Das rechtsextreme »Geheimtreffen«, dessen Geheimnisse inzwischen weitgehend gelüftet sind, hat unerwartete Folgen: Zehntausende sind bundesweit auf den Straßen, um »gegen rechts« zu demonstrieren. Angesichts der Tatsache, dass jede Menge Nazis diesem Land in vielen gesellschaftlichen Bereichen nach 1945 ihren Stempel aufgedrückt haben, ohne dass massenhaft protestiert wurde, klingen Parolen wie »Kein Platz für Nazis« ermutigend. Niemand will mit Neo-Nazis zu tun haben, so wenig wie mit Kopfschmerzen oder Durchfall. Halten solche Symptome an, wird, der Vernunft folgend, ärztlicher Rat eingeholt, um dem Krankheitsgeschehen auf den Grund zu gehen, damit therapeutische Maßnahmen ergriffen werden können. Neo-Nazismus ist wie ein Geschwür am gesellschaftlichen Körper, dem die Demonstrierenden den Kampf ansagen. Nun müsste die kollektive Vernunft fragen, welche gesellschaftliche Krankheit dieses Symptom hervorgebracht hat – was sie unterlässt: Ergebnis ist die Realitätsverleugnung eines jahrzehntelangen gesellschaftlichen »Rutsches nach rechts«, der dem Reflexions- und Handlungshorizont der Protestierenden fernbleibt.
»Remigration« im großen Stil, anscheinend ein zentrales Thema bei dem ausgespähten Treffen in Berlin, ist zum Impulsgeber für viele Menschen geworden – und wurde inzwischen zum »Unwort des Jahres« gekürt. Remigration meint Rückwanderung von Menschen in ihre Heimatländer, wenn sie ein Gastland verlassen wollen, freiwillig, den eigenen Lebensplanungen entsprechend. Die Asylpolitik der EU und Deutschlands in den letzten Jahrzehnten hat ein repressives Definitionskriterium ergänzt: erzwungene Entfernung von Menschen aus der Gesellschaft, aggressive Vertreibung von schutz- und asylsuchenden Menschen, ob sie schon hier leben oder die EU bzw. Deutschland zu Zielen ihrer Flucht gewählt haben. Feindselig gegen »Fremde«, ist diese Politik unvereinbar mit Flüchtlingskonventionen und Menschenrechtschartas. Zehntausende, die auf dem Boden des Mittelmeeres als Opfer der europäischen Repulsionspolitik ihr Grab gefunden haben, in Nordafrika an den Zäunen der spanischen Exklaven und in den Wüsten verreckt, im Osten Europas verhungert, erfroren oder von Stacheldraht zerfetzt worden sind, wie auch die künftig – noch perfekter gesetzlich legitimiert – Gequälte und Getötete, werfen drängende Fragen auf. Ihr Schicksal ist zugleich Antwort: Es gibt keine substanziellen Unterschiede zwischen dieser in Gesetzesform gegossenen, asylpolitisch legalisierten Remigration und jener, über die irgendwelche rechtsradikalen Fantasten sinnieren. Die Demonstrierenden »gegen rechts« irritiert offensichtlich nicht, dass der gewaltsame Rauswurf heute euphemistisch hinter dem Etikett »Rückführung« versteckt wird.
Ja, aber, werden Demonstranten antworten, wir geben Menschen aus vielen Teilen der Welt doch Perspektiven, Einbürgerung wird erleichtert, Arbeitserlaubnisse können schneller erteilt werden, während die Rechten alles, was wir an Gutem tun, »plattmachen« wollen. Sie übersehen, dass im sogenannten »Asylpaket« ein rassistisches Modul steckt, das die Demonstrierenden per aktiver Akklamation gutheißen: »Menschenmaterial« für eigene Interessen und Bedürfnissen zur Verfügung zu haben, ist für das wohlstandsverwöhnte Denken und Handeln selbstverständlich. Die Rekrutierung von Fachkräften, Pflegepersonal, Lückenfüllern in den Berufen, in denen deutsche Arbeitskräfte fehlen, erinnert fatal an eine kolonialistische Sklavenhaltermentalität, die in Südeuropa in der Landwirtschaft und hier in Mitteleuropa im Menschenhandel, etwa im Bereich der Prostitution, seit Jahrzehnten wiederbelebt worden ist. Dienstbare Verfügungsmasse wird aus Gegenden des globalen Südens herangeschafft: Ihre Zukunft, ihr Auskommen, ihre Lebensperspektiven, ihr Zuhause wurden durch neo-liberale »Schock-Strategie« (Naomi Klein) landschaftlich und sozial verwüstet, vom – auch deutschen – Neo-Kolonialismus in Besitz genommen. Sie kommen als Opfer legalen, aber in seinem Kern rassistischen Zwangs, auch wenn »Dienstpersonal rekrutieren« im heutigen Politsprech »Arbeitskräfte anwerben« heißt: noch ein rechtslastiger Euphemismus, der demonstrativ im Taumel »gegen rechts« untergeht.
