Schon ein Jahr vor diesem verhängnisvollen Tag, Anfang 1932, erschien in der Zeitschrift Evangelische Wahrheit ein Aufsatz, in dem der Verfasser, der Generalsekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung, »das politische Gesicht der Zeit« beschreibt. Für den Nationalsozialismus, eine »Volksbewegung«, empfinde er wegen dessen »umfassenden Opfermuts größte Achtung«, und er prophezeit: »Es ist mit großer Bestimmtheit zu erwarten, dass der Nationalsozialismus noch im Laufe dieses Jahres, vermutlich schon im Frühjahr, in irgendeiner Form an der Regierung beteiligt wird. Die Frage, ob das wünschenswert ist, ist mit Ja zu beantworten.« Der Verfasser wusste: Der Nationalsozialismus und die evangelische Kirche stimmen in ihren Grundaussagen überein: Gegen Demokratie, gegen Liberalismus, gegen Sozialismus vor allem und für einen starken Nationalismus, der die »Schande von Versailles« endlich rächen könnte – das verkündigten, schon vor 1933, etwa 70 bis 80 Prozent der evangelischen Pfarrer. In der Landesskirche Hannovers etwa, wo der lutherische Landesbischof Marahrens von den Pfarrern einen Treueeid auf Hitler verlangte, der dem Ordinationsgelübde widersprach, verweigerten nur 11 von den über 1000 Pfarrern diesen Treueeid.
Als dann genau ein Jahr später jener Wunsch erfüllt war und der in der evangelischen Kirche so heißgeliebte Reichspräsident Paul von Hindenburg Hitler, den »treusten Sohn Deutschlands«, zum Reichskanzler ernannt hatte, da brach in der evangelischen Kirche ein Jubel aus, der fortan nicht weniger wurde, gleich, was für Scheußlichkeiten die herbeigewünschte Regierung auch anrichtete. Der zitierte Generalsekretär erklärte nun: »Wir stehen dankbar und entschlossen hinter Hindenburg und Hitler als den Führern unseres Staates« (Junge Kirche 4/1933, S. 43).; und, etwas ausführlicher, in seiner Schrift »Christus im deutschen Schicksal«: »Unsere Geschichte ist noch einmal in einen glutflüssigen Zustand geraten, und nun gehen unsere Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen, Entscheidungen mit dem neuen Morgen, dass etwas Großes und Gewaltiges daraus werde und unser Volk seine Gottesstunde begreife.« Was heute »Zeitenwende« genannt wird, war für ihn eine »Gottesstunde« oder auch, etwas profaner, einfach »eine Wende«. So erklärte die evangelische Kirche zum 30. Januar 1933: »Zu dieser Wende der Geschichte sprechen wir ein dankbares Ja! Gott hat sie uns geschenkt!«
Der Prediger der Gottesstunde konnte in der Folgezeit noch viel Großes und Gewaltiges vermelden, was diese Gottesstunde dem deutschen Volk geschenkt hatte, z.B. die »Hitlerjugend«: »Man kann nirgendwo reiner, anziehender und überzeugender sehen, was es um das neue Deutschland ist. (…) Willigkeit und Lauterkeit der Hingabe an das neue politische Leben ist das Signum dieser jungen deutschen Generation« (All. Ev. luth. Kirchenzeitung, 18/1935, Sp. 1136). Hingabe verlangte bald danach der deutsche Angriffskrieg 1939. Dazu wies der Hitlerbewunderer in drei Musterkriegspredigten und in seiner Schrift von 1941 »Der Krieg als geistige Leistung« auf die Notwendigkeit hin, das eigene »Leben zu opfern«: »Es muss nicht nur auf den Koppelschlössern der Soldaten, sondern in Herz und Gewissen stehen: Mit Gott! Nur im Namen Gottes kann man dies Opfer legitimieren.« Diese Schrift kam bei den Machthabern so gut an, dass er »amtlich gefördert« werden sollte. 1947 wurde er der Landesbischof der größten deutschen lutherischen Landeskirche in Hannover. Sein Name: Hanns Lilje. Sein Freund war der Berliner Bischof Otto Dibelius, der sich 1945 selbst zum Bischof gemacht hatte und 1949 langjähriger Ratsvorsitzender der evangelischen Kirche wurde. Gemeinsam trugen beide dann maßgeblich dazu bei, die vom Adenauer in den 1950er Jahren betriebene Remilitarisierung durchzusetzen.
