Auch nach 100 Jahren bewegt der Friedensvertrag von Trianon noch die Gemüter in Ungarn. Regierungschef Viktor Orbán hatte es nach seinem Wahlsieg 2010 eilig, einen »Gedenktag für Trianon« zu schaffen: den 4. Juni. In diesem Jahr wird – sofern nichts dazwischenkommt – pünktlich zum Jahrestag ein 16-Millionen-Euro-Denkmal eingeweiht, an zentraler Stelle in Budapest hinter dem Parlament. Es handelt sich um eine schräg unter die Erde führende Rampe, genannt trianoni árok (Trianon-Graben). In die seitlichen Mauern sind eingraviert die Namen aller Städte aus den abgetrennten Gebieten, die Ungarn seinerzeit verlor, mehrere tausend Namen. Das sorgt für Ärger mit den Nachbarstaaten Slowakei, Ukraine, Rumänien, Serbien und Kroatien, die ihren eigenen Nationalismus pflegen.
Es war der Zusammenbruch des Habsburger Vielvölkerstaates im Herbst 1918, der – wie Gerd Bedszent kürzlich an dieser Stelle schrieb (Ossietzky 8/2020) – »ähnlich wie im russischen Zarenreich eine Reihe sich ausschließender Nationalismen [hervorbrachte]« mit der Folge: »Die sich neu konstituierenden Staaten gerieten einander … in die Haare. Ungarn musste gravierende Gebietsverluste hinnehmen.« Als Kriegsverlierer hatte Ungarn im Ergebnis des Trianoner Diktatfriedens mehr als zwei Drittel seines Territoriums abzutreten. Allein Siebenbürgen, das ans Königreich Rumänien angeschlossen wurde, war flächenmäßig größer als das ganze verbliebene Rest-Ungarn. Die Nationalflagge wurde in Budapest ab dem 4. Juni 1920 für achtzehn Jahre auf Halbmast gesetzt, und es wurde der Vers skandiert: »Rumpf-Ungarn ist gar kein Land, ganz Ungarn das Himmelreich.« Das Streben nach Vertrags-Revision setzte sofort ein, und die Propaganda wucherte. Mit den Umrissen des alten, historischen Ungarlandes wurden nicht nur Schulbücher versehen, sondern auch Rasierspiegel, Aschenbecher, Zigarrenetuis und Reißzwecken gefertigt; Medaillons mit Erdpröbchen aus den abgetretenen Gebieten wurden feilgeboten.
Keine der politischen Parteien in Ungarn, von der rechtsextremen Rassenschutzpartei bis zur Linken, wollte sich mit Trianon und seinen teilweise recht willkürlichen boshaften Regelungen abfinden. Anders als der Grenz-Revisionismus in Frankreich nach 1871 mit seinem Motto bezüglich Elsass-Lothringen »Nie davon reden, immer daran denken« war das Prinzip in Ungarn: »Immer daran denken und oft davon reden.«
Die drei Nachbarstaaten im Norden, Osten und Süden sahen sich vom ungarischen Revanchismus natürlich bedroht und schlossen sich zum Bündnis der Kleinen Entente zusammen. Diese war aber zur Zeit des Münchner Abkommens 1938 schon nicht mehr handlungsfähig; mit der Zerschlagung der Tschechoslowakischen Republik begann eine schrittweise Gebietsvermehrung Ungarns – wenn auch nur für circa sieben Jahre. Bei den nach 1945 wieder hergestellten Grenzen von Trianon ist es bis heute geblieben. Angesichts des mit und durch Orbán wachsenden Nationalismus erinnert man sich heuer wehmütig der Zeiten der ungarischen Volksrepublik, als kein Grenz-Revisionist an die Öffentlichkeit gehen durfte, wofür gute Gründe sprachen.