Man müsse »den Krieg neu denken«, schreibt Eric Gujer in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), denn die Natur des Krieges habe sich gewandelt, »seit das autoritäre Quartett aus Russland, China, Iran und Nordkorea diesen als Mittel zur Durchsetzung seiner Interessen betrachtet«. Da ist sie wieder, die Gujer’sche Sicht auf die drängendsten Probleme unserer Gegenwart, die er in gewohnter Manier rhetorisch wortgewaltig auf der NZZ-Titelseite an seine Leserschaft richtet und am Ende konstatiert, dass infolge des Ukrainekrieges nun auch das atomare Tabu gefallen sei: »Ein Atomkrieg ist wieder mehr als eine gänzlich realitätsferne Hypothese.« Ich frage mich, ob Gujer insgeheim nicht gern seinen Text mit dem Stoßseufzer »endlich« beendet hätte, räume aber zugleich eine gewisse Despektierlichkeit dieser Frage ein.
Gujer bedient aber einmal mehr die gängigen bellizistischen Narrative zum Ukrainekrieg, obwohl auch er wissen müsste, dass die Ursachen für diesen Krieg (insbesondere für den Kriegsverlauf) außerordentlich komplex sind und damit zwangsläufig auch diesbezügliche Lösungsansätze. Zumindest dann, wenn sie nicht ausschließlich militärlogisch betrachtet werden. Doch nur allzu gern wird beim Festhalten an solchen bellizistischen Denkmustern das eigene politische Fehlverhalten tabuisiert, um die darauf abzielende Kritik stereotyp abzuwehren. Und nur so ist auch zu erahnen, wie es Bundesverteidigungsminister Pistorius tatsächlich gelingen konnte, den klobigen Bundeswehrapparat mitsamt der Öffentlichkeit ad hoc auf eine »Kriegstauglichkeit« einzuschwören, ohne zuvor das jahrzehntelange militärische Totalversagen in Afghanistan lückenlos aufzuklären, an dem die Bundeswehr ja maßgeblich beteiligt gewesen ist.
Der Krieg in der Ukraine geht nun in das dritte Jahr und trotz aller dystopisch anmutenden militärischen Meldungen von den dortigen Kriegsschauplätzen ertönt der Ruf nach immer weiteren Waffen noch immer derart laut und siegessicher, als könne es keinen bellizistischen Morgen mehr geben. In der gleichen NZZ-Ausgabe hat der Schriftsteller Sergei Gerasimow, den die rechtspopulistische Schweizer WELTWOCHE gern als »Hassprediger von Charkiw« beschimpft, einen Essay veröffentlicht, in dem er Szenarien für den weiteren Kriegsverlauf in der Ukraine entwickelt und dabei überraschend militärkritische Töne anschlägt. Putin komme einer Blackbox gleich, die »schwarz, intransparent und unkalkulierbar« sei: »Aus ebendiesem Grund gibt der kollektive Westen der Ukraine auch nicht jene Waffen, die es ihr ermöglichen würde, ernsthafte Siege auf dem Schlachtfeld zu erringen.« Am Ende warnt er davor, dass es in Russland »zu blutigen Unruhen, zum Zusammenbruch des russischen Zentralstaates und in der Folge zu einer unkontrollierten Verbreitung von Atomwaffen in der ganzen Welt kommen« könne. Die freiheitlich-demokratische Welt sei deshalb gefordert, »nach intelligenten, unkonventionellen und proaktiven Lösungen zu suchen«, allerdings mangele es ihr »derzeit an entscheidenden Ressourcen wie Willen, Aufrichtigkeit oder Weisheit«. Und am Ende schreibt Gerasimow in niederschmetterndem Duktus: »Je länger aber dieser Krieg andauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass einige der schlimmsten Szenarien eintreten werden.«
Wie könnten aber der von ihm geforderte Wille, die Aufrichtigkeit und die Weisheit aussehen, um konstruktiv Einfluss auf jenen erbarmungslosen Abnutzungskrieg zu nehmen? Tatsächlich nur mit einem Verharren in bellizistischen Denkkategorien? Oder endlich doch in ernsthaften diplomatischen Bemühungen, um zumindest zunächst einmal auf einen Waffenstillstand in der Ukraine hinzuwirken und um damit die Voraussetzungen für weitere Verhandlungsschritte zu schaffen? Trotz aller wohl auch berechtigten Zweifel an solchen Überlegungen sollte das nun endlich einmal aufrichtig versucht werden. Die Publizistin Carolin Emcke fordert am Erscheinungstag des Gujer-Textes in der Süddeutschen Zeitung im Hinblick auf die gesellschaftspolitischen Herausforderungen für die folgenden Generationen, mehr »über politische Hoffnungen zu reden«, denn »ohne politische Sehnsucht, ohne Erzählungen vom Glück können wir die Demokratie nicht retten«, so Emcke. Wer wollte ihr da widersprechen? Und wer könnte weiter ernsthaft daran glauben, dass sich eine solche Art von Glück angesichts der aktuellen (und erwartbaren) globalen Multikrisen, von der der Krieg in der Ukraine ja nur ein Teil ist, herbeibomben ließe? »Den Krieg neu denken«, fordert Gujer in der NZZ. Aber die Klimakrise, die Kämpfe um Rohstoffe, um Wasser und die daraus resultierenden Konflikte und Fluchtbewegungen werden mit militärischen Mitteln nicht lösbar sein. Deshalb gilt auch weiterhin: Der Frieden ist neu zu denken und der Krieg ist unwiderruflich und damit endgültig zu ächten!
Buchempfehlung zu diesem Thema: Hermann Theisen/Helmut Donat (Hrsg.): Bedrohter Diskurs – Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg, Donat Verlag, Bremen 2024, 368 S., 24,80 €.