nis, dass ins­be­son­de­re durch die Herr­schen­den in den USA und durch die restau­rier­ten, west­deut­schen NS-Eli­ten mit allen öko­no­mi­schen und ideo­lo­gi­schen Mit­teln unter den Deut­schen ver­brei­tet wur­de. Der begin­nen­de »Kal­te Krieg« ver­stärk­te zusätz­lich die­sen ame­ri­ka­ni­schen Mythos, wonach angeb­lich allein die USA in der Lage wären, »Frei­heit, Wohl­stand und Demo­kra­tie« als ulti­ma­ti­ve Alter­na­ti­ve zu den »kom­mu­ni­sti­schen Dik­ta­tu­ren« durch­zu­set­zen. Und seit der Tru­man-Dok­trin, Ende der 1940er Jah­re, wur­de die Ver­brei­tung die­ser Gesell­schafts­pra­xis, sei es mit wirt­schaft­li­chen, sei es auch mit unzäh­li­gen Krie­gen und CIA-gelenk­ten Regime-Wech­seln, als völ­lig legi­tim, ent­ge­gen dem Geist der durch Roo­se­velt und Sta­lin aus­ge­han­del­ten UN-Char­ta, welt­weit exe­ku­tiert, um die west­lich-kapi­ta­li­sti­sche Vor­herr­schaft zu sichern.

So auch erneut in der einst sowje­ti­schen Ukrai­ne. Als die lan­ge in Ost und West ersehn­ten Refor­men im sowje­ti­schen Macht­be­reich mit sei­nem völ­li­gen Zusam­men­bruch ende­ten, schien das west­li­che Gesell­schafts­sy­stem, der »Wer­te­we­sten«, sich als ein­zig »freie Welt« bestä­tigt zu haben. So wur­de die­ser Mythos durch die ein­set­zen­de kapi­ta­li­sti­sche Glo­ba­li­sie­rung und die Nato-Ost­erwei­te­run­gen noch­mal auf eine höhe­re Stu­fe west­li­cher Iden­ti­fi­zie­rung, Über­le­gen­heit sowie Selbst­täu­schung und Selbst­be­lü­gung geho­ben. Damit konn­te mas­siv ver­drängt wer­den, auf welch töner­nen Füßen die­ser impe­ria­le, kri­sen­ge­schüt­tel­te »Wer­te­we­sten« in Wahr­heit steht. Nur so ist auch der Rechts­ruck in den USA, in Frank­reich, den Nie­der­lan­den, in Öster­reich, schließ­lich auch in Deutsch­land zu erklä­ren, weil die finan­zi­el­le Kraft zur west­li­chen Vor­herr­schaft sich ihrem Ende zuneigt und dadurch die innen­po­li­ti­schen sozia­len Wider­sprü­che nicht mehr, wie bis­her, aus­rei­chend kom­pen­siert wer­den können.

Das Gefähr­li­che an die­ser Situa­ti­on ist jedoch: Es exi­stiert offen­bar ein inne­rer Zwang im Kapi­ta­lis­mus, aus immer wie­der­keh­ren­den Wirt­schafts- und Gesell­schafts­kri­sen, den Aus­weg durch Gewin­ne aus Über­rü­stung und schließ­lich durch Krie­ge zu suchen, um sich durch stän­di­ge Neu­auf­tei­lung der Welt, die öko­no­mi­sche und mili­tä­ri­sche Vor­herr­schaft zu sichern und mög­lichst immer wie­der Gewinn brin­gen­de neue Märk­te zu erschlie­ßen. Das treibt den Westen auch gegen Russ­land und Chi­na an. Wie ana­ly­sier­te bereits Lenin die­sen impe­ria­len Zwang zum Krieg, der auch das heu­ti­ge Nato-Bünd­nis tref­fend beschreibt: »Fried­li­che Bünd­nis­se berei­ten Krie­ge vor und wach­sen ihrer­seits aus Krie­gen her­vor, bedin­gen sich gegen­sei­tig, erzeu­gen ein Wech­sel der For­men fried­li­chen und nicht fried­li­chen Kamp­fes auf ein und dem­sel­ben Boden impe­ria­li­sti­scher Zusam­men­hän­ge und Wech­sel­be­zie­hun­gen der Welt­wirt­schaft und der Weltpolitik.«

Was kön­nen wir dage­gen tun, fra­gen sich vie­le, die die­se Zusam­men­hän­ge erah­nen oder auch bereits durchschauen?