Die Erinnerung muss nicht ins 19. oder 20. Jahrhundert und nach Südostafrika zurückwandern. In den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden hunderttausende Zwangsarbeiter nicht nur für die Rüstungsproduktion der Nationalsozialisten, sondern auch für das Wohlergehen der Bevölkerung, ob an den Fronten oder zu Hause, nach Deutschland verschleppt. Diese Gewalt gegen Menschen, werden Demonstrierende rufen, sei mit Asyl und Einbürgerung von geflüchteten Menschen oder legaler Immigration nicht zu vergleichen, sie werden nicht mit vorgehaltenem Sturmgewehr als »Untermenschen« gezwungen, für uns zu malochen. Ihnen entgeht, dass moderne Zwangsarbeit eine verkappte Fortsetzung der entmündigenden Knechtung ist, die Menschen auf der Südhalbkugel jahrhundertlang ausgenutzt und missbraucht hat. Wie eh und je, extensiviert vom faschistischen Perfektionismus, können die nützlichen Dienstbaren bleiben, der Rest wird in eine perspektivlose Zukunft verfrachtet. Wo und wann demonstrieren die »gegen rechts« Aufstehenden auch gegen diese rechts-lastigen, legal-rassistischen Umgangsformen mit Menschen jenseits des Hunger-Äquators?
Welche Szenarien immer rechte Debattierklubs oder Planungszirkel entwerfen mögen, die legalisierte gesellschaftliche Realität ist ihnen voraus. Nicht nur werden Seenotretter behindert oder kriminalisiert, die europäische Grenzschutzorganisation Frontex oder die italienische Küstenwache drängen unter dem Vorwand, gegen Schleuser vorzugehen, Flüchtlinge zurück nach Nordafrika. Die nordafrikanischen Staaten werden mit Hunderten von Millionen Euro dafür bezahlt, dass sie geflüchtete Menschen »zurücknehmen« oder verhindern, dass sie den afrikanischen Kontinent in Richtung Europa verlassen. Menschen, die dort ausharren in der Hoffnung, irgendwann nach Europa zu gelangen, werden auf europäisches Geheiß in Internierungslager gepfercht: Zwar enden sie nicht in Gasöfen und Krematorien, sind aber Gewalt und Rechtlosigkeit schutzlos ausgeliefert.
Das »offizielle« Rutschen nach rechts beschleunigt die deutsche Regierung aktuell mit ihrer Unterstützung der israelischen Regierung, einem Haufen überwiegend verbrecherischer Militaristen und Rassisten, bei ihren erfolgreichen Versuchen, Gaza dem Erdboden gleich zu machen und seine Bevölkerung zu ermorden oder zu vertreiben. Sie lässt die Menschen verhungern und verdursten. dem besonders grausamen Verbrechen, medizinische Versorgung zu verhindern, fallen täglich viele Menschen, vor allem Kinder, zum Opfer. Wer den Geschichtsunterricht nicht verschlafen hat, assoziiert den Backe-Plan für Stalingrad und den Hungerplan für Leningrad, die Millionen verhungerter Menschen in beiden Städten zur Folge hatten – so hofften die faschistischen Strategen von Wehrmacht und SS, irgendwann über Leichenberge hinweg die Stadt besetzen zu können. Es kam anders, aber dass die israelische Regierung in Gaza ausgerechnet die Methoden derjenigen kopiert, die das jüdische Volk einst ausrotten wollten, ist mehr als ein Treppenwitz der Geschichte: Indem die deutsche Regierung diese Verbrechen »against humanity« unterstützt und der Klage Südafrikas gegen sie eine Abfuhr erteilen, werden sie selbst zu Kollaborateuren der Verbrechen. Menschen, die »gegen rechts« protestieren und nicht auch gegen diesen praktischen Beitrag zu faschistoiden Gewaltszenarien, machen sich der Heuchelei verdächtig.
