Am 1. Mai 1945 überquerte die Rote Armee die Petribrücke in Rostock und rückte über den Mühlendamm in die Hansestadt ein. Durchhaltekrieger sprengten mit einer Seemine die Brücke, ein sowjetischer Panzer flog in die Luft und stürzte ins Wasser. Für den Ausgang des Krieges war diese idiotische Mordtat unerheblich, für die fünf jungen Männer zwischen 20 und 31 Jahren im T 34 nicht … Im November 2011, als man die neue Mühlendammbrücke errichten wollte, fanden Bauarbeiter den Panzer. Und die Überreste der fünf Besatzungsmitglieder. Ihre Namen waren bald ermittelt. Dabei half auch die russische Botschaft. Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion war schließlich Eigentümer des Tanks.
Am 1. Mai 2012 wurden die aufgefundenen Gebeine auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof am Puschkinplatz beigesetzt. Die Trauerfeier war bewegend, viele Rostocker nahmen daran teil, auch die Tochter des Panzerfahrers Wassili A. Kleschew war in Begleitung ihrer Tochter Irina aus dem russischen Perm angereist, 3500 Kilometer von hier. Sie hatte ihren Vater nicht kennenlernen können: Als sie geboren wurde, war er bereits an der Front. Rima Wassiljewna Kilina kannte ihren Vater nur von Fotos und aus den Erzählungen der Mutter. Trotzdem war die Nachricht für sie wichtig, auf sie hatte sie Jahrzehnte gewartet. Und sie streute die mitgebrachte Heimaterde ins Grab ihres Vaters.
Ehrenfriedhöfe wie dieser in Rostock gibt es hierzulande nicht wenige. Eine überregionale Arbeitsgemeinschaft »Sowjetische Gräber und Ehrenmale in Deutschland« ermittelte mehr als viertausend Orte, an denen gefallene Rotarmisten, ermordete Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und deren Kinder fern der Heimat bestattet worden sind. Die Freiwilligen hatten sich zunächst in verschiedenen lokalen Initiativen zusammengefunden, weil die Grabstätten nach dem Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte verwahrlosten, manche auch verwüstet und geschändet wurden. Als Freunde Russlands nahmen sie das nicht hin – wohl wissend, dass die Bundesregierung sich zur Erhaltung der Anlagen verpflichtet hatte. Sonst hätte es die Zustimmung der Siegermächte zur deutschen Einheit nicht gegeben. Teil der 2+4-Vereinbarung im September 1990 in Moskau war nämlich ein Gemeinsamer Brief der beiden deutschen Außenminister an ihre vier Kollegen. Darin hatte es unter Punkt 2 geheißen: »Die auf deutschem Boden errichteten Denkmäler, die den Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft gewidmet sind, werden geachtet und stehen unter dem Schutz deutscher Gesetze. Das Gleiche gilt für die Kriegsgräber, sie werden erhalten und gepflegt.«
Diese offizielle Verpflichtung schien – wie manch anderes Versprechen auch – in den neunziger Jahren offenbar vergessen, weshalb vielerorts eben jene Menschen aktiv werden mussten. Sie fanden Verbündete im Büro für Kriegsgräberfürsorge und Gedenkarbeit in der Botschaft der Russischen Föderation in Berlin. Und sie wurden nicht müde, die staatliche Verantwortung einzufordern, zu der sich die Bundesregierung verpflichtet hatte.
Ein wesentlicher Teil des Engagements bestand in der Dokumentation der bestehenden Gedenkorte. Sie wurden in einer Datenbank zusammengeführt, welche offiziell zum 70. Jahrestag der Befreiung online ging: auf der Homepage des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst und mit einer festlichen Veranstaltung in der Botschaft Unter den Linden.
Inzwischen hatten sich auch die Offiziellen auf ihre Verantwortung besonnen. Es kamen Mittel von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«.
