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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Demokratie: Use it or lose it!

Das Ver­spre­chen der Demo­kra­tie klingt ver­lockend: Volks­sou­ve­rä­ni­tät, garan­tier­te Grund­rech­te, Gewal­ten­tei­lung mit einer frei­en Pres­se als »Vier­te Gewalt«, eine an Geset­ze gebun­de­ne Ver­wal­tung – ein attrak­ti­ves Modell. Tat­säch­lich müs­sen auch Kri­ti­ker ein­räu­men, dass Men­schen in auto­ri­tär regier­ten Län­dern die Demo­kra­tie der west­li­chen Staa­ten benei­den, weil man dort bei Behör­den­kon­tak­ten nicht Beam­te bestechen muss, nicht gleich ver­haf­tet wird, wenn man Kri­tik an der Poli­tik äußert, und nicht in Angst lebt, wenn man schwul ist. Zum Bei­spiel. Und natür­lich auch, weil in der EU ein beschei­de­ner Wohl­stand erreich­bar erscheint. Vie­le Flücht­lin­ge ris­kie­ren ihr Leben, weil sie sich in West­eu­ro­pa eine bes­se­re Zukunft erhoffen.

Wie kommt es aber, dass gera­de im frei­en demo­kra­ti­schen Westen die Unzu­frie­den­heit mit dem System wächst? Bege­ben wir uns auf die Spu­ren­su­che. Poli­tisch Ver­ant­wort­li­che wür­den die Ergeb­nis­se einer Umfra­ge wohl gern nach Ungarn, Usbe­ki­stan oder gleich nach Russ­land ver­le­gen – sie stam­men aber aus dem letz­ten »Thü­rin­gen Moni­tor«: Trotz prin­zi­pi­el­ler Zustim­mung der Befrag­ten zur Demo­kra­tie (84 Pro­zent) ist die Zufrie­den­heit mit ihr auf 48 Pro­zent gesun­ken. Die Grün­de? Mehr als zwei Drit­tel füh­len sich poli­tisch und wirt­schaft­lich abge­hängt. Fast eben­so vie­le mei­nen, kei­nen Ein­fluss auf die Regie­rungs­po­li­tik zu haben. Die Par­tei­en sei­en nur an Stim­men, nicht an den Ansich­ten der Wäh­ler inter­es­siert: Das den­ken 74 Pro­zent – zu Unrecht? Gan­ze 22 Pro­zent der Befrag­ten hegen noch Ver­trau­en in die Bun­des­re­gie­rung. Und sechs von zehn Befrag­te mei­nen, es sei Zeit für Wider­stand gegen die aktu­el­le Poli­tik. Und die eigent­li­chen Adres­sa­ten die­ser Demo­kra­tie­skep­sis ver­le­gen sich auf Dif­fa­mie­rung, statt nach den Ursa­chen der Ver­bit­te­rung und der Angst vor Benach­tei­li­gung und Abwer­tung zu fra­gen – und machen die Sache dadurch nur noch schlimmer.

Blicken wir über die Gren­zen Thü­rin­gens hin­aus. Ange­nom­men, Sie sind deut­scher Staats­bür­ger, ver­ur­tei­len den Krieg in der Ukrai­ne, hal­ten die grau­en­haf­ten Bil­der von Tod und Zer­stö­rung kaum aus und sind gegen Waf­fen­lie­fe­run­gen und für Frie­dens­ver­hand­lun­gen. Wel­che Par­tei könn­ten Sie mit sol­chen Zie­len, die von gro­ßen Tei­len der Bevöl­ke­rung ver­tre­ten wer­den, wäh­len? Kei­ne, nicht ein­mal die Linkspartei.

Ange­nom­men, Sie tre­ten für sozia­le Gerech­tig­keit ein und sind ent­setzt über die unfass­ba­re Kluft zwi­schen Arm und Reich und die syste­ma­ti­sche, oft lebens­lan­ge, sozi­al »ver­erb­te« Benach­tei­li­gung, die dar­aus resul­tiert – und stel­len fest, dass kei­ne Regie­rung in den letz­ten fünf­zig Jah­ren an die­ser Unge­rech­tig­keit etwas geän­dert hat. Ist »sozia­ler Rechts­staat« nur ein Wer­be­slo­gan? Die Alters­ar­mut wächst rasant, Kin­der­ar­mut zer­stört wei­ter­hin Lebens­per­spek­ti­ven. Sie könn­ten zu dem Schluss gelan­gen: Grund­rech­te und sozia­ler Rechts­staat wer­den zwar nicht abge­schafft, man setzt aber ele­men­ta­re Grund­la­gen der Demo­kra­tie ein­fach nicht um. Kön­nen Sie dar­auf ver­trau­en, dass Ihr Stimm­zet­tel bei den näch­sten Wah­len die­se Ver­hält­nis­se grund­le­gend ver­bes­sert? Die mei­sten tun es nicht. Sie kön­nen erfah­rungs­ge­mäß nicht wis­sen, ob Sie mit Ihrem Stimm­zet­tel Auf­rü­stung und Krieg wäh­len, eine bes­se­re Per­spek­ti­ve für Ihre Kin­der sichern oder aber eine maro­de Daseins­vor­sor­ge bekom­men. Die Poli­tik reprä­sen­tiert immer weni­ger eine Mehr­heit: Sozi­al Benach­tei­lig­te gehen sel­te­ner zur Wahl, und es ist bezeich­nend, dass laut Umfra­gen nur noch Rei­che vol­les Ver­trau­en zum Staat haben.

