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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»… den Krieg in sich«

Wenn wir die gegen­wär­ti­gen Welt­ver­hält­nis­se auf uns wir­ken las­sen, dann sehen und erle­ben wir ein bis­her unbe­kann­tes Aus­maß an Kri­sen und Krie­gen sowie inner­ge­sell­schaft­li­che Ver­hält­nis­se, in denen Empa­thie, Sen­si­bi­li­tät und Mit­mensch­lich­keit immer mehr ver­drängt wer­den von einer gereiz­ten, aggres­siv auf­ge­la­de­nen Grund­hal­tung, die an den Fun­da­men­ten unse­rer frei­heit­lich-demo­kra­tisch sich ver­ste­hen wol­len­den Gesell­schafts­ord­nung rüt­telt. Es steht also nicht mehr und nicht weni­ger als die Akzep­tanz des huma­ni­sti­schen Men­schen­bil­des auf dem Spiel.

Die Staa­ten, die den »Westen« bil­den, sehen sich als die gei­sti­gen Erben der Tra­di­tio­nen des Huma­nis­mus und der Auf­klä­rung. Der Mensch soll frei sein kön­nen und bestärkt wer­den, sei­ne indi­vi­du­el­len Poten­tia­le zu ent­fal­ten. Dies ist ein fun­da­men­ta­ler Wider­spruch zu dem auto­ri­tär ver­stan­de­nen Men­schen­bild rech­ter bis rechts­extre­mer Par­tei­en, die eine Gesell­schaft anstre­ben, in der die Men­schen sich genö­tigt sehen zu Anpas­sung, Unter­ord­nung und Gehor­sam sowie zu einer struk­tu­rel­len Gewalt gegen sich selbst. Es ver­wun­dert immer wie­der, wie es mög­lich ist, dass Par­tei­en mit solch einer dürf­ti­gen Agen­da eine sol­che Anzie­hungs­kraft auf so vie­le Men­schen aus­üben kön­nen. Es scheint zu genü­gen, wenn einer, wie etwa der irr­lich­tern­de, und mora­lisch bank­rot­te Donald Trump, in jeder Hin­sicht über die Strän­ge schlägt, es also dem ver­hass­ten Estab­lish­ment so rich­tig zeigt. Man hat das Gefühl, dass Inhal­te dabei völ­lig unwich­tig werden.

Die­se Phä­no­me­ne sind nun in abge­schwäch­ter Form auch in Euro­pa zu beob­ach­ten. Die AfD ist kei­nes­wegs die Par­tei der »klei­nen Leu­te« oder der Aus­ge­beu­te­ten. Ihr Pro­gramm atmet den zwei­fel­haf­ten Duft einer ver­schärf­ten neo­li­be­ra­len Agen­da. Noch schlim­mer ist die­se gei­sti­ge Unfä­hig­keit, sich mit der zen­tra­len exi­sten­ti­el­len Her­aus­for­de­rung der Mensch­heit, der Kli­ma­kri­se, kon­struk­tiv aus­ein­an­der­zu­set­zen, sowie eine offen faschi­sti­sche Grund­hal­tung vor allem in den Migra­ti­ons­the­men. Die öffent­lich gewor­de­nen Remi­gra­ti­ons- oder bes­ser Depor­ta­ti­ons­fan­ta­sien in Pots­dam, gespeist aus der Angst vor dem »Frem­den«, las­sen einen Par­al­le­lis­mus im Den­ken von AfD-Funk­tio­nä­ren und der NSDAP offen zuta­ge tre­ten, was uns alle alar­mie­ren soll­te. Wo erst ein­mal der Begriff des »Kul­tur­frem­den« im öffent­li­chen Bewusst­sein eta­bliert ist, soll­te klar sein, dass die­se faschi­sti­sche Norm­set­zung letzt­lich alle bedroht, die ein selbst­be­stimm­tes Leben jen­seits aller Nöti­gung zu Anpas­sung und Unter­wer­fung füh­ren möchten.

