Wenn wir die gegenwärtigen Weltverhältnisse auf uns wirken lassen, dann sehen und erleben wir ein bisher unbekanntes Ausmaß an Krisen und Kriegen sowie innergesellschaftliche Verhältnisse, in denen Empathie, Sensibilität und Mitmenschlichkeit immer mehr verdrängt werden von einer gereizten, aggressiv aufgeladenen Grundhaltung, die an den Fundamenten unserer freiheitlich-demokratisch sich verstehen wollenden Gesellschaftsordnung rüttelt. Es steht also nicht mehr und nicht weniger als die Akzeptanz des humanistischen Menschenbildes auf dem Spiel.
Die Staaten, die den »Westen« bilden, sehen sich als die geistigen Erben der Traditionen des Humanismus und der Aufklärung. Der Mensch soll frei sein können und bestärkt werden, seine individuellen Potentiale zu entfalten. Dies ist ein fundamentaler Widerspruch zu dem autoritär verstandenen Menschenbild rechter bis rechtsextremer Parteien, die eine Gesellschaft anstreben, in der die Menschen sich genötigt sehen zu Anpassung, Unterordnung und Gehorsam sowie zu einer strukturellen Gewalt gegen sich selbst. Es verwundert immer wieder, wie es möglich ist, dass Parteien mit solch einer dürftigen Agenda eine solche Anziehungskraft auf so viele Menschen ausüben können. Es scheint zu genügen, wenn einer, wie etwa der irrlichternde, und moralisch bankrotte Donald Trump, in jeder Hinsicht über die Stränge schlägt, es also dem verhassten Establishment so richtig zeigt. Man hat das Gefühl, dass Inhalte dabei völlig unwichtig werden.
Diese Phänomene sind nun in abgeschwächter Form auch in Europa zu beobachten. Die AfD ist keineswegs die Partei der »kleinen Leute« oder der Ausgebeuteten. Ihr Programm atmet den zweifelhaften Duft einer verschärften neoliberalen Agenda. Noch schlimmer ist diese geistige Unfähigkeit, sich mit der zentralen existentiellen Herausforderung der Menschheit, der Klimakrise, konstruktiv auseinanderzusetzen, sowie eine offen faschistische Grundhaltung vor allem in den Migrationsthemen. Die öffentlich gewordenen Remigrations- oder besser Deportationsfantasien in Potsdam, gespeist aus der Angst vor dem »Fremden«, lassen einen Parallelismus im Denken von AfD-Funktionären und der NSDAP offen zutage treten, was uns alle alarmieren sollte. Wo erst einmal der Begriff des »Kulturfremden« im öffentlichen Bewusstsein etabliert ist, sollte klar sein, dass diese faschistische Normsetzung letztlich alle bedroht, die ein selbstbestimmtes Leben jenseits aller Nötigung zu Anpassung und Unterwerfung führen möchten.
Woher kommt diese alle Gesellschaften des Westens durchziehende destruktive Wut und Empörung von so vielen? Wir leben doch im Raum der Freiheit und der Demokratie, in der besten aller Welten, oder etwa nicht? Ist die Bindung an das humanistische Menschenbild glaubwürdig? Für Marxisten ist der Ausgangspunkt ihres Denkens, zu erkennen, dass wir Menschen zuallererst Wesen sind mit grundlegenden Bedürfnissen. Wir wollen essen und trinken, brauchen ein Dach über dem Kopf, eine gute Arbeit, eine ausreichende Krankenversorgung, gute Schulen, Kulturzugänge, um in Würde leben zu können. Das materialistische Menschenbild meint genau dies: Wir brauchen nicht über Menschenrechte zu reden, wenn wir nicht bereit sind, eine Gesellschaft in der Weise auszurichten, dass sie die Deckung dieser grundlegenden Bedürfnisse aller Bürger zur zentralen Kernaufgabe erklärt. Das kann man leider nicht von den westlichen Gesellschaften behaupten. Wir leben in einem System, das so strukturiert ist, dass ca. 10 Prozent ganz erhebliche Wohlstandszuwächse kontinuierlich erzielen. Die Konsequenz daraus ist, dass wir mittlerweile die Rückkehr des Feudalismus erleben. Einige wenige besitzen so viel wie die »unteren« 50 Prozent der Menschheit. Es ist doch offensichtlich: Wenn der Reichtum in den Händen weniger konzentriert ist, so ist der Mangel unausweichlich. Unser Blick etwa auf die öffentlichen Güter, angefangen vom Zustand der Bahn über den fehlenden Bestand an bezahlbarem Wohnraum, besonders Sozialwohnungen, bis hin zur Unterfinanzierung unserer Krankenhäuser zeigt, dass es um die ausreichende Befriedigung der Grundbedürfnisse der Mehrheit schlecht bestellt ist.
