Zu innenpolitischen, schon mit Anschauung bloßer Empirie feststellbaren Entwicklungen, die einen Krieg der Hoffnung auf eine Wiederkehr von Hillary Clintons Jubel – »We came, we saw, he died« – begleiten, eine paar Anmerkungen. Die Zeiten, in denen die Kleinen andere auf dem Pausenhof mit dem Verdacht belegten, »ein 175er« zu sein, sind längst vorbei; mit der grundgesetzlich abstrakt formulierten Gleichbehandlung aller Mitglieder der Nation und von deren »Gästen« wird in Form eines weitreichenden Diskriminierungsverbots und entsprechend enttabuisierender Vorschriften endlich ernst gemacht, »mehr Demokratie gewagt«. Ehemals verbotene sexuelle Variationen bei der Partnerwahl oder die Wahl des Geschlechts z. B. wurden, ein entsprechendes gegenseitiges Einverständnis bzw. eine ausdrückliche Willenserklärung vorausgesetzt, ein Teil der rechtlich garantierten bürgerlichen Freiheiten im Reich des Privaten. Damit erweiterte sich auch der Katalog von zu bestrafenden und/oder öffentlich zu verurteilenden Missbräuchen und Übertretungen des Erlaubten um neue Tatbestände. So soll generell ausgeschlossen sein, dass Unterschiede physischer Art sowie von Herkunft, Abstammung, sozialer Schicht, Glauben, Sprache etc. Bevorzugung bzw. Benachteiligung von einzelnen und Gruppen nach sich ziehen. Dieser Gleichstellungsauftrag ist institutionalisiert in Staat, Wissenschaft, Arbeit und Sozialem. Und er steht in Parteiprogrammen sowie auf den Fahnen von Bürgerinitiativen. (Dass es darum auch und gerade in der Ukraine schlecht bestellt ist, davon schweigt das Hohelied auf den Freund, der für »uns« kämpft.)
Kein Zweifel: Viele rechtliche Reformen mussten einem Staat und einer Wirtschaft abgerungen werden, die mit Gewalt dafür einstanden, dass es zu den herrschenden Verhältnissen keine Alternative gäbe. Nach opferreichen Kämpfen gegen brachiale Vernutzung durch Ausbeutung errangen die Arbeiter einen Sieg, der nicht in der Beseitigung letzterer bestand, sondern in der staatlich zugestandenen Anerkennung als Verhandlungspartner auf Augenhöhe und mit Anspruch auf Soziales, heute als Tarifpartei bekannt. Die erreichte Verrechtlichung des gegenseitigen Erpressungsverhältnisses zwischen Gebern und Nehmern der besonderen Ware Arbeitskraft zwang die Politökonomie zu ihrem Glück zu einer effizienteren und effektiveren Organisation der Kapitalverwertung, dem sich die Gewerkschaften desto weniger in den Weg stellten, je größer ihr Spielraum für Mitgestaltung von Lohnarbeit und Lohnkampf wurde. Und das ist, spätestens nach dem Abgesang des »real existierenden Sozialismus« gerecht, da rechtens, und somit auch gut so.
Einem politischen Streiken jedenfalls, das gerade gegen die aktuelle »Zeitenwende« nottäte, haben die patriotischen Gewerkschaften schon längst abgeschworen und halten beim Hochfahren eurodeutscher Kriegsmaschinerie schön die Füße still bzw. bei ver.di die Daumen nach oben. Dies tun sie, während russische Strategen ernsthaft und mit neuer Illusionslosigkeit die Option prüfen, mit dem Schaffen eines europäischen Hiroshimas einen konventionell ungewinnbaren Krieg doch zu entscheiden. Im Falle des Falles würden die USA dies mit einem »So what?« bedenken. Feldherrenlogik braucht uns jedoch nicht zu ängstigen; solidarisch machen die Repräsentanten deutscher Arbeitskraft Mut zum letzten Gefecht, in dem der kleine Mann dann wie gehabt als Held ganz groß sein kann.