Woher kommt die­se alle Gesell­schaf­ten des Westens durch­zie­hen­de destruk­ti­ve Wut und Empö­rung von so vie­len? Wir leben doch im Raum der Frei­heit und der Demo­kra­tie, in der besten aller Wel­ten, oder etwa nicht? Ist die Bin­dung an das huma­ni­sti­sche Men­schen­bild glaub­wür­dig? Für Mar­xi­sten ist der Aus­gangs­punkt ihres Den­kens, zu erken­nen, dass wir Men­schen zual­ler­erst Wesen sind mit grund­le­gen­den Bedürf­nis­sen. Wir wol­len essen und trin­ken, brau­chen ein Dach über dem Kopf, eine gute Arbeit, eine aus­rei­chen­de Kran­ken­ver­sor­gung, gute Schu­len, Kul­tur­zu­gän­ge, um in Wür­de leben zu kön­nen. Das mate­ria­li­sti­sche Men­schen­bild meint genau dies: Wir brau­chen nicht über Men­schen­rech­te zu reden, wenn wir nicht bereit sind, eine Gesell­schaft in der Wei­se aus­zu­rich­ten, dass sie die Deckung die­ser grund­le­gen­den Bedürf­nis­se aller Bür­ger zur zen­tra­len Kern­auf­ga­be erklärt. Das kann man lei­der nicht von den west­li­chen Gesell­schaf­ten behaup­ten. Wir leben in einem System, das so struk­tu­riert ist, dass ca. 10 Pro­zent ganz erheb­li­che Wohl­stands­zu­wäch­se kon­ti­nu­ier­lich erzie­len. Die Kon­se­quenz dar­aus ist, dass wir mitt­ler­wei­le die Rück­kehr des Feu­da­lis­mus erle­ben. Eini­ge weni­ge besit­zen so viel wie die »unte­ren« 50 Pro­zent der Mensch­heit. Es ist doch offen­sicht­lich: Wenn der Reich­tum in den Hän­den weni­ger kon­zen­triert ist, so ist der Man­gel unaus­weich­lich. Unser Blick etwa auf die öffent­li­chen Güter, ange­fan­gen vom Zustand der Bahn über den feh­len­den Bestand an bezahl­ba­rem Wohn­raum, beson­ders Sozi­al­woh­nun­gen, bis hin zur Unter­fi­nan­zie­rung unse­rer Kran­ken­häu­ser zeigt, dass es um die aus­rei­chen­de Befrie­di­gung der Grund­be­dürf­nis­se der Mehr­heit schlecht bestellt ist.

Es gilt also, zu dif­fe­ren­zie­ren. Unse­re Demo­kra­tie beschränkt sich auf klar ein­ge­grenz­te »Räu­me«. Der Kapi­ta­lis­mus gehört dazu nicht. Er ist ein System, das so ange­legt ist, dass am Ende eine Min­der­heit pro­fi­tiert, die über­wie­gen­de Mehr­heit jedoch in Demut und Dank­bar­keit die Bro­sa­men anzu­neh­men hat. Das Pri­vat­ei­gen­tum an den Pro­duk­ti­ons­mit­teln ist die ent­schei­den­de Quel­le der Macht – und Garant für die ste­tig wach­sen­de Ungleich­heit der Ein­kom­men. Hier gibt es kei­ne Demo­kra­tie, son­dern kla­re hier­ar­chi­sche Bezie­hun­gen. Macht trifft auf Ohn­macht. Die zag­haf­ten Gedan­ken von Mit­be­stim­mung und Wirt­schafts­de­mo­kra­tie in den 1970er Jah­ren sind längst ver­ges­sen. Wir leben in Herr­schafts­ver­hält­nis­sen. Wenn wir beden­ken, wie vie­le Stun­den täg­lich Men­schen für den Pro­duk­ti­ons­pro­zess auf­wen­den, so scheint es nicht ver­mes­sen, dort eine Quel­le von auf­ge­stau­ter Wut und Empö­rung zu ver­mu­ten. Wenn noch hin­zu­kommt, dass trotz all der täg­li­chen Mühen das Ein­kom­men so gering ist, dass die zen­tra­len Grund­be­dürf­nis­se nur unzu­rei­chend gedeckt wer­den kön­nen, so kann die Wut voll­ends in destruk­ti­ves Fahr­was­ser gera­ten, erst dann gewinnt die Ideo­lo­gie der Men­schen­ver­ach­tung einen Resonanzraum.

Ber­tolt Brechts State­ment – erst kommt das Fres­sen, dann kommt die Moral – ent­hält eine tie­fe Weis­heit, viel­leicht sogar einen Schlüs­sel zum Ver­ste­hen die­ser völ­lig irra­tio­na­len Sym­pa­thien der Wut­ent­brann­ten für Par­tei­en und Per­so­nen, die eigent­lich nichts zu bie­ten haben.

