Die Historikerin Katja Hoyer erhält für ihr Buch über »ihre« DDR viel Anerkennung, erntet aber auch heftige Kritik. Am 11. Mai schrieb der Historiker und ehemalige DDR-Bürger Ilko-Sascha Kowalczuk, kein »unbeschriebenes Blatt« als Mitglied der Regierungskommission »30 Jahre Revolution und Deutsche Einheit«, im Freitag eine Rezension, gefolgt von mehreren Beiträgen zum Thema, unter anderem ein Interview mit der Autorin. An der Debatte fällt auf, dass positive Worte über die DDR immer noch verbale Amokläufe auslösen – oft als akademische Variante des Wendehals-Syndroms, das manchen DDR-BürgerInnen nach der Übernahme des östlichen Teils Deutschlands durch den westlichen zu weicher Landung verhalf. Ihren verbissenen Einlassungen gemäß war diese Ostzonen-Diktatur eine Quasi-Hölle für die Menschen, die dort leben mussten, und die von Helmut Kohl 1989 versprochenen blühenden Landschaften ein Segen für sie – auch wenn sie nie geblüht haben. Einigen Unverbesserlichen wie Frau Hoyer müssen deshalb die Leviten gelesen werden.
Oder war es vielleicht doch ein wenig anders? Ja, lautet meine Antwort, zwar nicht als »DDR-Experte«, aber als Kind jenes Staates, über den Kowalczuk schreibt: »Die Autorin hätte ja mal auf die Idee kommen können, zu fragen, was zum Beispiel politische Propaganda in den Schulen, den Medien, an der Universität, bei der Armee, wo auch immer – Millionen waren davon tagtäglich betroffen – mental, kulturell, intellektuell anrichteten.«. Ihm entgeht, dass sie mit ihrem Buch diese Frage gestellt und Antworten gegeben hat, die meiner ähneln: Eine glückliche Kindheit in jenem anderen Deutschland, auch bei und mit den Jungen Pionieren, hat mich zu einem Menschen geformt, der im demokratischen Sozialismus, trotz seiner misslungenen »realen« Variante, eine der wenigen Hoffnungen für die Menschheit sieht, bis zum heutigen Tag: Die Propaganda, die ich in der Schule erlebt habe, hat mich davon überzeugt, dass »mental, kulturell, intellektuell« der Sinn des Lebens – ich bin jetzt 80 Jahre alt – darin besteht, für eine sozial gerechte und friedliche Gesellschaft zu kämpfen, das Wohlergehen der Mitmenschen nicht weniger wichtig zu nehmen, als das eigene. LehrerInnen, die für den Aufbau des Sozialismus mit so viel Enthusiasmus lebten, dass ihre SchülerInnen geradezu angesteckt wurden, haben meine ersten Schuljahre und in gewisser Weise mein ganzes Leben geprägt.
Aus eigener Erfahrung kann ich nur bis zum Jahre 1958 berichten. In den Jahrzehnten danach habe ich bei Besuchen in meinem Heimatort in Mecklenburg-Vorpommern und auf dem Darß oft mit meinen Freunden und ehemaligen LehrerInnen diskutiert und erfahren, wie ihre Hoffnungen auf eine sozialistische Gesellschaft nicht etwa schwanden, sondern differenzierter und kritischer wurde. Nicht der Stasi-Vertreter im Dorf, mit dem Sie sich duzten und dessen Auftrag ihnen bewusst war, machte sie wütend, sondern Reisebeschränkungen als Ergebnis eines tiefen Misstrauens der SED-Funktionäre, für das ihnen jedes Verständnis fehlte: »Warum trauen die da oben uns nicht, wir wollen die Welt kennenlernen, ernst genommen werden, der Westen ist für uns keine Alternative, hier ist unser sozialistisches Zuhause, hier leben wir und hier wollen wir unsere Zukunft aufbauen.«
Der Systemwechsel wurde zur dramatischen Wende in meinem Leben: »Soziale Kälte« ist als Gefühl seither nie verschwunden, in mir und um mich herum. Weil ich mich mental, kulturell und intellektuell kompromisslos gegen Ausbeutung und Unterdrückung hier und überall einsetzte, bremste ein Berufsverbot meine beruflichen Perspektiven als Hochschullehrer aus. »Nirgendwo ist bei ihr von Verboten zu lesen, von Verboten, mehr und anderes wissen zu wollen als das, was die Herrschenden vorgaben.« Kowalczuk bleibt im Nebel der Verklärung des angeblich freiheitlichen Westens verborgen, dass dort Verbote von Wissen und Handeln, das für die »Herrschenden« unerwünscht war, in Ausgrenzung, in Exkommunikation und in existenziellen Ruin umschlugen, gerechtfertigt mit der angeblichen Sicherung demokratischer Fundamente, durchgesetzt mit anti-demokratischen Mitteln. Nicht die Stasi, sondern der westdeutsche Verfassungsschutz lieferte den Kultusministerien die Akte, auf deren Basis sie entschieden, dass ich nicht auf dem Boden der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung stehe. Nein, keine Diktatur griff in mein Leben – wie in das Tausender Anderer – ein, sondern ein obrigkeitsstaatlich strafendes System, dessen VertreterInnen Kritik an ihrer Agenda mit einem fallbeilartigen Radikalenerlass auszumerzen versuchten – und zeitgleich mit moralingesättigter Selbstgerechtigkeit die Untaten von SED und Stasi anklagten.
