Ich habe meine Geburt, während der Nazizeit, nur dem Zufall zu verdanken, dass meine jüdischen Eltern als Jugendliche, ohne ihre Herkunftsfamilien, in letzter Minute nach England fliehen konnten. Dennoch leide auch ich an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Anders kann ich mir nicht erklären, dass mich die heutigen politischen Verhältnisse fatal an die Ideologie der Hitlerei erinnern. Dies kann zu einem »Déjà-vu« auch bei nachfolgenden Generationen führen, sagen Psychologen, das auf einer »schwachen Verarbeitung« länger zurückliegender Ereignisse beruht. Bei mir scheint das nicht nur auf einer »Sinnestäuschung« zu basieren. Denn, wie ich aus vielen Gesprächen mit jüdischen und nicht jüdischen Freunden und Bekannten weiß, leiden auch sie unter ähnlichen Irritationen, und manche denken sogar darüber nach, Deutschland zu verlassen. Natürlich treibt uns dabei nicht die Angst vor unmittelbaren physischen Bedrohungen um, sondern eher die Assoziationen an gewisse innen- und außenpolitische Parallelen. Der Ungeist Hitlers scheint, als Untoter oder Wiedergänger, unter uns heute Lebenden irgendwie wieder auferstanden zu sein. Oder ist das alles nur eine politische Fata Morgana?
Wie ist es aber zu erklären, dass, trotz zunehmender Straftaten gegen Ausländer und Juden, viele Deutsche mit den Rechten sympathisieren und AfD wählen? Sie sagen zwar nicht mehr »Die Juden sind unser Unglück«, aber doch »Deutschland, den Deutschen – Ausländer raus!« Das klingt so, wie: »Ausländer sind unser Unglück«? Und einige ganz Radikale träumten wohl unlängst davon, Millionen davon nach Afrika in Internierungslager zu »remigrieren«. Aber auch die herrschende politische Klasse bemüht sich verstärkt um »Abschiebungen« – was für ein verräterischer Terminus –, anstatt Fluchtursachen in jenen Ländern zu bekämpfen, in denen das Elend zumeist durch westliche Kolonial- und Kriegspolitik verursacht wurde.
Wie kann es zudem sein, dass wir täglich, im blutigen 3. Kriegsjahr der Ukraine mit Russland, eine beispiellose Kriegstreiberei von führenden Politikern erleben, vorangetrieben durch die mediale Deutungshoheit von ScharfmacherInnen wie der FDP-Waffenlobbyistin Strack-Zimmermann, der grünen Außenministerin Baerbock und Herrn Hofreiter, den CDU/CSU-Politikern Kiesewetter, Röttgen, Merz und Söder. Sie werden direkt oder indirekt von den meisten Leitmedien unterstützt, ja befeuert, um immer weitere milliardenschwere Waffenlieferungen und Finanzspritzen im Krieg gegen Russland aus Steuergeldern locker zu machen.
Das alles erinnert mich fatal an einen Ausspruch Adolf Hitlers: »Wir werden den Krieg so lange fortsetzten, bis Russland keine organisatorische und militärische Kraft mehr übrigbleibt!« Was daraus wurde, dürfte wohl alle Welt spätestens seit 1945 klar geworden sein.
Kriegsminister Pistorius, der bereits als eloquenter Nachfolger des wenig charismatischen Olaf Scholz gehandelt wird, schwadroniert erneut von »Kriegstüchtigkeit« und Wehrpflicht der Deutschen, andere sogar von »Wehrertüchtigung« der Kinder und Jugendlichen usw. Solche Aussagen, die gebetsmühlenartig von den Leitmedien wiederholt werden, erinnern mich an die »Gleichschaltung« der NS-Propaganda: In »Mein Kampf« hieß es zu dieser Art von PR-Arbeit: »Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt., dafür jedoch die Vergesslichkeit groß. Aus diesen Tatsachen heraus muss sich jede wirkungsvolle Propaganda auf nur sehr wenige Punkte beschränken und diese schlagwortartig so lange verwenden, bis auch der Letzte (…) unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag. Handelt sich aber, wie bei der Durchführung eines Krieges darum, ein ganzes Volk in ihren Wirkungskreis zu ziehen, so kann die Vorsicht bei der Vermeidung zu hoher geistiger Voraussetzungen gar nicht groß genug sein.« Weniger bekannt dürfte sein, dass für Hitler und Rosenberg der Umgang der weißen Amerikaner mit den dortigen Ureinwohnern bereits vorbildlich war.