Otto Dibelius´ Aufstieg bis ins höchste Amt in der evangelischen Kirche wäre nicht denkbar ohne seine lebenslange Glorifizierung des Krieges und des Soldatenstandes. Während der Ersten Weltkrieges gab er jährlich eine Predigtsammlung heraus; zu Beginn, 1914, predigte er unter dem Bekenntnis »Gott mit uns«, was angeblich »durch jedes deutsche Herz klingt: Der Tod fürs Vaterland ist ein herrlicher Tod. Ehre denen, die ihn sterben. Dankbar gedenkt ihrer das Vaterland.« Und am Ende des Krieges, 1918, will er nichts davon wissen, dass das Morden aufhört. »Verständigungsfrieden: Ja oder Nein? (…) Die Antwort heißt: Nein! Nicht Verzicht oder Verständigung, sondern Ausnutzung unserer Macht bis zum Äußersten.« 1930 brachte er eine Schrift heraus mit dem Titel »Friede auf Erden?«, in der es heißt: »Der Krieg (ist) eine natürliche Lebensordnung der Völker. Auch die Religion erhebt dagegen nicht Protest. Auch das Christentum nicht.« Eine Kapitelüberschrift lautet »Die Freude am Krieg«: Der Kriegsfreund erfährt dazu: »Nicht nur der Soldat freut sich. Sie freuen sich alle, die sich nach dem Ungewöhnlichen sehnen.« Das also schrieb der Verfasser 1930. Jetzt mussten nur noch die die Macht erhalten, die mit einer solchen Freude den Krieg auch wirklich herbeiführen wollten. Nach der Reichstagswahl Anfang März 1933 konnte er an »seine« Pfarrer über die neuen Machthaber der NSDAP beglückt schreiben: »Nun sind Macht und Masse wieder bei denen, die die Kirche bejahen und zu denen sich die treuen Besucher der Kirche in ihrer erdrückenden Mehrheit politisch bekennen.« Und diesen Machthabern gab er dann am »Tag von Potsdam«, am 21.März 1933, in seiner Predigt in der Nikolaikirche grünes Licht für ihr verbrecherisches Tun: »Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt, dass die Kirche der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rücksichtslos schaltet.« Hermann Göring, so wird überliefert, hat das sehr gefallen.
Seiner »Freude am Krieg« blieb Dibelius offenkundig auch nach 1945 treu. Neben seinem erwähnten Engagement für die Remilitarisierung fand er in den 1950er Jahren auch entsprechende Worte in der Auseinandersetzung um die Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen, wie sie der CDU-Kanzler Konrad Adenauer, sein Parteifreund, anstrebte. Der Historiker Manfred Görtemaker hält in seinem Buch »Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« (1999, S. 259) fest: »Karl Otto Dibelius, der als Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche versicherte, dass selbst die Anwendung einer Wasserstoffbombe vom christlichen Standpunkt aus nicht einmal eine so schreckliche Sache sei, da wir alle dem ewigen Leben zustreben. Wenn eine solche Bombe eine Million Menschen töte, so erreichten die Betroffenen ›umso schneller das ewige Leben‹«. »Freude am Krieg«, ja, Atomkrieg – das war die Botschaft des Otto Dibelius. Ihm wurde im Kalten Krieg in West-Berlin 1958 die Ehrenbürgerschaft zuteil.