»Ein Jahr voller Tollheit und Torheit« hatte ich im vergangenen Oktober meinen Text über das damals gerade erschienene Buch »1923 – Endstation. Alles einsteigen!« von Peter Süß überschrieben (Ossietzky 20/2022). Inzwischen liegt fast ein Dutzend Monografien zu diesem Jahr »Außer Kontrolle« vor, dem Jahr »Im Rausch des Aufruhrs«, in dem zwischen »Hunger und Ekstase« der »Kampf um die Republik« geführt wurde, in dem schließlich nach der »Krise« und dem »Totentanz« die »Rettung der Republik« gelang: alles Titel von in den letzten Monaten erschienenen Büchern über diese zwölf Monate voller Tollheit und Torheit vor genau 100 Jahren. Über »Ein deutsches Trauma«.
Aus diesen Neuerscheinungen habe ich das Buch »1923 – Das Jahr am Abgrund« des Historikers Volker Ullrich (79) herausgegriffen. Der Verfasser hat als junger Mann am Historischen Seminar der Universität Hamburg gearbeitet und sich mit der Hamburger Arbeiterbewegung vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zur Revolution 1918/19 beschäftigt. Viel später, von 1990 bis 2009, leitete er das Ressort »Politisches Buch« der in Hamburg erscheinenden Wochenzeitung Die Zeit, zu einer Zeit, als der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt Mitherausgeber war. In seinen Schriften beschäftigte sich Ullrich u. a. mit dem Ende des Hohenzollernreiches, dem Untergang des deutschen Kaiserreichs, mit der Revolution von 1918/19 und in einer zweibändigen Biografie mit Adolf Hitler. Kurzum, ein Experte für jene Ära.
Ullrich wählte bei seiner Darstellung der Ereignisse einen anderen Weg als Peter Süß. Nahm dieser in chronologischer Monats-Abfolge Personen und Vorgänge in den Fokus, die er in leicht flockigem Stil mit Unterhaltungswert beleuchtete, hält Ullrich sich nicht an die Chronologie, denn:
»Wer sich als Historiker mit dem Irrwitz dieser Zeit beschäftigt, sieht sich mit einem geradezu atemlosen Ablauf des Geschehens konfrontiert. Die sich überstürzenden Ereignisse und Entwicklungen folgten nicht einem zeitlichen Nacheinander, sondern liefen zum Teil parallel ab, überlagerten und verstärkten sich. Das hat Konsequenzen für die Darstellung. Die Geschichte des extremen Jahres 1923 sperrt sich gegen eine rein chronologische Erzählung.«
Ullrich versucht daher »aus Gründen der Übersichtlichkeit (…) das verwickelte Knäuel der Krisenphänomene zu entwirren und die Fäden unter thematischen Gesichtspunkten neu zu ordnen«, so dass die Kapitelfolge die Chronologie durchbricht.
Die Ereignisse zwischen »Ruhrkampf, Rindfleisch und Revolte«, wie die Süddeutsche Zeitung so flott wie summarisch am 27. Januar ihren Text zur aktuellen Literatur über das Krisenjahr 1923 überschrieb, sind bekannt. Die Exzesse dieser Periode sind Fixpunkte in den Büchern über jenes Jahr: Ruhrbesetzung und Ruhrkampf, Geldentwertung und Hyperinflation, Hitler-Putsch und weitere Umsturzpläne und -versuche durch antirepublikanische Kräfte, separatistische Bewegungen im Rheinland und in der Pfalz. Kein Zweifel, die Republik mit ihrem präsidialen und parlamentarischen Regierungssystem war 1923 in Gefahr, gerade einmal dreieinhalb Jahre nach der Verkündung ihrer »Weimarer Verfassung«, der ersten demokratischen in Deutschland.
Ullrich beginnt seine Darstellung mit der Besetzung des Ruhrgebietes durch Franzosen und Belgier im Januar, »mit der das Krisenjahr eröffnet wurde«, und dem Widerstand dagegen. Er schildert die desaströsen Folgen des Vorgehens der Regierung des parteilosen Reichskanzlers Wilhelm Cuno, die im August 1923 auseinanderbrach, nachdem die SPD ihre Unterstützung aufgekündigt hatte. Die »ungeheuren Ausgaben für die Subventionierung der besetzten Gebiete« führten zu einer außerordentlichen Beschleunigung der Inflation und zu einer erbitterten Streikbewegung. Ullrich zitiert Carl von Ossietzky aus der Berliner Volks-Zeitung, wonach Cunos Regierung einen »Trümmerhaufen«, ein »verwüstetes, von Flammen zerfressenes Haus« hinterlassen habe. Das deutsche Volk hatte die Zeche zu zahlen.