Wer nach den tieferen Ursachen des heutigen Rechtsrucks nicht nur in Deutschland fragt, muss sich bewusster werden, wie wenig die koloniale Ideologie und Praxis der »weißen Herrenmenschen« Europas und Amerikas bisher kritisch reflektiert und überwunden wurde. Seit Kolumbus wurden die indigenen Völker aller Kontinente durch Völkermorde, Versklavung, ethnische Säuberungen, Gettoisierung usw. von den Herrschenden der westlichen Welt unterworfen; sie stiegen deshalb zu Weltmächten auf und konnten ihren einheimischen Bevölkerungen dadurch einen System-stabilisierenden, relativen Wohlstand ermöglichen.
Die Mehrheit der Deutschen, die nicht zuletzt aufgrund des tradierten Untertanengeistes Hitler bis zum Schluss folgten, orientierte sich nach 1945 fast nahtlos an der Ideologie und den Mythen der herrschenden Besatzungsmächte. Während die Ostdeutschen das sowjetische Gesellschaftssystem, von oben, mit Hilfe der SED-Parteiführung aufgedrückt bekamen, wurde den Westdeutschen das westlich-amerikanische Gesellschaftssystem und seine bürgerliche Mythologie in die Herzen und Köpfe implantiert. Dies wurde noch dadurch befördert, dass die Finanzspritzen des US-Marshallplanes relativ schnell den Wiederaufbau und die westliche Wohlstandgesellschaft ermöglichten. Es war die lang ersehnte konsumtive »Befreiung« nach den entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegsjahren. Da die USA und die Westmächte aber zugleich eingeschworene Antikommunisten waren, sich also als radikale Systemkonkurrenten zu Sowjetrussland definierten, konnte fast nahtlos an ein wesentliches Ideologem der Nazis angeknüpft werden: der antikommunistischen Russen-Phobie. Diese mangelhafte ideologische und praktische Entnazifizierung in der Adenauer-Ära, von den Westmächten auch als Bollwerk gegen einen nach 1945 drohenden Linksruck in Westeuropa installiert, befestigte zusätzlich die Bestätigung des amerikanisch-westlichen Menschen- und Gesellschaftsbildes und sein globales Politikverständnis, dass insbesondere durch die Herrschenden in den USA und durch die restaurierten, westdeutschen NS-Eliten mit allen ökonomischen und ideologischen Mitteln unter den Deutschen verbreitet wurde. Der beginnende »Kalte Krieg« verstärkte zusätzlich diesen amerikanischen Mythos, wonach angeblich allein die USA in der Lage wären, »Freiheit, Wohlstand und Demokratie« als ultimative Alternative zu den »kommunistischen Diktaturen« durchzusetzen. Und seit der Truman-Doktrin, Ende der 1940er Jahre, wurde die Verbreitung dieser Gesellschaftspraxis, sei es mit wirtschaftlichen, sei es auch mit unzähligen Kriegen und CIA-gelenkten Regime-Wechseln, als völlig legitim, entgegen dem Geist der durch Roosevelt und Stalin ausgehandelten UN-Charta, weltweit exekutiert, um die westlich-kapitalistische Vorherrschaft zu sichern.
