Der Dichter und Dramatiker Peter Hacks hat einmal jene Überlebenden aus der Deutschen Demokratischen Republik sowie andere Kommunisten, die das irgendwie zustande bringen können, aufgefordert, ihr DDR-Erfahrungsbuch zu schreiben und von der Sache Kunde zu tun. Doch nicht allen Menschen ist es gegeben, ihr Erlebtes und Erkanntes in ein Buch zu übersetzen. In Potsdam haben zunächst Initiatorin Ursula Münch und dann Horst Jäkel mittlerweile sogar zwanzig solche Bände zustande gebracht, Erinnerungsbücher, in denen die unterschiedlichsten Menschen ihre Erfahrungen mit dem Realsozialismus schildern. Leute aus der DDR und Leute aus dem deutschen Westen. Leute unterschiedlichster sozialer Position. Das Spektrum der Texte reicht von Berichten, Artikeln und Anekdoten bis zu Geschichten, Dokumenten, Gesprächen und Gedichten. Die Ansichten und Darstellungsweisen sind nicht minder unterschiedlich, gegensätzlich, auch qualitativ heterogen. Sie kommen aus allen Bereichen der Gesellschaft. Doch aus den Fragmenten ergibt sich ein Mosaik, Einsichten in gelebtes Leben, das fügt sich zu einem Gesamtzusammenhang und lässt »das Ganze« durchschimmern.
Allein fürs neugierige Schmökern empfiehlt sich diese Kollektion. Es gibt Überraschendes, und es gibt Wohlbekanntes. Das regt an, sich zu erinnern, sich näher zu informieren, zu fragen. Jäkel folgt mit seinen DDR-Erinnerungsbüchern nicht akademischer Systematik. Doch könnte man der Reihe den Satz aus einem Brief von Hacks voransetzen: »Wessen sollen wir uns rühmen, wenn nicht der DDR?« Falls Bücher dazu da sind, Denken anzustoßen, Wissen zu vermitteln und die Dinge aus ungewohnter Sicht zu betrachten, ist Jäkels Materialsammlung ein solches Buch par excellence – und in einer Zeit der Wissensvernichtung inhaltlich durchaus anstößig.
Da schreiben Bäuerinnen und Funktionäre, es gibt Aufsätze von Lehrern und von Studenten, man findet ökonomische Probleme behandelt oder touristische. Das entfaltet einen ganz eigenen Reiz und erinnert an Veranstaltungen, die wir in der DDR als völlig normal erachteten. In vielen Diskussionsrunden war das Publikum gemischt, ebenso wie auf den berühmten DDR-Partys in den Privatwohnungen: Man lernte Ärzte oder Lagerarbeiter kennen, es diskutierte ein Maschinist mit einem Buchverkäufer, die Malerin und der Pförtner waren sich nicht aus sozialen Gründen suspekt. Sicher gab es auch anderes, aber im Großen und Ganzen dominierte dieser Mischcharakter das Leben der sozialistischen Gesellschaft. Ich möchte daher gar nicht mit den Namen populärer Beteiligter werben, um nicht die »Namenlosen« in den Schatten solchen Glanzes zu stellen, das wäre ungerecht. Nicht die Kleider machten die Leute – daran erinnert Jäkels Buch. Spießiges fehlt nicht neben Klugem, Illusion trifft auf Desillusion, Historisches auf Enges. Ja, die DDR war nicht nur Arbeit, FDJ und Kultur. Deshalb sei diese Lektüre empfohlen. Denn, um Peter Hacks ein drittes Mal zu zitieren: »Der größte Schaden auf dem Weg zur Menschwerdung ist Wissensverzicht.«
Horst Jäkel (Jg. 1935), Arbeitersohn, erhielt 2019 den Menschenrechtspreis der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e. V., hat – ohne Internet – alle diese Bücher mit großem Enthusiasmus realisiert und in Zusammenarbeit mit einer kleinen Schar Treuerherausgegeben: Gerlinde Jäkel, Helga Bornstädt, Christa Kikels, Hans-Jürgen Westphal – im Auftrag der unabhängigen Autorengemeinschaft »Als Zeitzeugen erlebt«. Diese Arbeit ist frei von Werbung, es gibt auch keine Reklame für die Edition. Die Herstellung hat nicht nur Engagement, sondern auch privates Geld gekostet, so etwas bringt keinen materiellen Gewinn. Deshalb wünscht man auch dem neuesten Band dieses erstaunlichen Editionsprojektes große Aufmerksamkeit. Ich bin froh, dass es solche Bücher, dass es dieses Buch gibt.
Horst Jäkel (Hrsg.): DDR – UNSER ERBE, Potsdam 2020, 480 Seiten, 19 €, www.medienpunktpotsdam.de.