Sie halte es nicht mehr aus, rief mein Weib und begann, kalte Kartoffeln zu schneiden, sie müsse mal raus. Das verstehe ich, antwortete ich sanft, aber die Kanzlerin habe gesagt …
Wann habe mich jemals interessiert, was unsere Nachbarin sagt, womit mein Weib die Mieterin meinte vom Kupfergraben 6, was bei uns um die Ecke liegt. Mitunter begegneten wir uns im Wahllokal, sonst nur im Fernsehen.
Wir müssen raus, forderte mein Weib apodiktisch.
Gut, wir fuhren bis zur Ausgangssperre gelegentlich an Wochenenden ins Grüne, auch wenn’s grau war, oder an die Ostsee, quartierten uns irgendwo ein oder speisten in einem Restaurant. Das wurde in den letzten Jahren immer schwieriger – die meisten Gaststätten jenseits der größeren Städte stellten nach und nach den Betrieb ein. Erst gingen die guten Köche, dann blieben die Gäste aus. Schließlich kapitulierten die Betreiber. Aber einige Gaumentempel, die sich diesen Namen über Jahre hart erarbeitet hatten, überdauerten in der sich ausbreitenden kulinarischen Steppe. Sie wurden zu auch von uns gern angesteuerten Adressen.
Jetzt aber blieben auch sie aus den bekannten Gründen geschlossen, und bis zur See drang man nicht durch: Die Polizei sortierte bereits auf der Autobahn alle Fahrzeuge aus, die nicht in Mecklenburg-Vorpommern zugelassen worden waren.
Lass uns nach Osten fahren, sagte mein Weib doppeldeutig. In Deutschland sei seit jeher der Drang gen Osten statthaft, noch nie habe sich ein Dorfpolizist in den Weg gestellt, wenn die Räder gen Osten rollten. Lass uns an die Oder reisen und nach den Adonisröschen schauen, die müssten jetzt blühen.
Und wo wollen wir einkehren, warf ich ein. Alles ist dicht.
Sind wir zu DDR-Zeiten nicht auch unterwegs gewesen und nicht verhungert, obgleich wir kaum Restaurants fanden, in denen wir platziert wurden, weil es nämlich selten welche gab? Wir haben damals unseren Picknickkorb gefüllt und sind ins Blaue gestartet. Warum nicht heute wieder?
So fuhren wir denn an die Oder. Wir stellten unsere Stühlchen an den Ufersaum und hörten die Stille, die nur gelegentlich vom Flügelschlag der Schwäne oder dem Quaken der Frösche in den Nebengewässern gestört wurde. Oder wenn der Wind sanft durch das trockene Rohr strich, dass es raschelte, und eine fette Hummel vorbeibrummte. Hin und wieder flogen Feldlerchen über unseren Häuptern und sangen, was ihre Kehlen hergaben. Über allem spannte sich tiefblauer Himmel, gänzlich frei von Kondensstreifen, und die Sonne stand hoch. Auf dem gegenüberliegenden Ufer, auf dessen Deich weißrote Grenzpfosten sich reckten, radelten polnische Radfahrer rasch, während wir entschleunigten. Ruhig strömte die Oder dahin und übertrug sich auf unseren Pulsschlag.
Nach einer Weile holte mein Weib die Schüssel mit Kartoffelsalat und Buletten hervor, anschließend tranken wir Kaffee aus der Thermoskanne … Es war alles wie früher. Nein, nicht ganz, damals hatte ich nicht den Spiegel dabei. Doch als ich die 130 Seiten durchgeblättert hatte, dachte ich, auch darauf hätte ich verzichten und die 5,30 € besser anlegen können. Gefehlt hätte mir nichts.
Dann machten wir uns auf zu den Hängen bei Lebus, um die Adonisröschen zu besichtigten wie in jedem April. Sie blühten heuer besonders üppig, wie mir schien, größer die Blüten als sonst und dichter der gelbe Teppich. Und zwischendrin, auf Decken, Campingstühlen und Holzbänken die Luftschnapper aus MOL und FF, auch einzelne Berliner waren darunter. Sie saßen plaudernd bei Nudel- und Kartoffelsalat, bei Kaffee und Kuchen wie einst in DDR-Tagen, als es kaum Ausfluglokale und Cafés hier draußen gab.
Wir hatten es also noch nicht verlernt.