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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Den Feind entfeinden

Der bri­ti­sche Poli­ti­ker und Pazi­fist Arthur Pon­son­by hat in sei­nen Stu­di­en zur Neue­ren Geschich­te fest­ge­stellt, dass von Staats­män­nern vor dem Beginn von Krie­gen stets beteu­ert wor­den ist, ganz grund­sätz­lich gegen den Krieg zu sein und die dem Krieg imma­nen­ten Grau­sam­kei­ten und Ver­bre­chen kate­go­risch abzu­leh­nen. Und doch fin­den bis heu­te welt­weit Krie­ge statt und kommt es dabei ste­reo­typ zu unvor­stell­ba­ren Grau­sam­kei­ten zwi­schen den Kriegs­be­tei­lig­ten. Und in weni­gen Wochen jährt sich der rus­si­sche Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne bereits zum ersten Mal. Wie ist das mög­lich? Und was hat das mit uns selbst zu tun?

Das sind bana­le und zugleich höchst kom­ple­xe Fra­gen, auf die es kei­ne ein­fa­chen Ant­wor­ten gibt. Ganz grund­sätz­lich kann kon­sta­tiert wer­den, dass ein Krieg sei­nem Wesen nach voll­kom­men sinn­frei ist, wenn man unter Sinn etwas ver­steht, was für alle Kon­flikt­be­tei­lig­ten erstre­bens­wert sein soll. In klei­nen und gro­ßen (Kriegs)Konflikten ver­hält es sich häu­fig so, dass die Ver­ant­wor­tung für die Ursa­chen und den Ver­lauf des Kon­flikt­ge­sche­hens aus­schließ­lich bei der geg­ne­ri­schen Sei­te ver­or­tet wird, wäh­rend die Ver­ant­wor­tung für das eige­ne Han­deln tabui­siert wird. Die Kon­flikt­par­tei­en unter­schei­den sich dabei nur durch den Blick aus ihrer jeweils ande­ren Per­spek­ti­ve auf das Konfliktgeschehen.

Vik­tor E. Frankl, der Ausch­witz-Über­le­ben­de und Begrün­der der Logo­the­ra­pie hat ein Leben lang inten­siv nach den Ursa­chen und der Lösung von Kon­flik­ten geforscht und bei­des zum zen­tra­len Gegen­stand sei­ner logo­the­ra­peu­ti­schen Arbeit gemacht. Dabei hat er sich fort­wäh­rend mit der Fra­ge nach der Wirk­sam­keit von »dem ersten Schritt« und der »fina­len Vor­lei­stung« für den Ver­lauf und die Lösung von Kon­flik­ten beschäf­tigt. Auf den Ver­lauf eines Krie­ges bezo­gen mögen sol­che ersten Schrit­te und fina­le Vor­lei­stun­gen zunächst naiv und illu­so­risch erschei­nen, aber auch ein Krieg begann irgend­wann, und auch ein Krieg endet irgend­wann. Dazwi­schen liegt nur all­zu oft eine lan­ge Strecke der Kriegs­pro­pa­gan­da, die es zu ver­ste­hen gilt, um damit kon­struk­tiv auf den wei­te­ren Kriegs­ver­lauf Ein­fluss neh­men zu können.

Die bel­gi­sche Histo­ri­kern Anne Morel­li hat die Prin­zi­pi­en der Kriegs­pro­pa­gan­da zu einem ihrer For­schungs­schwer­punk­te gemacht und dabei zehn Kate­go­rien auf­ge­stellt: 1. Wir wol­len kei­nen Krieg. 2. Das feind­li­che Lager trägt die allei­ni­ge Schuld am Krieg. 3. Der Feind hat dämo­ni­sche Züge. 4. Wir kämp­fen für eine gute Sache und nicht für eigen­nüt­zi­ge Zie­le. 5. Der Feind begeht mit Absicht Grau­sam­kei­ten. Wenn uns Feh­ler unter­lau­fen, dann nur ver­se­hent­lich. 6. Der Feind ver­wen­det uner­laub­te Waf­fen. 7. Unse­re Ver­lu­ste sind gering, die des Geg­ners aber enorm. 8. Unse­re Sache wird von Künst­lern und Intel­lek­tu­el­len unter­stützt. 9. Unse­re Mis­si­on ist hei­lig. 10. Wer unse­re Bericht­erstat­tung in Zwei­fel zieht, ist ein Ver­rä­ter. In ihren Unter­su­chun­gen zu den Krie­gen der ver­gan­ge­nen zwei Jahr­hun­der­te sind Morel­li die vor­ge­nann­ten Kriegs­prin­zi­pi­en immer wie­der begeg­net, was sie im Ergeb­nis zu der Fra­ge geführt hat, ob sie von den Kriegs­par­tei­en bis in die Gegen­wart nicht ganz bewusst ein­ge­setzt wer­den, um eine kriegs­kri­ti­sche Hal­tung in der jewei­li­gen Bevöl­ke­rung zu ver­hin­dern. Ihre Ant­wort dar­auf lau­tet: »Ja, wir schen­ken heu­te Lügen­mär­chen genau­so Glau­ben, wie die Gene­ra­tio­nen vor uns. Das Mär­chen von den kuwai­ti­schen Babys, die von ira­ki­schen Sol­da­ten aus ihren Brut­kä­sten geris­sen wur­den, steht dem von den bel­gi­schen Säug­lin­gen, denen man angeb­lich die Hän­de abge­hackt hat­te, in nichts nach. Bei­de haben ihren Zweck erfüllt, unser Mit­ge­fühl zu wecken, das heißt sie wur­den von einem Groß­teil der Bevöl­ke­rung bereit­wil­lig ›geschluckt‹.« Das gel­te umso mehr, »da ohne die Zustim­mung der Bevöl­ke­rung heu­te ein Krieg weder erklärt noch geführt wer­den kann«, so Morel­li, die des­halb zusam­men­fas­send for­dert: »Es ist an uns zu zwei­feln. Ganz gleich, ob wir uns in einem hei­ßen, kal­ten oder lau­war­men Krieg befinden.«

Der Krieg in der Ukrai­ne befin­det sich inzwi­schen bereits seit mehr als 300 Tagen in einer hei­ßen Pha­se, und der ukrai­ni­sche Prä­si­dent Selen­skyj hat erst vor weni­gen Tagen in einer dra­ma­ti­schen Rede vor dem US-Kon­gress erneut auf die Lie­fe­rung von schwe­ren Pan­zern und Kampf­flug­zeu­gen mit fol­gen­den Wor­ten gedrängt: »Die­ser Kampf wird dar­über bestim­men, in wel­cher Welt unse­re Kin­der leben«, so Selen­skyj. Die Reak­ti­on Russ­lands ließ nicht lan­ge auf sich war­ten. In einer Rede vor dem Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­ri­um zeig­te sich der rus­si­sche Prä­si­dent Putin sie­ges­si­cher, sein Land wer­de alle mili­tä­ri­schen Zie­le in der Ukrai­ne errei­chen. Zugleich schwor er Trup­pen und die Bevöl­ke­rung auf einen anhal­ten­den Kon­flikt ein.

Wie kann ein der­art fest­ge­fah­re­ner Kriegs­ver­lauf zu einem Ende kom­men? Was kann und muss hier Diplo­ma­tie bewir­ken? Den Feind ent­fein­den und uns selbst befrie­den, könn­te viel­leicht ein erster Schritt sein. Denn »unter den schwan­ken­den Füßen schwim­men die Wol­ken davon« (Gün­ter Eich), wenn wir nicht end­lich ver­su­chen, sie aufzuhalten.