Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten stellen die Weltgemeinschaft vor eine Zerreißprobe, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Und je offensichtlicher dieses Dilemma zu Tag tritt, umso größer scheinen der Ruf und die Sehnsucht nach einer ultimativen militärischen Lösung zu sein. Zumindest erweckt der Blick in die Printmedien dieser Tage diesen verstörenden Eindruck. Barbara Oertel zitiert in der Tageszeitung den ukrainischen Politikwissenschaftler Mykola Bielieskov mit den Worten: »Wenn die Ukraine nicht über die nötigen Mittel verfügt, um Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen, wird Putin einen historischen Sieg erringen, der das internationale Sicherheitsklima verändern wird. Wenn das passiert, wird der heutige Akzent der Vermeidung einer Eskalation als der größte geopolitische Fehler seit der Appeasementpolitik der 1930er Jahre angesehen werden«, um sodann ihren Artikel mit folgenden Worten zu beenden: »Ein Fehler, der noch zu vermeiden wäre, wenn die Menschen denn aus der Geschichte gelernt hätten. Doch das ist schon öfter schiefgelaufen. Leider.«
Doch was bedeutet dieses »Leider« in der Konsequenz? Meint Oertel damit tatsächlich, dass die westliche Staatengemeinschaft, die den Krieg in der Ukraine mit ihren Waffenlieferungen ja bereits jetzt maßgeblich beeinflusst, aktiv in den Krieg eintreten soll? Oder erzählt sie als Journalistin einfach nur das Narrativ weiter, demzufolge der Ukrainekrieg ausschließlich durch einen militärischen Sieg über Russland beendet werden kann?
Ein Narrativ, das in den großen Gazetten zunehmend an Bedeutung zu gewinnen scheint, wenn Stefan Kornelius zeitgleich in seinem Leitartikel in der Süddeutschen Zeitung schreibt: »Die Staaten Europas und auch die USA haben nicht verstanden, dass eine Niederlage der Ukraine auch ihre Niederlage sein wird – mit gravierenden Folgen für die Ordnung in Europa. Die EU würde sich von dieser Offenbarung ihrer Schwäche nicht mehr erholen. Ihre Schuld wäre unermesslich.«
Und als hätte er sich mit Oertel und Kornelius abgesprochen, kommentiert Marko Seliger unisono in der Neuen Zürcher Zeitung: »Die Bundesrepublik kann den Krieg in der Ukraine nicht vollständig von sich fernhalten. Vor dieser Realität darf das Land die Augen nicht verschließen. Die Frage ist, welche Rückschlüsse der ›Friedenskanzler‹ daraus zieht.«
In seiner Lage am Sonntag liefert der Spiegel-Chefredakteur Dirk Kurbjuweit nolens volens darauf die bellizistische Antwort: »Über Jahrzehnte war die Bundesrepublik im pazifistischen Wolkenkuckucksheim angesiedelt, bei den weißen Tauben. Man hielt sich raus und versäumte es, intellektuell kriegstauglich zu werden. Jetzt fehlen die Strategien und die Debattenkultur, um für diese aggressive Welt gerüstet zu sein. Die Zeitenwende verlangt nicht nur Soldaten und Rüstungsbeschaffern etwas ab: Die Gesellschaft insgesamt muss den Gedankenraum um die Möglichkeit von Kriegen erweitern.«
Doch glücklicherweise, und das unterscheidet uns ja tatsächlich von autokratisch regierten Ländern wie Russland, leben wir in einem demokratischen Rechtsstaat, in dem die Fragen von Krieg und Frieden in parlamentarischen Auseinandersetzungen ausgelotet und am Ende entschieden werden müssen. Und man muss keine prophetischen Neigungen haben, um zu ahnen, dass unsere Gesellschaft vieles will, aber eines auf gar keinen Fall: einen dritten Weltkrieg. Auch wenn ihn manche Journalisten offenbar als unvermeidbar zu erachten scheinen.
