Der britische Politiker und Pazifist Arthur Ponsonby hat in seinen Studien zur Neueren Geschichte festgestellt, dass von Staatsmännern vor dem Beginn von Kriegen stets beteuert worden ist, ganz grundsätzlich gegen den Krieg zu sein und die dem Krieg immanenten Grausamkeiten und Verbrechen kategorisch abzulehnen. Und doch finden bis heute weltweit Kriege statt und kommt es dabei stereotyp zu unvorstellbaren Grausamkeiten zwischen den Kriegsbeteiligten. Und in wenigen Wochen jährt sich der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bereits zum ersten Mal. Wie ist das möglich? Und was hat das mit uns selbst zu tun?
Das sind banale und zugleich höchst komplexe Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Ganz grundsätzlich kann konstatiert werden, dass ein Krieg seinem Wesen nach vollkommen sinnfrei ist, wenn man unter Sinn etwas versteht, was für alle Konfliktbeteiligten erstrebenswert sein soll. In kleinen und großen (Kriegs)Konflikten verhält es sich häufig so, dass die Verantwortung für die Ursachen und den Verlauf des Konfliktgeschehens ausschließlich bei der gegnerischen Seite verortet wird, während die Verantwortung für das eigene Handeln tabuisiert wird. Die Konfliktparteien unterscheiden sich dabei nur durch den Blick aus ihrer jeweils anderen Perspektive auf das Konfliktgeschehen.
Viktor E. Frankl, der Auschwitz-Überlebende und Begründer der Logotherapie hat ein Leben lang intensiv nach den Ursachen und der Lösung von Konflikten geforscht und beides zum zentralen Gegenstand seiner logotherapeutischen Arbeit gemacht. Dabei hat er sich fortwährend mit der Frage nach der Wirksamkeit von »dem ersten Schritt« und der »finalen Vorleistung« für den Verlauf und die Lösung von Konflikten beschäftigt. Auf den Verlauf eines Krieges bezogen mögen solche ersten Schritte und finale Vorleistungen zunächst naiv und illusorisch erscheinen, aber auch ein Krieg begann irgendwann, und auch ein Krieg endet irgendwann. Dazwischen liegt nur allzu oft eine lange Strecke der Kriegspropaganda, die es zu verstehen gilt, um damit konstruktiv auf den weiteren Kriegsverlauf Einfluss nehmen zu können.
Die belgische Historikern Anne Morelli hat die Prinzipien der Kriegspropaganda zu einem ihrer Forschungsschwerpunkte gemacht und dabei zehn Kategorien aufgestellt: 1. Wir wollen keinen Krieg. 2. Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld am Krieg. 3. Der Feind hat dämonische Züge. 4. Wir kämpfen für eine gute Sache und nicht für eigennützige Ziele. 5. Der Feind begeht mit Absicht Grausamkeiten. Wenn uns Fehler unterlaufen, dann nur versehentlich. 6. Der Feind verwendet unerlaubte Waffen. 7. Unsere Verluste sind gering, die des Gegners aber enorm. 8. Unsere Sache wird von Künstlern und Intellektuellen unterstützt. 9. Unsere Mission ist heilig. 10. Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter. In ihren Untersuchungen zu den Kriegen der vergangenen zwei Jahrhunderte sind Morelli die vorgenannten Kriegsprinzipien immer wieder begegnet, was sie im Ergebnis zu der Frage geführt hat, ob sie von den Kriegsparteien bis in die Gegenwart nicht ganz bewusst eingesetzt werden, um eine kriegskritische Haltung in der jeweiligen Bevölkerung zu verhindern. Ihre Antwort darauf lautet: »Ja, wir schenken heute Lügenmärchen genauso Glauben, wie die Generationen vor uns. Das Märchen von den kuwaitischen Babys, die von irakischen Soldaten aus ihren Brutkästen gerissen wurden, steht dem von den belgischen Säuglingen, denen man angeblich die Hände abgehackt hatte, in nichts nach. Beide haben ihren Zweck erfüllt, unser Mitgefühl zu wecken, das heißt sie wurden von einem Großteil der Bevölkerung bereitwillig ›geschluckt‹.« Das gelte umso mehr, »da ohne die Zustimmung der Bevölkerung heute ein Krieg weder erklärt noch geführt werden kann«, so Morelli, die deshalb zusammenfassend fordert: »Es ist an uns zu zweifeln. Ganz gleich, ob wir uns in einem heißen, kalten oder lauwarmen Krieg befinden.«
Der Krieg in der Ukraine befindet sich inzwischen bereits seit mehr als 300 Tagen in einer heißen Phase, und der ukrainische Präsident Selenskyj hat erst vor wenigen Tagen in einer dramatischen Rede vor dem US-Kongress erneut auf die Lieferung von schweren Panzern und Kampfflugzeugen mit folgenden Worten gedrängt: »Dieser Kampf wird darüber bestimmen, in welcher Welt unsere Kinder leben«, so Selenskyj. Die Reaktion Russlands ließ nicht lange auf sich warten. In einer Rede vor dem Verteidigungsministerium zeigte sich der russische Präsident Putin siegessicher, sein Land werde alle militärischen Ziele in der Ukraine erreichen. Zugleich schwor er Truppen und die Bevölkerung auf einen anhaltenden Konflikt ein.
Wie kann ein derart festgefahrener Kriegsverlauf zu einem Ende kommen? Was kann und muss hier Diplomatie bewirken? Den Feind entfeinden und uns selbst befrieden, könnte vielleicht ein erster Schritt sein. Denn »unter den schwankenden Füßen schwimmen die Wolken davon« (Günter Eich), wenn wir nicht endlich versuchen, sie aufzuhalten.