Als Junge träumte ich Tag und Nacht nur von ihr. Ich sah verzweifelt die einzige Hoffnung in ihr, verliebte mich sofort in sie, in »die Demokratie«, in ihre reine Theorie. Ihre Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Eindeutigkeit schienen mir in meinen Gedanken überaus heilig. Ich wurde also süchtig nach ihr, verinnerlichte alles, vor allem ihre Grundwerte. Es war einfach schön mit ihr, beruhigend wirkte die theoretische Form ihrer Politik auf mich, die mit Freiheit und Gleichheit für alle einherging. Jedes Mal versprach ich mir, mein ganzes Leben lang nach ihr zu streben, ihr die ewige Treue und Liebe zu schwören und eines Tages nur für sie zu existieren. Jede Nacht vor dem Schlafengehen sagte ich zu mir: »Ich werde bald erwachsen und sie endlich in ihrer ganzen Wirklichkeit erfassen.«
Als ich die Demokratie nach vielen Jahren dann erstmals traf, waren alle meine Träume erfüllt. Verrückt nach ihr, schien mir alles wie mein erster Traum von ihr. Ich liebte sie noch jahrelang, sagte nie »Nein« zu ihr. Dies fand ich zwar merkwürdig, jedoch fühlte sich in diesem Rausch alles an ihr nur fein und herrlich an, und auch alles, was in ihrem Namen in meine Ohren drang. Ich war vielleicht blind, von meiner ersten Liebe zu ihr noch zu blind?
Als ich älter, mein Geist reifer wurde, die Grundsätze der Demokratie sich als nicht transparent, die Politik in ihrem Namen sich als manipulativ zeigten, als ich dies allmählich erkannte, betrachtete ich sie nun mit anderen Augen. Ihre Aufrichtigkeit schien mir plötzlich ausschließlich in Worten, ihr feines Bild bisher nur in meinem Kopf, in meinem Traum so schön und echt zu sein. Das machte mich skeptisch. Mein Leben wurde nach und nach täglich beschwert, mit jeder Menge Fragen beschwert. Ich träumte nicht mehr, nicht von ihr, denn meine Fragen fanden keine Antworten in der Utopie mehr. Diese Reife beeinflusste alles, auch mein blindes Vertrauen in das demokratische System. Ich war frustriert, wollte lieber erneut ein Junge, politisch nicht so erfahren, aber ohne jenen Glauben in die Demokratie sein. Je genauer und offener ich jedoch wurde, umso mehr verschwand ihr anfängliches Leitbild aus meinem Verstand. Ich gierte trotzdem nach ihrem wirklichen Ideal. Ich suchte sie, die Demokratie, die tatsächlich jede Ausgrenzung bekämpfte, soziale Gerechtigkeit und die Gleichstellung von Menschen auf allen gesellschaftlichen Ebenen förderte, die Umwelt als ihr Motto hochhielt. Das war vielleicht zu leichtsinnig von mir.
Ich ging zuerst auf die Straße. Viele meinten gutmütig, aber auch bestimmt: »Du wirst bei deiner Suche alt werden, dieses ewige Warten auf deine Demokratie wird dich schließlich vernichten. Alles hat wohl oder übel den Ursprung in unserer selbstbewussten Wissenschaft und Kultur. Wir sind letztendlich folgsam, doch nur ein Teil dieser moralischen Macht. Wir sind einflusslos, haben längst gar nichts gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die ganzen Autoritäten einer Demokratie in der Hand.« Ich kam ohne Demokratie und ohne Lösung wieder.
Ich ging gutgläubig zu den Bildungsstätten, zu den Intellektuellen. Selbstsicher waren diese, sie hatten an allem etwas zu kritisieren, zweifelten aber nie an sich selbst und deshalb auch nicht an ihrer Demokratie. Ich kam leider auch von ihnen ohne sie zurück.
Ich ging zu den Politikern. Diese wollten aber keine Kritik, ignorierten alles, was ich sagte. Sie sprachen wie Heilige zu mir: »Glaub einfach an uns, du bekommst alles von uns.« Fortschritt nannten sie dies alles, auch ihre eigene Unantastbarkeit.
