Das Versprechen der Demokratie klingt verlockend: Volkssouveränität, garantierte Grundrechte, Gewaltenteilung mit einer freien Presse als »Vierte Gewalt«, eine an Gesetze gebundene Verwaltung – ein attraktives Modell. Tatsächlich müssen auch Kritiker einräumen, dass Menschen in autoritär regierten Ländern die Demokratie der westlichen Staaten beneiden, weil man dort bei Behördenkontakten nicht Beamte bestechen muss, nicht gleich verhaftet wird, wenn man Kritik an der Politik äußert, und nicht in Angst lebt, wenn man schwul ist. Zum Beispiel. Und natürlich auch, weil in der EU ein bescheidener Wohlstand erreichbar erscheint. Viele Flüchtlinge riskieren ihr Leben, weil sie sich in Westeuropa eine bessere Zukunft erhoffen.
Wie kommt es aber, dass gerade im freien demokratischen Westen die Unzufriedenheit mit dem System wächst? Begeben wir uns auf die Spurensuche. Politisch Verantwortliche würden die Ergebnisse einer Umfrage wohl gern nach Ungarn, Usbekistan oder gleich nach Russland verlegen – sie stammen aber aus dem letzten »Thüringen Monitor«: Trotz prinzipieller Zustimmung der Befragten zur Demokratie (84 Prozent) ist die Zufriedenheit mit ihr auf 48 Prozent gesunken. Die Gründe? Mehr als zwei Drittel fühlen sich politisch und wirtschaftlich abgehängt. Fast ebenso viele meinen, keinen Einfluss auf die Regierungspolitik zu haben. Die Parteien seien nur an Stimmen, nicht an den Ansichten der Wähler interessiert: Das denken 74 Prozent – zu Unrecht? Ganze 22 Prozent der Befragten hegen noch Vertrauen in die Bundesregierung. Und sechs von zehn Befragte meinen, es sei Zeit für Widerstand gegen die aktuelle Politik. Und die eigentlichen Adressaten dieser Demokratieskepsis verlegen sich auf Diffamierung, statt nach den Ursachen der Verbitterung und der Angst vor Benachteiligung und Abwertung zu fragen – und machen die Sache dadurch nur noch schlimmer.
Blicken wir über die Grenzen Thüringens hinaus. Angenommen, Sie sind deutscher Staatsbürger, verurteilen den Krieg in der Ukraine, halten die grauenhaften Bilder von Tod und Zerstörung kaum aus und sind gegen Waffenlieferungen und für Friedensverhandlungen. Welche Partei könnten Sie mit solchen Zielen, die von großen Teilen der Bevölkerung vertreten werden, wählen? Keine, nicht einmal die Linkspartei.
Angenommen, Sie treten für soziale Gerechtigkeit ein und sind entsetzt über die unfassbare Kluft zwischen Arm und Reich und die systematische, oft lebenslange, sozial »vererbte« Benachteiligung, die daraus resultiert – und stellen fest, dass keine Regierung in den letzten fünfzig Jahren an dieser Ungerechtigkeit etwas geändert hat. Ist »sozialer Rechtsstaat« nur ein Werbeslogan? Die Altersarmut wächst rasant, Kinderarmut zerstört weiterhin Lebensperspektiven. Sie könnten zu dem Schluss gelangen: Grundrechte und sozialer Rechtsstaat werden zwar nicht abgeschafft, man setzt aber elementare Grundlagen der Demokratie einfach nicht um. Können Sie darauf vertrauen, dass Ihr Stimmzettel bei den nächsten Wahlen diese Verhältnisse grundlegend verbessert? Die meisten tun es nicht. Sie können erfahrungsgemäß nicht wissen, ob Sie mit Ihrem Stimmzettel Aufrüstung und Krieg wählen, eine bessere Perspektive für Ihre Kinder sichern oder aber eine marode Daseinsvorsorge bekommen. Die Politik repräsentiert immer weniger eine Mehrheit: Sozial Benachteiligte gehen seltener zur Wahl, und es ist bezeichnend, dass laut Umfragen nur noch Reiche volles Vertrauen zum Staat haben.
Und angenommen, Sie beobachten mit Schrecken die gigantische Macht der Banken, Fonds und Digitalkonzerne, die explodierende Finanzspekulation – denn die haben zu globalen Krisen und unermesslichen Schäden für Volkswirtschaften und Menschen geführt – und Sie engagieren sich für die Finanztransaktionssteuer, gerechte Vermögens- und Erbschaftssteuer und Kontrolle der politischen Einflussnahme der Konzerne. Aber Ihre redlichen Bemühungen fruchten seit Jahrzehnten nichts, und die nächste Finanz-, Wirtschafts-, Rentenkrise kommt bestimmt. Wie wurde der erfolgreiche Volksentscheid in Berlin zur Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne umgesetzt? Sie lernen: Die total undemokratische Herrschaft einer Kapitalistenklasse bestimmt die Richtlinien der Politik.