Wir wis­sen um die Bemü­hun­gen füh­ren­der Poli­ti­ker, die öko­no­mi­schen Ver­hält­nis­se weich­zu­zeich­nen. »You never walk alo­ne« als Ver­such der Eta­blie­rung einer Schein­welt zur Beru­hi­gung der Gemü­ter. Jedoch ist der Geist des Kapi­ta­lis­mus von der Art, dass er gna­den­los und empa­thie­los das eige­ne Inter­es­se auf Kosten ande­rer durch­set­zen will. Es ist eine Hal­tung der Selbst­be­zo­gen­heit, die ohne Ein­füh­lungs­ver­mö­gen den eige­nen Vor­teil maxi­mie­ren will, wor­aus zwangs­läu­fig Kon­flik­te ent­ste­hen müssen.

Yash Tan­don beschreibt in sei­nem Buch »Han­del ist Krieg«, in wel­cher Art und Wei­se Frei­han­dels­ab­kom­men zwi­schen der Euro­päi­schen Uni­on und den afri­ka­ni­schen Län­dern ver­ein­bart wer­den. Er selbst nahm als Ver­tre­ter sei­nes Hei­mat­lan­des Ugan­da sowie als fach­kun­di­ger Bera­ter der afri­ka­ni­schen Regie­run­gen dar­an teil. Er beschreibt die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die Unter­zeich­nung von Wirt­schafts­part­ner­schafts­ab­kom­men (WPAs) und cha­rak­te­ri­siert die­se »Ver­hand­lun­gen« als Nöti­gung der afri­ka­ni­schen Regie­rungs­chefs, etwas zu unter­schrei­ben, das zwangs­läu­fig gro­ße Ver­wer­fun­gen in ihren Län­dern aus­lö­sen muss­te. War­um taten sie es den­noch? Der Grund dafür sind die wei­ter bestehen­den Abhän­gig­kei­ten in Form von Hilfs­lei­stun­gen durch die EU. Dies ist dann der Hebel, um das eige­ne Berei­che­rungs­ziel zu maxi­mie­ren, ohne Rück­sicht auf mög­li­che Kollateralschäden.

Abkom­men sol­cher Art trei­ben vie­le Men­schen in die Armut und damit oft auch in den Tod. So ist es ein Mär­chen, dass der Frei­han­del dem Wohl aller Natio­nen dient. Auch das ist eine »Weich­zeich­nung«. Des­halb spitzt Tan­don zu: Er nennt den Han­del Krieg, weil er töd­lich sein kann, gleich­sam eine Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fe. So schafft die­se Art von Han­del Reich­tum am einen und Armut am ande­ren Ende.

Die Kon­se­quenz der mas­sen­haf­ten Zer­stö­rung der Lebens­grund­la­gen so vie­ler afri­ka­ni­scher Klein­bau­ern ist, dass sie zu Wirt­schafts­flücht­lin­gen ent­we­der in ihren eige­nen Län­dern wer­den oder sich auf den Weg nach Euro­pa machen auf der ver­zwei­fel­ten Suche nach einer trag­fä­hi­gen neu­en Lebens­grund­la­ge. Die­ses Bei­spiel ist nur ein Teil von einer seit über 500 Jah­ren wir­ken­den Kon­ti­nui­tät. Es offen­bart die DNA des Kapi­ta­lis­mus. Es ist Aus­druck eines Krie­ges zwi­schen den rei­chen Natio­nen und dem Rest der Welt.

Die Fra­ge nach dem Wesen des Kapi­ta­lis­mus, jen­seits aller Weich­zeich­nun­gen, beschäf­tig­te auch Jean Jau­rès (1856-1914), Vor­sit­zen­der der fran­zö­si­schen Sozia­li­sten, einer der ganz gro­ßen Gestal­ten in der Blü­te­zeit der euro­päi­schen Arbei­ter­be­we­gung. Die Quint­essenz sei­nes Nach­den­kens fass­te er in dem Satz zusam­men: »Der Kapi­ta­lis­mus trägt den Krieg in sich, wie die Wol­ke den Regen.«