Ich war auch bei den Gläubigen, hielt mich bedrückt Tage und Nächte im Wald auf. Als ich dann ohne jegliche Aussicht in mich ging, kam ich trotzdem ohne meine erste Liebe in der Ferne wieder zu ihr.
Überall sagte man mir: »Scheiß auf deine Demokratie. Wir sind die echten Bestandteile der Demokratie, wir kennen nur sie, was willst du mit deiner ablehnenden Haltung hier?«
»Ich will nur ein menschenfreundliches System, das sich nicht bloß an Wirtschaft, Vernunft, Moral orientiert, harmonisches Miteinander, das gemeinsames Wirken fördert statt Konkurrenz.«
Alle lachten mich aus. Sie hielten ihre Scheinheiligkeit für die beste Erfindung der Welt. Es ist ja auch gut und schön für diese Menschen, wenn sie sich eine verfehlte Form der Politik wirklich wünschen. Mir gefiel »diese neue inhumane Demokratie« mit ihrem trüben Gesicht, ihrer Abhängigkeit von vielen Mächten von oben herab nicht.
Als ich dann in der Demokratie unter Zwang stand, erinnerte ich mich sofort an den Diktator meiner Kindheit wieder. Als ich deshalb ein bisschen laut wurde, wurde ich sofort als unsolidarisch erkannt. Als ich mich darauf entgeistert in der Krise gegen ihre gefühllose Form stellte, mich äußerte, nannte man mich tatsächlich »einen Verbrecher«.
Ich sagte trotzdem »Nein ohne Zwang« zu ihr: »Demokratie kennt doch keinen Zwang, keine großen Lügen, keine übertriebene Macht, so viel Geld für die Taschen von Wenigen. Ein unbedingtes Zusammenhalten muss nicht immer etwas Gutes, Solidarisches heißen. Das ist für mich gefühlskalt, keine Demokratie, vielleicht nur der kleine Halbbruder der Diktatur. Der Unterschied zwischen beiden war in meiner Notlage leider nicht allzu groß, er lag am ehesten in der Definition und nicht in der Realität von beiden. In einer Scheindemokratie wird man schrittweise gekränkt, nur diplomatisch beseitigt, in einer Diktatur auf der Stelle eliminiert.« Ich weiß wirklich nicht, was im Augenblick für mich besser oder schlechter ist.
Nein, der Mensch ist kein Verbrecher, weil er demokratisch denkt, die Grundsätze der Demokratie hochhalten möchte.
Dennoch bin ich trotz meiner kritischen Äußerungen zu dieser Scheinheiligkeit froh, dass ich weit weg von irgendeinem Diktator bin. Es gibt hier keine Diktatur, sondern nur eine chaotische Politik, die ohne Rücksicht auf Verluste funktionieren will. Für mich ist diese konservative Strategie fern von jeder Menschlichkeit, ohne Transparenz, Seriosität – auch weit entfernt von der Wahrheit einer jeden Demokratie.
Vielleicht existiert sie doch noch irgendwo in ihrer Ganzheit, ohne die Hände dieser Profiteure eines jeden politisch-moralischen Systems, die unter allen Umständen reich, berühmt, schön, fein, unberührbar und mächtig werden wollen, während andere Seelen für ihre Annehmlichkeiten weltweit und in ihrer Demokratie zugrunde gehen.
Ist das wirklich der Sinn unseres Daseins? Kann man die Demokratie retten, wenn Geld die Welt regiert und wie ein Diktator demokratische Grundsätze ständig untergräbt?
Ich hoffe, dass dennoch einmal etwas Neues entsteht, eine ganz neue Politik, die tolerant, familienfreundlich, nicht zu ernst ist, die an wahre Bildung und gesunde Erziehung glaubt, die unsere Kinder nicht in Angst versetzt, ihnen Mitgefühl und Liebe zeigt und wie man wirklich lebt und täglich dennoch lachen kann.
Dilan Canbaz wurde 1973 in Sulaimaniyya im irakischen Kurdistan geboren, kam mit 22 Jahren nach Graz, schreibt und veröffentlicht seit 2018. Neben seiner Schreibtätigkeit arbeitet er im Sozialbereich mit Kindern und Jugendlichen.