Und ange­nom­men, Sie beob­ach­ten mit Schrecken die gigan­ti­sche Macht der Ban­ken, Fonds und Digi­tal­kon­zer­ne, die explo­die­ren­de Finanz­spe­ku­la­ti­on – denn die haben zu glo­ba­len Kri­sen und uner­mess­li­chen Schä­den für Volks­wirt­schaf­ten und Men­schen geführt – und Sie enga­gie­ren sich für die Finanz­trans­ak­ti­ons­steu­er, gerech­te Ver­mö­gens- und Erb­schafts­steu­er und Kon­trol­le der poli­ti­schen Ein­fluss­nah­me der Kon­zer­ne. Aber Ihre red­li­chen Bemü­hun­gen fruch­ten seit Jahr­zehn­ten nichts, und die näch­ste Finanz-, Wirt­schafts-, Ren­ten­kri­se kommt bestimmt. Wie wur­de der erfolg­rei­che Volks­ent­scheid in Ber­lin zur Ver­ge­sell­schaf­tung gro­ßer Immo­bi­li­en­kon­zer­ne umge­setzt? Sie ler­nen: Die total unde­mo­kra­ti­sche Herr­schaft einer Kapi­ta­li­sten­klas­se bestimmt die Richt­li­ni­en der Politik.

Und wol­len wir nach dem letz­ten Ret­tungs­an­ker für demo­kra­ti­sche Kon­trol­le der Macht und Auf­klä­rung über die rea­len Ver­hält­nis­se grei­fen, näm­lich der grund­ge­setz­lich garan­tier­ten frei­en Pres­se, so kön­nen wir voll­ends ver­zwei­feln. Die Ergeb­nis­se gro­ßer Stu­di­en rau­ben uns jede Illu­si­on, die Leit­me­di­en wür­den die Regie­rungs­po­li­tik kri­tisch hin­ter­fra­gen. Wis­sen Sie, wer die infor­ma­ti­ons­hung­ri­ge Bevöl­ke­rung im Jahr 2022 am häu­fig­sten zum Ukrai­ne-Krieg in den Medi­en »auf­klä­ren« durf­te? Ja, die neben ihrer poli­ti­schen Funk­ti­on als Rüstungs­lob­by­istin enga­gier­te FDP-Frau Strack-Zim­mer­mann, mit 1043 kriegs­pro­pa­gan­di­sti­schen Tiraden.

Legi­ti­me »abwei­chen­de« Mei­nun­gen und »unlieb­sa­me« histo­ri­sche Fak­ten zu äußern, wird hin­ge­gen gefähr­lich: Ver­fas­sungs­schutz­prä­si­dent Hal­den­wang warnt vor der Ver­brei­tung rus­si­scher Pro­pa­gan­da in Deutsch­land, wonach der Kreml den Krieg gegen die Ukrai­ne auch des­halb füh­re, weil die eige­nen Sicher­heits­in­ter­es­sen durch den Westen ver­letzt wor­den sei­en. Die Leug­nung der Fak­ten durch den VS-Prä­si­den­ten ist Pro­pa­gan­da. Kri­ti­ker der staat­li­chen Kriegs­stra­te­gie wer­den zu Ver­fas­sungs­fein­den und Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern gestem­pelt, die eine »demo­kra­tie­feind­li­che und/​oder sicher­heits­ge­fähr­den­de Dele­gi­ti­mie­rung des Staa­tes« betrei­ben. Ein sol­ches System, das Frei­heit pre­digt, fak­tisch aber grund­sätz­li­che Kri­tik can­celt, ver­liert die Legi­ti­mi­tät. Die­se auf For­ma­li­en redu­zier­te Demo­kra­tie treibt vie­le in die inne­re Emi­gra­ti­on und erzeugt Dis­si­den­ten, die nur noch in alter­na­ti­ven Medi­en ihre Stim­me erhe­ben kön­nen – oder ihren Pro­test auf dem Wahl­zet­tel oder durch Wahl­ver­wei­ge­rung kundtun.

In der neo­li­be­ra­len, markt­kon­for­men Demo­kra­tie erlebt die Bevöl­ke­rung in zen­tra­len, ihre Exi­stenz berüh­ren­den The­men die eige­ne Ohn­macht. Denn die Eli­ten aus Wirt­schaft und Poli­tik, ver­bun­den mit Ein­fluss­agen­ten von Medi­en, bil­den ein Inter­es­sen­kar­tell, unkon­trol­lier­bar und unan­fecht­bar, trotz der tap­fe­ren Gegen­wehr von Bür­ger­be­we­gun­gen wie Finanz­wen­de, Lob­by­con­trol, »Nie wie­der Krieg« oder kri­ti­schen Web­sites wie die Nach­Denk­Sei­ten. Zwar kön­nen wir uns über Kor­rup­ti­ons­fäl­le der Ban­ken und Auto­kon­zer­ne infor­mie­ren und auch über men­schen­ver­ach­ten­de Arbeits­be­din­gun­gen in Schlacht­hö­fen und bei Ama­zon. Aber auf die ganz lega­len Macht­ver­hält­nis­se, die nicht nur über unser Leben hier, son­dern auch über den Ruin gan­zer Volks­wirt­schaf­ten im glo­ba­len Süden (für »unse­re« Inter­es­sen?) bestim­men, haben wir null Einfluss.