Russlands Überfall auf die Ukraine kann niemand, dem ein friedliches Zusammenleben aller Menschen am Herzen liegt, gutheißen, so wenig wie seine Vorgeschichte, zu der vorrangig die Osterweiterung der Nato gehört. Eingedenk der deutschen Geschichte mussten friedliebende Menschen erwarten, dass deutsche PolitikerInnen sich sofort »auf die Socken machen«, um dem Blutvergießen im Osten ein Ende zu bereiten, wohl wissend, dass 27 Millionen tote Russen eine untilgbare Schuld sind, weshalb jedes Risiko, als Mitglied in der Nato in einen neuen Krieg gegen Russland verwickelt zu werden, ausgeschlossen werden muss. Stattdessen erleben wir Waffenlieferungen an die Ukraine, Aufrüstung ohne absehbare Begrenzung, Drohgebärden, Kriegsgeschrei. Auf den Punkt, der für jeden geschichtsfesten deutschen Staatsbürger Anlass sein müsste, »Stopp« zu rufen und einzuschreiten, hat die deutsche Außenministerin die deutsche Politik in diesem Krieg gebracht: Russland müsse »ruiniert werden«: Wie glaubwürdig sind Demonstrationen »gegen rechts«, die der Beteiligung Deutschlands am neuerlichen Versuch, Russlands zu ruinieren, einer besonders schamlosen Art, nach rechts zu rücken, nicht entgegentreten?
Es gibt nicht nur äußere, sondern auch innere Rechts-Lastigkeit. Die Nachkriegsrepublik hat sich mit dem Etikett »Sozialstaat« versehen, der allen Menschen, die in Deutschland leben, gemäß Paragraf 1 des Grundgesetzes ein Leben in Würde garantiert. »Soziale Marktwirtschaft« definiert ein System, das niemanden ausschließt und jedem Chancen bietet, für sein zufriedenes Leben bis zum letzten Lebenstag selbst zu sorgen. Verfassungsrechtlich gesehen muss, wer üppiger als andere ausgestattet ist, zum Gemeinwohl, also dem Wohlergehen und der Würde aller Menschen, beitragen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben einen im besten Sinne demokratischen Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht nur erträumt, sondern ihn praktisch geformt. Sie erlebten nicht mehr, wie ihre Vision für viele Menschen zu einem Alptraum wurde. In keinem anderen europäischen Land – und nur in einem über die europäischen Grenzen hinaus – sind die Unterschiede zwischen reichen und armen Menschen, Oxfam zufolge, größer und beschleunigen sich schneller als in Deutschland. Bildung, Wohnen, Ernährung, Kultur, Lebensvielfalt sind elitäre Besitztümer, Millionen armer Kinder und armer Rentner erfahren die sozialen Versprechen als Lug und Trug. Verelendungsszenarien werden immer bedrohlicher, etwa 20 Millionen Menschen an den Rand der Wohlstandsgesellschaft gedrängt: Der linke Rand ist systematisch verriegelt worden, durch ein frühes KPD-Verbot, durch Berufsverbote, polizeiliche Gewalt und »Maulkorbgesetze«, um zu verhindern, dass aus der Mogelpackung »Sozialstaat« das Projekt eines demokratischen Sozialismus werde; so sammeln sich die Vernachlässigten, die Ausgegrenzten, die Vergessenen, die prekär Lebenden, am rechten Rand. Es ist ein absurdes Theater, dass die Demonstrierenden, überwiegend aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft, »gegen rechts« vorgehen wollen, ohne gleichzeitig zu verhindern, dass die Entwürdigten systematisch nach rechts abgedrängt werden.
Es gibt in dieser Gesellschaft viele Verwerfungen, gegen die Protest sinnvoll und notwendig ist. Bedrohlich für sie aber ist nicht irgendwelche »Geheimniskrämerei« mit Nazibeigeschmack, sondern dass Hunderttausende Demonstrierende die alltäglichen rechtslastigen Zumutungen ignorieren: Ein Bruchteil von ihnen trifft sich bei Demos für den Frieden, kaum die eine oder der andere unterstützen die Letzte Generation, kein Aufbegehren gegen um sich greifende Geschichtsvergessenheit, kein Widerstand gegen Ausbeutung von Menschen und Landschaften für den eigenen Wohlstand. Und wenn PolitikerInnen, die für das ganze Ausmaß des »schlechten Lebens« die Verantwortung tragen, Reden »gegen rechts« halten, sollten bei allen, die Beifall klatschen, doch irgendwann die Alarmglocken läuten, wenn ihnen Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie kompromisslose Anliegen sind.