Es ist eine der viel­leicht gro­ßen Tra­gö­di­en unse­rer Zeit, dass die orga­ni­sier­te Arbei­ter­be­we­gung, in Gestalt der Sozi­al­de­mo­kra­tie, ihr Behar­ren auf einen grund­le­gend ande­ren Gesell­schafts­ent­wurf, eine lin­ke Uto­pie, auf­ge­ge­ben hat. Dies schuf immer auch bei den Mil­lio­nen, die an einem unge­rech­ten System zu lei­den hat­ten, Hoff­nung, dass die Zukunft, zumin­dest ihrer Kin­der, Bes­se­res bereit­hält. Wer völ­lig des­il­lu­sio­niert ist, der ist in Gefahr, inner­lich zu ver­gif­ten. Die Idee des Sozia­lis­mus war und ist der Ver­such, nach­zu­wei­sen, dass eine Gesell­schaft jen­seits der elen­den Berei­che­rungs­sucht einer Min­der­heit auf die Deckung der grund­le­gen­den Lebens­be­dürf­nis­se aller Men­schen hin aus­ge­rich­tet wer­den kann. Eine Gesell­schaft also, die fähig ist zu einer wah­ren Mensch­lich­keit und zu Friedfertigkeit.

Zurück zu den Wut­ent­brann­ten und Empör­ten: Es reicht nicht, die­se dafür zu ver­ur­tei­len, dass sie den Geg­nern der Mensch­lich­keit ihre Unter­stüt­zung zusi­chern. Wir müs­sen der Wut auf den Grund gehen. Wir wis­sen, dass »unse­re Demo­kra­tie« wesent­li­che Berei­che des gesell­schaft­li­chen Lebens nicht umfasst. Unser Wirt­schafts­sy­stem kennt kei­ne Demo­kra­tie, sehr wohl aber die­ses Gefühl des »Aus­ge­presst-wer­dens« um der Pro­fi­te wil­len. Es ist erkenn­bar, dass die Angst vor dem mate­ri­el­len Absturz zu unse­rem System dazu­ge­hört. Das macht die Men­schen gefü­gig, denn sie erle­ben sich – als Besitz­lo­se – in einem Abhän­gig­keits­ver­hält­nis. Die­se Aura steht in einem ent­schie­de­nen Wider­spruch zum huma­ni­sti­schen Men­schen­bild. So scheint doch unser eigent­li­ches Pro­blem, dass eine umfas­sen­de Demo­kra­ti­sie­rung unse­rer Gesell­schaft noch ansteht.

Eigent­lich wis­sen wir es doch. Ein kur­zer Rück­blick auf die Jah­re 1918 bis 1945 wäre hilf­reich. Als alles in Trüm­mern lag, war es Kon­sens, dass der Kapi­ta­lis­mus über­wun­den wer­den muss, so auch die CDU in ihren Aale­ner Pro­gramm 1947.

Es geht letzt­lich um einen grund­le­gen­den Spur­wech­sel: Den Erfolg eines Jah­res für eine Gesell­schaft dar­an zu mes­sen, ob noch mehr Waren pro­du­ziert wer­den, deren Wert­schöp­fung vor allem bei der schma­len Schicht lan­det, die die­se Zuwäch­se eigent­lich schon längst nicht mehr benö­tigt, hat kei­nen Sinn. Wir sind Gefan­ge­ne unse­rer uner­sätt­li­chen Hab­gier, vor der alle Weis­heits­leh­ren und Reli­gio­nen die Mensch­heit immer gewarnt haben.

Vom Haben zum Sein, dar­in könn­te nach Mei­nung des deutsch-ame­ri­ka­ni­schen Psy­cho­ana­ly­ti­kers Erich Fromm (1900-1980) ein Aus­weg lie­gen. Für ihn waren unse­re uner­müd­li­chen Anhäu­fungs­zwän­ge vor allem eine Art Ersatz­be­frie­di­gung für einen erheb­li­chen inne­ren Man­gel. So emp­fahl er, das Augen­merk auf die Meh­rung unse­res inne­ren Reich­tums zu rich­ten, ein Mehr an Lie­bes­fä­hig­keit, an Ein­füh­lung in die Lebens­ver­hält­nis­se ande­rer. Es wäre gleich­zei­tig ein Geschenk an die nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen, denen wir es schul­dig sind, alles zu tun, dass deren Leben auf der Erde nicht zum Alb­traum wird.