Im Vorfeld des 75. Jahrestages nun machte ich mich mit meinem Sohn auf, um Gräber und Ehrenfriedhöfe zu besuchen und zu fotografieren.*) Vordringlich ging es uns darum, diese Mahnmale gegen das Vergessen und die Verdrängung publizistisch sichtbar zu machen. Die Russen hatte man erfolgreich aus der Mitte Europas verdrängen können, nunmehr standen NATO-Panzer an der russischen Grenze, also dort, wo 1941 schon einmal deutsche Panzer gestanden hatten. Deutsche Tanks waren auch diesmal wieder dabei. Und um die Geschichte vollends zu verdrehen, hatte es bei den Feiern in der Normandie zum 75. Jahrestag der Errichtung der Zweiten Front geheißen: »Der Tag, der die Wende brachte« (Die Zeit, 5. Juni 2019) oder »Am 6. Juni 1944 begann die Befreiung der Menschheit vom nationalsozialistischen Grauen mit der Landung der Alliierten in der Normandie« (Bild, 5. Juni 2019). Dabei war die Wende des Krieges im Jahr zuvor bei Stalingrad erfolgt, und streng genommen hatte die Befreiung vom Faschismus eigentlich am 22. Juni 1941 begonnen, als Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfiel und das Land sich erhob. Der Sieg war teuer, die Befreiung Europas vom Faschismus bezahlten vermutlich 27 Millionen Sowjetbürger mit dem Leben. Das aber schienen einflussreiche Kreise bewusst vergessen machen zu wollen.
Darum wollten wir bei unserer Spurensuche in Deutschland auch kontrollieren, inwieweit die politisch Verantwortlichen ihrem 1990 gegebenen Wort nachkamen.
Um es mit einem Satz zu sagen: Wir waren angenehm überrascht.
Der Widerspruch zwischen Wort und Tat, zwischen dem »Russen-Bashing« in der Politik und in den Medien einerseits und dem Zustand der meisten Grabstätten und Ehrenfriedhöfe andererseits war nicht zu übersehen. Zwar gab es Unterschiede von Bundesland zu Bundesland, aber wir sahen kaum einen verlotterten, vergessenen Ort. Sicher, ein Ehrenfriedhof wie der im sächsischen Dahlen, eingezwängt zwischen einer Durchfahrtstraße und dem Parkplatz eines Supermarktes, kann kaum als Ort stillen Gedenkens gewürdigt werden, und dennoch: Die Steine waren frisch poliert, und den Sowjetstern mit Hammer und Sichel auf dem Obelisken hatte erst jüngst ein lokaler Steinmetz gekonnt aus Granit gemeißelt.
Die meisten Ehrenfriedhöfe liegen im Land Brandenburg, hier fanden auch die blutigsten Schlachten auf deutschem Boden statt. Kaum ein Ort zumindest im Oderbruch, wo nicht gefallene Soldaten bestattet wurden. Die Grabstätten sind ausnahmslos in einem sehr guten, gepflegten Zustand, woran die Kommunen ihren Anteil haben, vorrangig aber das Bundesland. Ministerpräsident Manfred Stolpe breitete von Anfang an seine schützende Hand über diese Gräber, und seine Nachfolger Matthias Platzeck und Dietmar Woidke behielten diese Linie bei. In Lebus befindet sich der zentrale Ort des Landes, wo die noch immer aufgefundenen Gebeine von Gefallenen beigesetzt werden. Die letzte Bestattung oder Umbettung, wie dieser vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge vorgenommene Akt heißt, erfolgte erst vor wenigen Wochen: Im Garten eines bekannten Fernsehmoderators, dessen Villa am Heiligensee in Potsdam steht, waren die Überreste eines Sowjetsoldaten gefunden worden, der nun in Lebus an der Oder seine letzte Ruhestätte fand. Vielerorts waren – mit Blick auf den 8. Mai 2020 – die Handwerker und Restaurateure zugange.
Auf dem Puschkinplatz in Rostock liegen, wie die Datenbank auf www.sowjetische-memoriale.de ausweist, 312 gefallene Soldaten und sechs Offiziere der Roten Armee sowie 397 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Ihre Gräber befinden sich mitten in der Stadt, und zu fast allen, die unter diesen Steinen liegen, lassen sich Geschichten erzählen. So wie den Gräbern und Ehrenfriedhöfen gebührt allen sowjetischen Befreiern ein zentraler Platz im öffentlichen Bewusstsein unserer Gesellschaft. Nicht nur an Gedenktagen.
*) Frank und Fritz Schumann: »Denkmale der Befreiung. Spuren der Roten Armee in Deutschland«, Verlag Neues Leben, 256 Seiten, zweisprachig, vierfarbig, 32 €