Thematisch passend beschäftigt sich das nächste Kapitel mit Inflation und Hyperinflation, und »wer davon profitierte und wer dabei auf der Strecke blieb«. Als Ursache waren von nationalistischen Kreisen schnell »die horrenden Reparationsleistungen« ausgemacht. Ullrich sieht die tieferen Ursachen in dem verpassten »währungspolitischem Neuanfang nach 1918«, vor dem die »demokratischen Nachkriegsregierungen zurückschreckten«: »Die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens war ihnen wichtiger als die Sanierung des Reichshaushalts und die Stabilisierung der Währung.«
Nachfolger Cunos wurde im August als Reichskanzler und Außenminister Gustav Stresemann. »Die Probleme, vor denen der Reichskanzler der Großen Koalition und Vorsitzende der Deutschen Volkspartei, Gustav Stresemann, stand, waren tatsächlich gewaltig. Denn seitdem französische Truppen im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzt hatten und die Reichsregierung als Antwort darauf den ›passiven Widerstand‹ proklamiert hatte, war die Inflation völlig außer Kontrolle geraten. Der Wert der Mark fiel ins Bodenlose.«
Die Regierung Stresemann unternahm den Versuch einer Krisenlösung durch Stabilisierung der Währung, durch Beendigung des Ruhrkampfes und durch Verbesserung der Beziehungen zu den ehemaligen Kriegsgegnern, vor allem zu Frankreich. Stresemanns Kanzlerschaft dauerte kaum mehr als drei Monate, doch Ullrich zieht eine positive Bilanz. Sie habe »die Fundamente für die relative Stabilität der Weimarer Republik in den folgenden vier Jahren gelegt«. Zu den Fundamenten gehörte die Gründung einer Rentenbank im Oktober, mit der die Regierung der Hyperinflation Herr zu werden hoffte. Was auch gelang.
In der ganzen Republik waren im Laufe des Jahres im Kampf gegen die Inflation und ihre die Not vergrößernden Folgen immer wieder Streiks ausgebrochen. Im Oktober richteten sich die Blicke gen Norden, auf den bewaffneten Aufstand in Hamburg. Hier wollte die KPD unter der Leitung ihres Vorsitzenden Ernst Thälmann ein Fanal setzen, ein revolutionäres Zeichen. Die Kämpfer überwältigten am Morgen des 23. Oktober 17 von 26 Hamburger Polizeiwachen, nahmen den Überrumpelten Waffen und Munition ab und machten sich an die Errichtung von Straßenbarrikaden. Die heftigsten Kämpfe entbrannten im »roten Stadtteil« Barmbek und im Arbeitervorort Schiffbek. Zwei Tage lang hielten sich die Aufständischen, doch die Polizeikräfte waren zu überlegen. Willi Bredel hat in dem 1968 veröffentlichten Buch »Unter Türmen und Masten« mit Geschichten aus seiner Heimatstadt diesem »Hamburg auf den Barrikaden« ein glorifizierendes literarisches Denkmal gesetzt.
Ullrich beschließt sein Werk mit einem »Ausblick«: Seiner Ansicht nach war der Untergang der Weimarer Republik keineswegs zwangsläufig, denn: »Sie hatte 1923 eine erstaunliche Überlebensfähigkeit bewiesen, und sie hätte vielleicht auch die noch schwereren Jahre von 1930 bis 1932 überstehen können, wenn an ihrer Spitze ein Mann wie Ebert gestanden hätte, der entschlossen gewesen wäre, die parlamentarische Demokratie mit allen Mitteln zu verteidigen.« Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert war Reichspräsident von 1919 bis zu seinem Tode im Jahr 1925.
Fazit: Stand 1923 die Weimarer Republik am Abgrund, so dauerte es doch noch zehn Jahre, bis sie – um einen Kalauer zu variieren – »ein großes Stück weiter« war. Ihre Nöte und ihr Scheitern – in den 14 Jahren zwischen dem Februar 1919 und dem Regierungsantritt Hitlers am 31. Januar 1933 amtierten 20 Reichsregierungen – wurden später als »Weimarer Verhältnisse« sprichwörtlich. Volker Ullrichs »1923« zeigt, wie es dazu kam. Aber: Glichen die Verhältnisse in der Weimarer Republik auch zeitweise einem »Tanz auf dem Vulkan«, so führte doch kein gerader Weg – und das macht Ullrich deutlich – zu jenem Donnerstag am 23. März 1933, an dem der Reichstag das »Ermächtigungsgesetz« verabschiedete, gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und ohne die schon ausgeschaltete kommunistische Fraktion. Es war der Tag, an dem SPD-Chef Otto Wels seine geschichtsträchtige Rede hielt, die in dem legendären Satz gipfelte: »Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht«.
Das alles macht trotz 100-jährigem Abstand die Erinnerung an das Jahr voller Tollheit und Torheit so aktuell. Es bleibt ein Menetekel. Demokratie braucht Demokraten.
Volker Ullrich: Deutschland 1923 – Das Jahr am Abgrund«, Verlag C.H. Beck, München 2022, 441 S., 28 €.