Es gilt also, zu differenzieren. Unsere Demokratie beschränkt sich auf klar eingegrenzte »Räume«. Der Kapitalismus gehört dazu nicht. Er ist ein System, das so angelegt ist, dass am Ende eine Minderheit profitiert, die überwiegende Mehrheit jedoch in Demut und Dankbarkeit die Brosamen anzunehmen hat. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln ist die entscheidende Quelle der Macht – und Garant für die stetig wachsende Ungleichheit der Einkommen. Hier gibt es keine Demokratie, sondern klare hierarchische Beziehungen. Macht trifft auf Ohnmacht. Die zaghaften Gedanken von Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie in den 1970er Jahren sind längst vergessen. Wir leben in Herrschaftsverhältnissen. Wenn wir bedenken, wie viele Stunden täglich Menschen für den Produktionsprozess aufwenden, so scheint es nicht vermessen, dort eine Quelle von aufgestauter Wut und Empörung zu vermuten. Wenn noch hinzukommt, dass trotz all der täglichen Mühen das Einkommen so gering ist, dass die zentralen Grundbedürfnisse nur unzureichend gedeckt werden können, so kann die Wut vollends in destruktives Fahrwasser geraten, erst dann gewinnt die Ideologie der Menschenverachtung einen Resonanzraum.
Bertolt Brechts Statement – erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral – enthält eine tiefe Weisheit, vielleicht sogar einen Schlüssel zum Verstehen dieser völlig irrationalen Sympathien der Wutentbrannten für Parteien und Personen, die eigentlich nichts zu bieten haben.
Wir wissen um die Bemühungen führender Politiker, die ökonomischen Verhältnisse weichzuzeichnen. »You never walk alone« als Versuch der Etablierung einer Scheinwelt zur Beruhigung der Gemüter. Jedoch ist der Geist des Kapitalismus von der Art, dass er gnadenlos und empathielos das eigene Interesse auf Kosten anderer durchsetzen will. Es ist eine Haltung der Selbstbezogenheit, die ohne Einfühlungsvermögen den eigenen Vorteil maximieren will, woraus zwangsläufig Konflikte entstehen müssen.
Yash Tandon beschreibt in seinem Buch »Handel ist Krieg«, in welcher Art und Weise Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den afrikanischen Ländern vereinbart werden. Er selbst nahm als Vertreter seines Heimatlandes Uganda sowie als fachkundiger Berater der afrikanischen Regierungen daran teil. Er beschreibt die Auseinandersetzungen um die Unterzeichnung von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPAs) und charakterisiert diese »Verhandlungen« als Nötigung der afrikanischen Regierungschefs, etwas zu unterschreiben, das zwangsläufig große Verwerfungen in ihren Ländern auslösen musste. Warum taten sie es dennoch? Der Grund dafür sind die weiter bestehenden Abhängigkeiten in Form von Hilfsleistungen durch die EU. Dies ist dann der Hebel, um das eigene Bereicherungsziel zu maximieren, ohne Rücksicht auf mögliche Kollateralschäden.
Abkommen solcher Art treiben viele Menschen in die Armut und damit oft auch in den Tod. So ist es ein Märchen, dass der Freihandel dem Wohl aller Nationen dient. Auch das ist eine »Weichzeichnung«. Deshalb spitzt Tandon zu: Er nennt den Handel Krieg, weil er tödlich sein kann, gleichsam eine Massenvernichtungswaffe. So schafft diese Art von Handel Reichtum am einen und Armut am anderen Ende.