Und wollen wir nach dem letzten Rettungsanker für demokratische Kontrolle der Macht und Aufklärung über die realen Verhältnisse greifen, nämlich der grundgesetzlich garantierten freien Presse, so können wir vollends verzweifeln. Die Ergebnisse großer Studien rauben uns jede Illusion, die Leitmedien würden die Regierungspolitik kritisch hinterfragen. Wissen Sie, wer die informationshungrige Bevölkerung im Jahr 2022 am häufigsten zum Ukraine-Krieg in den Medien »aufklären« durfte? Ja, die neben ihrer politischen Funktion als Rüstungslobbyistin engagierte FDP-Frau Strack-Zimmermann, mit 1043 kriegspropagandistischen Tiraden.
Legitime »abweichende« Meinungen und »unliebsame« historische Fakten zu äußern, wird hingegen gefährlich: Verfassungsschutzpräsident Haldenwang warnt vor der Verbreitung russischer Propaganda in Deutschland, wonach der Kreml den Krieg gegen die Ukraine auch deshalb führe, weil die eigenen Sicherheitsinteressen durch den Westen verletzt worden seien. Die Leugnung der Fakten durch den VS-Präsidenten ist Propaganda. Kritiker der staatlichen Kriegsstrategie werden zu Verfassungsfeinden und Verschwörungstheoretikern gestempelt, die eine »demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates« betreiben. Ein solches System, das Freiheit predigt, faktisch aber grundsätzliche Kritik cancelt, verliert die Legitimität. Diese auf Formalien reduzierte Demokratie treibt viele in die innere Emigration und erzeugt Dissidenten, die nur noch in alternativen Medien ihre Stimme erheben können – oder ihren Protest auf dem Wahlzettel oder durch Wahlverweigerung kundtun.
In der neoliberalen, marktkonformen Demokratie erlebt die Bevölkerung in zentralen, ihre Existenz berührenden Themen die eigene Ohnmacht. Denn die Eliten aus Wirtschaft und Politik, verbunden mit Einflussagenten von Medien, bilden ein Interessenkartell, unkontrollierbar und unanfechtbar, trotz der tapferen Gegenwehr von Bürgerbewegungen wie Finanzwende, Lobbycontrol, »Nie wieder Krieg« oder kritischen Websites wie die NachDenkSeiten. Zwar können wir uns über Korruptionsfälle der Banken und Autokonzerne informieren und auch über menschenverachtende Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen und bei Amazon. Aber auf die ganz legalen Machtverhältnisse, die nicht nur über unser Leben hier, sondern auch über den Ruin ganzer Volkswirtschaften im globalen Süden (für »unsere« Interessen?) bestimmen, haben wir null Einfluss.
Gerade tagt die »Bilderbergkonferenz« ohne Öffentlichkeit: Ein Treffen der Machtelite aus Wirtschaft, Politik, Militär und Medien, Spitzenleute aus Nato und EU, dazu der Chef des Kanzleramtes, aber auch Springer-Mann Döpfner (als Teilnehmer, nicht als Berichterstatter) und die Kriegstreiber Hofreiter und Röttgen (zu Themen und Teilnehmern s. NachDenkSeiten, 19.5.23).
Macht und Besitz bestimmen über die Grenzen der Volksherrschaft. Wen und wessen Interessen repräsentiert diese repräsentative Demokratie? Ein »Vater der Propaganda«, Edward Bernays, wies schon 1928 den Weg, wie Herrschaftssicherung trotz Demokratie geht: »Die Manipulation der Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist.« Ein weiteres Hilfsmittel für die vom Volk ungestörte Herrschaft ist neben Propaganda auch die Entpolitisierung. Souveräne Staatsbürger mutieren in dieser formalen, entkernten Demokratie zu Konsumenten und Verbrauchern. Viele finden sich mit dieser Rolle ab und reagieren ihr Unbehagen irrational, manchmal auch hasserfüllt ab. Zulauf haben dann rechte Parteien; Oligarchen, Lügner, Rechtsextreme und korrupte Egomanen wie Berlusconi, Rajoy, Trump, Orbán, Sarkozy, Meloni oder Netanjahu werden formal demokratisch gewählt.
Wussten Sie, dass in Deutschland Arbeitnehmer zur »Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet« sind (§ 611a BGB)? Eine Demokratie, die zwar in Grenzen bürgerliche Freiheitsrechte achtet, aber die wirtschaftlich-sozialen Rechte nur für die Interessen einer kleinen Gruppe anerkennt, ist keine. Sie ist sogar ständig in Gefahr, in autoritäre bis faschistische Herrschaftsformen überzugehen. Denn für Kapitalisten von Amazon, BlackRock, Rheinmetall, Bayer & Co. ist Demokratie kein Selbstzweck, sondern ein Hindernis bei der Profitmaximierung. Und: Baut der heimische Wohlstand auf der Ausbeutung anderer Staaten auf, gibt der Staat seinen demokratischen Anspruch auf, missachtet die UN-Charta wie auch die Menschenrechte – zu denen übrigens auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte zählen – und handelt als koloniale oder imperiale Macht.
Ohne effektive Begrenzung und Kontrolle wirtschaftlicher Macht bleibt Demokratie eine Hülse; gesellschaftliche und soziale Gleichheit und Gleichwertigkeit aller werden dann nur propagandistisch behauptet. Der Prozess des Verkümmerns und Absterbens der Demokratie ist gefährlich weit vorangeschritten. Wir sollten uns daran erinnern: Nicht nur für das Nervensystem und die Muskeln gilt: Use it or lose it!