Die aktuelle Sorge vieler Menschen vor einer Überwachung und vor der Repression demokratischen Engagements hat in Deutschland eine lange Vorgeschichte. Die bekannteste Form der Verfolgung vor allem linker Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland war der sogenannte Radikalenerlass vom 28. Januar 1972, der sich diesen Monat zum 50-mal jährt. Er war eine Reaktion der Bundes- und Landesregierungen seiner Zeit auf die Linksentwicklung infolge der Studenten- und Jugendbewegung nach 1968. Die Diskriminierung und Stigmatisierung vor allem linker Kritik an den Machtverhältnissen vor allem von Kommunisten, die als »Verfassungsfeinde« bezeichnet und mit Berufsverboten belegt wurden, schüchterte eine ganze Generation kritischer Bürger ein.
Davon Betroffene kritisieren in einer noch nicht veröffentlichten Presseerklärung den Koalitionsertrag der neuen Bundesregierung, der die undemokratische Praxis von damals aufgreift und explizit weiterführen will: »Wir, Betroffene der Berufsverbotspolitik in der Folge des Radikalenerlasses von 1972 haben mit Entsetzen zur Kenntnis genommen, dass im Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition Passagen enthalten sind, die eine Wiederbelebung eben dieser Berufsverbotspolitik befürchten lassen. So heißt es gleich zu Beginn des Koalitionspapiers wörtlich: ›Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können.‹ Und später wird unter der Rubrik ›Innere Sicherheit‹ präzisiert: ›Die in anderen Bereichen bewährte Sicherheitsüberprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern weiten wir aus und stärken so die Resilienz der Sicherheitsbehörden gegen demokratiefeindliche Einflüsse.‹ Es wird ehrlicherweise nicht einmal der Versuch unternommen, diese Maßnahme mit den tatsächlich bedrohlichen rechten Unterwanderungsversuchen von Polizei und Bundeswehr zu begründen. Stattdessen werden in plumpster extremismustheoretischer Manier ›Rechtsextremismus, Islamismus, Verschwörungsideologien und Linksextremismus‹ gleichgesetzt. (…) Wie damals wird der rechtlich völlig unbestimmte Begriff ›Verfassungsfeind‹ verwendet. Ausgerechnet der tief in die rechte Szene verstrickte Inlandsgeheimdienst soll vorschlagen dürfen, wer als ›Verfassungsfeind‹ angesehen und entsprechend behandelt werden soll. Dies kommt einem Suizid der Demokratie und des Rechtsstaates gleich.«
Der Beschluss der Regierungschefs der Bundesländer und des Bundeskanzlers Willy Brandt vom 28. Januar 1972, auch Radikalenerlass genannt, trug den Titel »Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst«, und er regelte:
- Im Bund und in den Ländern »darf in das Beamtenverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt; Beamte sind verpflichtet, sich aktiv innerhalb und außerhalb des Dienstes für die Erhaltung dieser Grundordnung einzusetzen. (…)
- Jeder Einzelfall muss für sich geprüft und entschieden werden. Von folgenden Grundsätzen ist dabei auszugehen:
- Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt, wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt.
- Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche und demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Einstellungsantrages.«
Der Chefredakteur der ZEIT nannte die Berufsverbote 1978 eine »Perversion des Grundgesetzes«. Diese Bewertung traf angesichts der weitreichenden Wirkung des Radikalenerlasses auf direkte Opfer und die Vielzahl eingeschüchterter Menschen zu. Um das zu veranschaulichen, seien hier dazu statistische Angaben des Berliner Senats in einer (im Oktober 2020 veröffentlichten) Antwort auf eine Anfrage aus der Linkspartei zitiert:
»Im Zeitraum von 1972 bis 1991 wurden von den Verfassungsschutzämtern per Regelanfrage rund 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber bzw. Anwärterinnen und Anwärter für den öffentlichen Dienst im gesamten Bundesgebiet einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen (…). In ca. 11.000 Fällen kam es zu Verfahren, ca. 1.250 Bewerberinnen und Bewerber wurden nicht eingestellt. Im gleichen Zeitraum wurden ca. 260 bereits verbeamtete oder angestellte Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Von diesen Maßnahmen betroffen waren vor allem Lehrerinnen und Lehrer (rund 80 Prozent) und Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer (rund 10 Prozent), aber auch Justizangestellte (rund 5 Prozent), Post- und Bahnmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, Verwaltungsangestellte, Offiziere, Sekretärinnen und Sekretäre, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Bibliothekarinnen und Bibliothekare, Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger, Krankenschwestern und Krankenpfleger, Bademeisterinnen und Bademeister, Laborantinnen und Laboranten.«
Nach der oben genannten Auflistung wurden fast ausschließlich Mitglieder und Sympathisantinnen und Sympathisanten der DKP und deren Nebenorganisationen sowie sogenannter K-Gruppen (z. B. KBW, KPD), vereinzelt aber auch Angehörige der SPD und Mitglieder des Sozialistischen Hochschulbundes aufgrund »verfassungsfeindlicher Aktivitäten« aus dem öffentlichen Dienst oder Vorbereitungsdienst entfernt.
Die mit den Berufsverboten zusammenhängenden Prozesse und Skandale wirken bis heute demokratiegefährdend. Ein besonders skandalöses Beispiel dafür ist der Berufsverbotsprozess gegen die Antifaschistin und Friedensaktivistin Silvia Gingold, in dessen Verlauf das Gericht eine Verfassungsschutz-Erkenntnis (VS von Hessen – AZ vom 7.10.16 L13-257-S-530.005-30/16) mit einbrachte, der zufolge sich die VVN, der Silvia Gingold als Tochter von Widerstandskämpfern angehört, auf das kommunistische Faschismus-Verständnis beziehe, wie die Tatsache offenbare, dass sie den Schwur der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald zum Ende ihrer Peinigung als Auftrag bis heute verstehe.
Die zentrale Stelle des Schwurs von Buchenwald ist: »Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.«
Die damalige Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften sagte 2017 zur Aufarbeitung der Berufsverbote und zum Widerstand gegen den auch hiermit erfolgenden Demokratieabbau: »Das Thema ist auch heute nicht erledigt. Mehrere Fälle in der jüngeren Vergangenheit belegen, dass wir diese Debatte brauchen.« Angesichts der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussion, sich wieder auf eine Extremismusklausel zu beziehen, werde die Bedeutung der »Auseinandersetzung mit einem Teil verdrängter Geschichte und Gegenwart für politische Bildung, zivilgesellschaftliches Engagement und Demokratieentwicklung deutlich«. Die GEW-Vorsitzende unterstrich, dass es weltweit Berufsverbote für Pädagoginnen und Pädagogen gebe: »Unsere Solidarität gilt nicht nur den Kolleginnen und Kollegen in Deutschland, die bis heute wegen ihres demokratischen Engagements unter den Auswirkungen der Berufsverbotspolitik leiden und/oder verfassungswidriger Gesinnungsschnüffelei ausgesetzt sind. Auch mit Blick auf internationale Entwicklungen kritisieren wir Berufsverbote und staatliche Repressionen gegen oppositionelle demokratische Kräfte. Wir stehen den tausenden Lehrkräften und Hochschulbeschäftigten aus der Türkei, die massive Angriffe gegen ihre Freiheitsrechte erleben und von Verhaftungen, Entlassungen, Berufsverboten und anderen Repressionen betroffen sind, solidarisch zur Seite.«
Willy Brandt bezeichnete die Berufsverbote nachträglich als Fehler. Aber bis heute verfolgen Behörden Demokraten unter dem Deckmantel der Verteidigung der Demokratie – und gefährden damit in Wahrheit, was sie zu schützen vorgeben. Das Engagement dagegen bewegt sich auch in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts in der Tradition von Carl von Ossietzky, der in der Weimarer Republik vor dem autoritären und militaristischen Staat sowie der dadurch anwachsenden Macht der Nazis warnte. Jede demokratiegefährdende Entwicklung muss gestoppt und umgekehrt werden, sonst droht der autoritäre Staat, der in Faschismus und, wie die Geschichte lehrt, in kriegerischer Gewalt münden kann.