Die Konsequenz der massenhaften Zerstörung der Lebensgrundlagen so vieler afrikanischer Kleinbauern ist, dass sie zu Wirtschaftsflüchtlingen entweder in ihren eigenen Ländern werden oder sich auf den Weg nach Europa machen auf der verzweifelten Suche nach einer tragfähigen neuen Lebensgrundlage. Dieses Beispiel ist nur ein Teil von einer seit über 500 Jahren wirkenden Kontinuität. Es offenbart die DNA des Kapitalismus. Es ist Ausdruck eines Krieges zwischen den reichen Nationen und dem Rest der Welt.
Die Frage nach dem Wesen des Kapitalismus, jenseits aller Weichzeichnungen, beschäftigte auch Jean Jaurès (1856-1914), Vorsitzender der französischen Sozialisten, einer der ganz großen Gestalten in der Blütezeit der europäischen Arbeiterbewegung. Die Quintessenz seines Nachdenkens fasste er in dem Satz zusammen: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich, wie die Wolke den Regen.«
Es ist eine der vielleicht großen Tragödien unserer Zeit, dass die organisierte Arbeiterbewegung, in Gestalt der Sozialdemokratie, ihr Beharren auf einen grundlegend anderen Gesellschaftsentwurf, eine linke Utopie, aufgegeben hat. Dies schuf immer auch bei den Millionen, die an einem ungerechten System zu leiden hatten, Hoffnung, dass die Zukunft, zumindest ihrer Kinder, Besseres bereithält. Wer völlig desillusioniert ist, der ist in Gefahr, innerlich zu vergiften. Die Idee des Sozialismus war und ist der Versuch, nachzuweisen, dass eine Gesellschaft jenseits der elenden Bereicherungssucht einer Minderheit auf die Deckung der grundlegenden Lebensbedürfnisse aller Menschen hin ausgerichtet werden kann. Eine Gesellschaft also, die fähig ist zu einer wahren Menschlichkeit und zu Friedfertigkeit.
Zurück zu den Wutentbrannten und Empörten: Es reicht nicht, diese dafür zu verurteilen, dass sie den Gegnern der Menschlichkeit ihre Unterstützung zusichern. Wir müssen der Wut auf den Grund gehen. Wir wissen, dass »unsere Demokratie« wesentliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens nicht umfasst. Unser Wirtschaftssystem kennt keine Demokratie, sehr wohl aber dieses Gefühl des »Ausgepresst-werdens« um der Profite willen. Es ist erkennbar, dass die Angst vor dem materiellen Absturz zu unserem System dazugehört. Das macht die Menschen gefügig, denn sie erleben sich – als Besitzlose – in einem Abhängigkeitsverhältnis. Diese Aura steht in einem entschiedenen Widerspruch zum humanistischen Menschenbild. So scheint doch unser eigentliches Problem, dass eine umfassende Demokratisierung unserer Gesellschaft noch ansteht.
Eigentlich wissen wir es doch. Ein kurzer Rückblick auf die Jahre 1918 bis 1945 wäre hilfreich. Als alles in Trümmern lag, war es Konsens, dass der Kapitalismus überwunden werden muss, so auch die CDU in ihren Aalener Programm 1947.
Es geht letztlich um einen grundlegenden Spurwechsel: Den Erfolg eines Jahres für eine Gesellschaft daran zu messen, ob noch mehr Waren produziert werden, deren Wertschöpfung vor allem bei der schmalen Schicht landet, die diese Zuwächse eigentlich schon längst nicht mehr benötigt, hat keinen Sinn. Wir sind Gefangene unserer unersättlichen Habgier, vor der alle Weisheitslehren und Religionen die Menschheit immer gewarnt haben.
Vom Haben zum Sein, darin könnte nach Meinung des deutsch-amerikanischen Psychoanalytikers Erich Fromm (1900-1980) ein Ausweg liegen. Für ihn waren unsere unermüdlichen Anhäufungszwänge vor allem eine Art Ersatzbefriedigung für einen erheblichen inneren Mangel. So empfahl er, das Augenmerk auf die Mehrung unseres inneren Reichtums zu richten, ein Mehr an Liebesfähigkeit, an Einfühlung in die Lebensverhältnisse anderer. Es wäre gleichzeitig ein Geschenk an die nachfolgenden Generationen, denen wir es schuldig sind, alles zu tun, dass deren Leben auf der Erde nicht zum Albtraum wird.