Ohnehin ist es wohl eines der großen Rätsel unserer Zeit, dass es im Ringen um Krieg und Frieden nur die Wahl zwischen Sieg oder Niederlage zu geben scheint, anstatt nachzuspüren und darüber zu streiten, welche Optionen zwischen diesen beiden Extrempositionen verfügbar sind. Denn ganz egal, wann und wie die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten auch beendet werden: Es wird keine Sieger geben. Denn beide Kriege sind mit dem Blick auf ihre bereits eingetretenen und die noch zu erwartenden katastrophalen Kriegsfolgen für sämtliche Kriegsparteien bereits jetzt unabwendbar verloren. Militärisch sind beide Kriege nicht zu gewinnen und zivilisatorisch sind sie schon längst verloren.
Auch wenn die ohrenbetäubend donnernden Stimmen der Kriegsbefürworter uns noch immer gehirnwäschegleich etwas anderes einzureden versuchen. Und auch, wenn von politischen und journalistischen Bellizisten anscheinend noch immer unbeirrt verleugnet und verdrängt werden muss, dass es in einem Krieg niemals nur das Gute und das Böse gibt: Bei dem Fingerzeig auf den vermeintlich alleine Schuldigen, mit dem die eigene Verantwortung verleugnet wird, weisen unvermeidlich vier Finger auf uns selbst – ob wir das wollen oder nicht.
Deshalb ist der Ruf nach diplomatischen Bemühungen zur Lösung des Krieges in der Ukraine und in Israel und auch jener nach dem Einfrieren von Kriegshandlungen nicht Ausdruck naiver Appeasement-Politik. Solch ein Ruf muss in erster Linie als Ausdruck der Sorge um eine unkontrollierbare militärische Eskalation verstanden werden – wenn man sich denn auf einen solchen Gedankengang einlassen kann, ohne ihn in verächtlicher Weise zwanghaft zu desavouieren.
1932 schrieb Albert Einstein an Sigmund Freud und stellte ihm folgende Frage: »Gibt es einen Weg, die Menschen vor dem Verhängnis des Krieges zu befreien?« Die Antwort von Freud kam prompt: »Lieber Herr Einstein! Als ich hörte, dass Sie die Absicht haben, mich zum Gedankenaustausch über die Frage aufzufordern, was man tun könne, um das Verhängnis des Krieges von den Menschen abzuwehren, erschrak ich zunächst unter dem Eindruck meiner – fast hätte ich gesagt: unserer – Inkompetenz, denn das erschien mir als eine praktische Aufgabe, die den Staatsmännern zufällt. Ich verstand dann aber, dass Sie die Frage nicht als Naturforscher und Physiker erhoben haben, sondern als Menschenfreund. (…) Den psychischen Einstellungen, die uns der Kulturprozess aufnötigt, widerspricht nun der Krieg in der grellsten Weise, darum müssen wir uns gegen ihn empören, wir vertragen ihn einfach nicht mehr, es ist nicht bloß eine intellektuelle und affektive Ablehnung, es ist, bei uns Pazifisten, eine konstitutionelle Intoleranz, eine Idiosynkrasie gleichsam in äußerster Vergrößerung. Und zwar scheint es, dass die ästhetischen Erniedrigungen des Krieges nicht viel weniger Anteil an unserer Auflehnung haben als seine Grausamkeiten. Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die anderen Pazifisten werden? Es ist nicht zu sagen, aber vielleicht ist es keine utopische Hoffnung, dass der Einfluss dieser beiden Momente, der kulturellen Einstellung und der berechtigten Angst vor den Wirkungen eines Zukunftskrieges, dem Kriegführen in absehbarer Zeit ein Ende setzen wird. Auf welchen Wegen oder Umwegen, können wir nicht erraten. Unterdes dürfen wir uns sagen: Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg.«
Mehr als 90 Jahre nach diesem hoch aktuellen Briefwechsel schlägt das Pendel zwischen einer pazifistisch ausgerichteten kulturellen Einstellung zum Krieg und der Angst vor demselben in die unheilvolle Richtung aus. Was bleibt da also noch zu sagen und zu hoffen? Nicht kriegstauglich müssen wir werden, sondern friedensfähig, auch wenn oder gerade, weil das in diesen Tagen unpopulärer denn je zu sein scheint!