  • Es ist aus­schlag­ge­bend, dass die­se histo­ri­schen Zusam­men­hän­ge in vie­len Ver­öf­fent­li­chun­gen, ins­be­son­de­re auch in den sozia­len Medi­en, viel stär­ker als bis­her, ver­brei­tet wer­den, zugleich auch als alter­na­ti­ves Bewusst­sein zur rechts-natio­na­li­sti­schen Pro­pa­gan­da. Dazu müss­ten sich vie­le Leu­te aus dem links­li­be­ra­len Spek­trum ent­schie­den bes­ser als bis­her ver­net­zen und aus ihre sek­ten­haf­ten »Bla­sen« heraustreten.
  • Es gibt bereits gewich­ti­ge Stim­men, die die unter­tä­ni­ge Abhän­gig­keit von der USA-geführ­ten west­li­chen Ideo­lo­gie und Pra­xis grund­sätz­lich in Fra­ge stel­len, wie etwa Klaus von Dohn­anyi, Oskar Lafon­taine und die kürz­lich ver­stor­be­ne Ant­je Voll­mer; aus die­sen Stim­men muss ein Chor in der öffent­li­chen Debat­te werden.
  • Die Frie­dens­be­we­gung, unter­stützt von pro­mi­nen­ten Künst­lern, Wis­sen­schaft­lern, Gewerk­schaft­lern, Umwelt­ak­ti­vi­sten, Pazi­fi­sten, Kir­chen- und Medi­en­leu­ten, muss sich stär­ker pro­fes­sio­na­li­sie­ren und nicht nur zu den Oster­mär­schen, son­dern regel­mä­ßig und kämp­fe­risch medi­al in Erschei­nung tre­ten. Das Rin­gen um eine sol­che links­li­be­ra­le Deu­tungs­ho­heit ist dafür aus­schlag­ge­bend, um Bevöl­ke­rungs­mehr­hei­ten poli­tisch zu mobi­li­sie­ren eine bis­her »schwei­gen­de Mehr­heit, die ja durch­aus schon vor­han­den ist.
  • Das west­li­che Gesell­schafts­sy­stem befin­det sich finan­zi­ell, auf­grund der hohen Staats­ver­schul­dun­gen sowie der geschei­ter­ten Krie­ge, etwa in Afgha­ni­stan, dem Irak, Syri­en, Liby­en und auch Isra­el, in einer sozi­al-öko­no­mi­schen und auch öko­lo­gi­schen Dau­er­kri­se. Die­se Schwä­che gilt es viel bewuss­ter zu nut­zen, um eine welt­wei­te unab­hän­gi­ge Gegen­be­we­gung zu mobilisieren.
  • Es muss viel kla­rer als bis­her wer­den, dass der Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on und die Restau­ra­ti­on des glo­ba­li­sier­ten Kapi­ta­lis­mus nicht das Ende der Geschich­te mar­kie­ren. Das Über­le­ben allen Lebens auf der Erde ist von der Erneue­rung einer huma­nen, sozi­al-öko­lo­gi­schen Zukunfts­vi­si­on abhän­gig, wie sie in der UN-Char­ta for­mu­liert wur­de. Uni­ver­sel­le Abrü­stung, ein System gemein­sa­mer Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit, d.h. fried­li­cher Koexi­stenz, sowie die Über­win­dung sozia­ler und natio­na­ler Spal­tung und die Umwelt­be­wah­rung haben dabei aller­er­ste Priorität.