Der Staat von heute ist progressiv: Ihm liegt daran, dass möglichst allein die Erfordernisse der »unsichtbaren Hand«, des Marktes, entscheiden, wer wie lange welche Arbeit hat bzw. nicht in deren Genuss kommt. Nachdem das Verwertungspotential auch von Arbeit physisch Beeinträchtigter, Alleinerziehender und »Andersfarbiger« gehoben sein will, wendet er sich gegen ein Festhalten an überkommenen Vorurteilen, Standesschranken, Geschlecht, Aussehen und anderen kontraproduktiven alten Zöpfen. Das minderte nur die Chance, die Einträglichkeit jeder Arbeitsleistung im Angebot prüfen und diese bei Eignung einsetzen zu können. Ohne Ansehen der Person agiert der Staat als Sachwalter einer kapitalistischen Kosten-Nutzen-Rechnung, und so kann sich z. B. ganz ohne »Ageismus« ein Einsatz sogar des alten weißen Manns beim Burgerbraten an der Imbissfront noch rentieren. Zugleich sorgt der systemische Webfehler, der den Bürger dem Bürger zum Wolf macht, dafür, dass Nichtdiskriminierung ein Ideal durchgesetzter Konkurrenz bleibt, die ständig Gründe für dessen Nichteinlösung reproduziert. Entsprechend realistisch, kostenbewusst und zeitaufwendig tastet sich der Staat zum Erreichen seiner »Zielvorstellung« vor. Allen kann er es ohnehin nicht recht machen. Aber er gibt sich Mühe, und das ist schon mal was.
Ein Ansatz für »größere gesellschaftliche Teilhabe«, der im Vergleich zu diversen Sondervermögen preiswert ausfällt, bringt den Sprachgebrauch für mehr Berücksichtigung bis dato Ausgegrenzter auf Vordermann & -frau. Kosmetik heilt Wunden schnöder ungemütlicher Wirklichkeit, denn Sprache lässt sich reinigen. »Schön Sprechen« – das isses! – löst das Problem mangelnden Selbstwertgefühls von nun an »Raumpflegerin« statt »Putze« genannter Frauen, deren Leichtlohnarbeit bisher typisch »klassistisch« mit Herablassung quittiert wurde. So etwas – wie lange noch wird sich der »Tatort«-Zuschauer mit Anspruch auf korrekte Unterhaltung Professor Börnes »Alberich«-Geflachse bieten lassen? – muss nicht sein. Wer »woke« ist und die Devise »Check your privilege!« beherzigt, erwirbt damit das Recht, gleiche Rücksichtnahme auch von anderen zu fordern – und wehe, wenn diese es daran fehlen lassen! Tatsächlich gibt es Diskriminierung, aber Lebensumstände, die sprachliche Herabsetzungen hervorrufen, verschwinden nicht durch den Verzicht darauf, dem Schaden noch eine Beleidigung hinzuzufügen.
Der Feind verdient sprachliche Zurückhaltung selbstverständlich nicht; wenn rassistische Beschuldigungen regierungsamtlich vorgetragen werden, sind sie keiner Aufregung wert und werden mit Abgebrühtheit aufgenommen. Die Welt, wie Biden sie sieht – »Wenn schlechte Menschen Probleme haben, tun sie schlechte Dinge« –, krankt am Wesen der Chinesen. Da diese nun einmal so sind, wie sie sind, müssen die Schädlinge ja irgendwie bekämpft werden.
»Größere gesellschaftliche Teilhabe« meint zudem im praktischeren Sinn eine gesteigerte Gleichheit von Chancen beim not-wendigen Bemühen um Erfolg dabei, die eigene Haut für sich und gegen andere als freie Vertragspartei zu Markte zu tragen. Ob sich Egalitarismus jeweils als Karrieremittel auszahlt, ist allerdings eine Frage »höherer Gewalt«, von Entscheidungen beim Geschäftemachen und von Standortpolitik, von »boom towns« und »rust belts«. Auch wenn Gleichheit dadurch gewährleistet wird, dass zuvor diskriminierte Gruppen stärker in Machtpositionen gelangen und sichtbarer repräsentiert werden, so ändert das Spiel auf Chance auch mit neuen Figuren seine Methode nicht. Das lässt sich auch daran ablesen, dass Südafrikas Slums die Abschaffung der Apartheid überdauerten.
Bei all dem erzeugen sprachliche Korrekturen, Aufwertungen und Differenzierungen sowie ein Angebot von Chancen zu erweiterter Gleichheit den Schein, eine Vermittlung gegensätzlicher Interessen müsse nur ausreichend gewollt werden, einen unzutreffenden Eindruck von vorläufig noch unabgeschlossener Harmonisierung. Diese lässt sich weiter vorantreiben, wenn auch nicht genau zu jener Vollendung, die Stanislaw Lem in der 24. Reise seiner »Sterntagebücher« karikierte. Dort geht es um eine KI-Maschine, die auf einem Planeten mit menschenähnlichen Bewohnern, »Indioten« genannt, deren Träume von Gleichheit, Unsterblichkeit und Schönheit auftragsgemäß und ohne Anwendung von Zwang verwirklicht, indem sie das ganze Volk, das dafür Schlange steht, nach und nach in haltbare und schön glitzernde Kristallscheiben verwandelt. Sind wir nicht »alle irgendwie ein bisschen« Indioten – »oder was«?