So auch erneut in der einst sowjetischen Ukraine. Als die lange in Ost und West ersehnten Reformen im sowjetischen Machtbereich mit seinem völligen Zusammenbruch endeten, schien das westliche Gesellschaftssystem, der »Wertewesten«, sich als einzig »freie Welt« bestätigt zu haben. So wurde dieser Mythos durch die einsetzende kapitalistische Globalisierung und die Nato-Osterweiterungen nochmal auf eine höhere Stufe westlicher Identifizierung, Überlegenheit sowie Selbsttäuschung und Selbstbelügung gehoben. Damit konnte massiv verdrängt werden, auf welch tönernen Füßen dieser imperiale, krisengeschüttelte »Wertewesten« in Wahrheit steht. Nur so ist auch der Rechtsruck in den USA, in Frankreich, den Niederlanden, in Österreich, schließlich auch in Deutschland zu erklären, weil die finanzielle Kraft zur westlichen Vorherrschaft sich ihrem Ende zuneigt und dadurch die innenpolitischen sozialen Widersprüche nicht mehr, wie bisher, ausreichend kompensiert werden können.
Das Gefährliche an dieser Situation ist jedoch: Es existiert offenbar ein innerer Zwang im Kapitalismus, aus immer wiederkehrenden Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen, den Ausweg durch Gewinne aus Überrüstung und schließlich durch Kriege zu suchen, um sich durch ständige Neuaufteilung der Welt, die ökonomische und militärische Vorherrschaft zu sichern und möglichst immer wieder Gewinn bringende neue Märkte zu erschließen. Das treibt den Westen auch gegen Russland und China an. Wie analysierte bereits Lenin diesen imperialen Zwang zum Krieg, der auch das heutige Nato-Bündnis treffend beschreibt: »Friedliche Bündnisse bereiten Kriege vor und wachsen ihrerseits aus Kriegen hervor, bedingen sich gegenseitig, erzeugen ein Wechsel der Formen friedlichen und nicht friedlichen Kampfes auf ein und demselben Boden imperialistischer Zusammenhänge und Wechselbeziehungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik.«
Was können wir dagegen tun, fragen sich viele, die diese Zusammenhänge erahnen oder auch bereits durchschauen?
- Es ist ausschlaggebend, dass diese historischen Zusammenhänge in vielen Veröffentlichungen, insbesondere auch in den sozialen Medien, viel stärker als bisher, verbreitet werden, zugleich auch als alternatives Bewusstsein zur rechts-nationalistischen Propaganda. Dazu müssten sich viele Leute aus dem linksliberalen Spektrum entschieden besser als bisher vernetzen und aus ihre sektenhaften »Blasen« heraustreten.
- Es gibt bereits gewichtige Stimmen, die die untertänige Abhängigkeit von der USA-geführten westlichen Ideologie und Praxis grundsätzlich in Frage stellen, wie etwa Klaus von Dohnanyi, Oskar Lafontaine und die kürzlich verstorbene Antje Vollmer; aus diesen Stimmen muss ein Chor in der öffentlichen Debatte werden.
- Die Friedensbewegung, unterstützt von prominenten Künstlern, Wissenschaftlern, Gewerkschaftlern, Umweltaktivisten, Pazifisten, Kirchen- und Medienleuten, muss sich stärker professionalisieren und nicht nur zu den Ostermärschen, sondern regelmäßig und kämpferisch medial in Erscheinung treten. Das Ringen um eine solche linksliberale Deutungshoheit ist dafür ausschlaggebend, um Bevölkerungsmehrheiten politisch zu mobilisieren eine bisher »schweigende Mehrheit, die ja durchaus schon vorhanden ist.
- Das westliche Gesellschaftssystem befindet sich finanziell, aufgrund der hohen Staatsverschuldungen sowie der gescheiterten Kriege, etwa in Afghanistan, dem Irak, Syrien, Libyen und auch Israel, in einer sozial-ökonomischen und auch ökologischen Dauerkrise. Diese Schwäche gilt es viel bewusster zu nutzen, um eine weltweite unabhängige Gegenbewegung zu mobilisieren.
- Es muss viel klarer als bisher werden, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Restauration des globalisierten Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte markieren. Das Überleben allen Lebens auf der Erde ist von der Erneuerung einer humanen, sozial-ökologischen Zukunftsvision abhängig, wie sie in der UN-Charta formuliert wurde. Universelle Abrüstung, ein System gemeinsamer Sicherheit und Zusammenarbeit, d.h. friedlicher Koexistenz, sowie die Überwindung sozialer und nationaler Spaltung und die Umweltbewahrung haben dabei allererste Priorität.