Gera­de tagt die »Bil­der­berg­kon­fe­renz« ohne Öffent­lich­keit: Ein Tref­fen der Macht­eli­te aus Wirt­schaft, Poli­tik, Mili­tär und Medi­en, Spit­zen­leu­te aus Nato und EU, dazu der Chef des Kanz­ler­am­tes, aber auch Sprin­ger-Mann Döpf­ner (als Teil­neh­mer, nicht als Bericht­erstat­ter) und die Kriegs­trei­ber Hof­rei­ter und Rött­gen (zu The­men und Teil­neh­mern s. Nach­Denk­Sei­ten, 19.5.23).

Macht und Besitz bestim­men über die Gren­zen der Volks­herr­schaft. Wen und wes­sen Inter­es­sen reprä­sen­tiert die­se reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie? Ein »Vater der Pro­pa­gan­da«, Edward Ber­nays, wies schon 1928 den Weg, wie Herr­schafts­si­che­rung trotz Demo­kra­tie geht: »Die Mani­pu­la­ti­on der Mei­nun­gen der Mas­sen ist ein wich­ti­ges Ele­ment in der demo­kra­ti­schen Gesell­schaft. Wer die unge­se­he­nen Gesell­schafts­me­cha­nis­men mani­pu­liert, bil­det eine unsicht­ba­re Regie­rung, wel­che die wah­re Herr­scher­macht unse­res Lan­des ist.« Ein wei­te­res Hilfs­mit­tel für die vom Volk unge­stör­te Herr­schaft ist neben Pro­pa­gan­da auch die Ent­po­li­ti­sie­rung. Sou­ve­rä­ne Staats­bür­ger mutie­ren in die­ser for­ma­len, ent­kern­ten Demo­kra­tie zu Kon­su­men­ten und Ver­brau­chern. Vie­le fin­den sich mit die­ser Rol­le ab und reagie­ren ihr Unbe­ha­gen irra­tio­nal, manch­mal auch hass­erfüllt ab. Zulauf haben dann rech­te Par­tei­en; Olig­ar­chen, Lüg­ner, Rechts­extre­me und kor­rup­te Ego­ma­nen wie Ber­lus­co­ni, Rajoy, Trump, Orbán, Sar­ko­zy, Melo­ni oder Netan­ja­hu wer­den for­mal demo­kra­tisch gewählt.

Wuss­ten Sie, dass in Deutsch­land Arbeit­neh­mer zur »Lei­stung wei­sungs­ge­bun­de­ner, fremd­be­stimm­ter Arbeit in per­sön­li­cher Abhän­gig­keit ver­pflich­tet« sind (§ 611a BGB)? Eine Demo­kra­tie, die zwar in Gren­zen bür­ger­li­che Frei­heits­rech­te ach­tet, aber die wirt­schaft­lich-sozia­len Rech­te nur für die Inter­es­sen einer klei­nen Grup­pe aner­kennt, ist kei­ne. Sie ist sogar stän­dig in Gefahr, in auto­ri­tä­re bis faschi­sti­sche Herr­schafts­for­men über­zu­ge­hen. Denn für Kapi­ta­li­sten von Ama­zon, Black­Rock, Rhein­me­tall, Bay­er & Co. ist Demo­kra­tie kein Selbst­zweck, son­dern ein Hin­der­nis bei der Pro­fit­ma­xi­mie­rung. Und: Baut der hei­mi­sche Wohl­stand auf der Aus­beu­tung ande­rer Staa­ten auf, gibt der Staat sei­nen demo­kra­ti­schen Anspruch auf, miss­ach­tet die UN-Char­ta wie auch die Men­schen­rech­te – zu denen übri­gens auch die wirt­schaft­li­chen, sozia­len und kul­tu­rel­len Men­schen­rech­te zäh­len – und han­delt als kolo­nia­le oder impe­ria­le Macht.

Ohne effek­ti­ve Begren­zung und Kon­trol­le wirt­schaft­li­cher Macht bleibt Demo­kra­tie eine Hül­se; gesell­schaft­li­che und sozia­le Gleich­heit und Gleich­wer­tig­keit aller wer­den dann nur pro­pa­gan­di­stisch behaup­tet. Der Pro­zess des Ver­küm­merns und Abster­bens der Demo­kra­tie ist gefähr­lich weit vor­an­ge­schrit­ten. Wir soll­ten uns dar­an erin­nern: Nicht nur für das Ner­ven­sy­stem und die Mus­keln gilt: Use it or lose it!