Wer der Autorin vorwirft, »von Ideologie ist nichts zu lesen«, begreift nicht, dass ihr Ideologiebegriff mit der ideologischen Abwicklung der DDR aufräumt: mit dem Bild, das vielen Menschen im Westen über die im Osten propagandistisch oktroyiert wurde. Ein nicht nur falsches, sondern eindimensionales Bewusstsein, das, weit über den verengten Blick auf die DDR hinaus, längst durch unermüdliche Propaganda für zynische politische Narrative zu einer allgegenwärtigen Lebenslüge geworden ist: Menschenrechte als angebliche Handlungsmaxime, die zeitgleich im Mittelmeer ertränkt und an der europäischen Ostgrenze in Stacheldrahtzäunen zerfetzt werden, Wohlstand als fragloser Anspruch, der durch weltweite Ausbeutung kolonialistisch-rassistisch abgefedert wird, und wirtschaftliches Wachstum, dessen übersehene und missachtete Opfer im globalen Süden Lebensgrundlagen und Leben verlieren.
Voller gängiger Vorurteile gegen die Historikerin Hoyer und gegenüber der DDR in der Vielfalt ihrer Facetten ist Kowalczuk überzeugt: »Freiheit als Sehnsuchtsort kommt bei ihr nicht vor« – eine dieser Phrasen, die in sich zusammenfallen, wenn sie sachlich angepiekst werden: Viele DDR-BürgerInnen wussten, Stasi hin, SED her, dass die kapitalistische Freiheit, zwischen zehn Autos oder fünfzehn Wachmitteln wählen zu können, keine Sehnsucht stillt, sondern Bedürfnisse und Wünsche Warenproduzenten lediglich als Durchlauferhitzer für ihren eigenen profitablen Nutzen dienen. Nein, Hoyer entwirft kein Bild eines widerspruchsfreien Lebens – wohl wissend, dass einem solchen Versprechen nicht zu trauen ist, wie Millionen Menschen, die von Armut in einer angeblich glücklich machenden Waren-Welt geplagt sind, bezeugen können. Nein, ein Füllhorn war der Alltag in der DDR sicherlich nicht, in der der Autorin angeblich »keine SED, keine Ideologie, kein systemsprengender Widerspruch« aufgefallen sind: Er war voller Widersprüche, aber für die meisten und meistens lebens- und liebenswert – und sie träumten eher nicht von der »freien Welt« jenseits des Eisernen Vorhangs, sondern von kleinen Verbesserungen bei der Alltagsbewältigung – und viele durchaus vom großen sozialistischen Wurf in die Zukunft.
»Die flächendeckende SED-Herrschaft« war sicherlich oft nervig, aber Dialektik war für viele Menschen in der DDR nicht nur ein theoretischer Begriff, sondern eine praktische Methode: Druck der Partei und Borniertheit vieler Funktionäre machten erfinderisch, sich im Alltag dennoch zufrieden und genussvoll einzurichten, war geradezu Volkssport. Die meisten von ihnen waren, da hat Kowalczuk auch mal Recht, »weder Systemträger noch nennenswerte Systemgegner, sondern nur eine große Masse eher willig mitmachender Menschen, die sich eingerichtet hatten« – und die frei von existenziellen Sorgen waren, weil ihnen keine Tafel, keine Obdachlosigkeit und keine Altersarmut drohten. Es war ein existenziell gesichertes Mitmachen, dem erspart blieb, was sich im Westen von Jahr zu Jahr stärker bemerkbar macht: Resignation eines immer größeren Teils der Menschen, Zunahme psychischer Erkrankungen, materielle und kulturelle Armut von Millionen Kindern ohne Lebens-, aber mit Elendsperspektive. Dass Hoyer »an keiner Stelle nach den Folgen der Mauer fragt«, ist durchaus nicht abwegig, denn der Mauerbau mag rückblickend für töricht gehalten werden, auf die Weltlage 1961 bezogen aber durchaus seinen historischen Sinn haben. Ganz abgesehen davon, dass die aktuellen Ereignisse an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, in Melilla, in Polen und in Kroatien, in Griechenland und in Israel, es geradezu verbieten sollten, mit dem moralischen Zeigefinger auf die DDR und ihre Mauer zu zeigen, um sich nicht selbst in bigotter Ignoranz zu verfangen.
Zum perfekten Verriss gehört die Vorhaltung, dass Hoyer »es auch mit den historischen Fakten nicht sonderlich genau« nimmt, denn ihre »Darstellung des 17. Juni 1953 ist peinlich. Hier feiert die alte SED-These fröhlich Urständ, der Westen habe sich ›eingemischt‹, der RIAS habe die Ereignisse befeuert.« Der Konjunktiv suggeriert, dass die historischen Fakten der Darstellung der Autorin widersprechen – und wird selbst zum Fake. Das Ausmaß, in dem »der Westen« sich eingemischt und RIAS gehetzt und »befeuert« hat, ist hinreichend dokumentiert. Dieser emotional-verengten Linie gegen Hoyer folgend liegt es nahe, »empörend« zu finden, wie sie »die ›SED-Gründung‹, die Zwangsvereinigung von KPD und SPD behandelt«. Die Protokolle der Parteitage sollte einsehen, wer sich ein Urteil über den Zwang bilden will, der dort stattgefunden haben mag, dennoch vielleicht ein wichtiger Baustein für die Gründung eines sozialistischen Staates war. Drängt sich das Verbot der KPD in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1956 in diesem Zusammenhang nicht geradezu assoziativ auf? Denn es legt nahe, dass schon kurz nach der Gründung der BRD dort demokratieferne Manöver gegen die noch junge Demokratie stattfanden: Menschen und eine Organisation, deren Mitglieder überwiegend Antifaschisten waren, wurden aus dem gesellschaftlichen Verkehr gezogen, während Alt-Faschisten nicht nur überlebten, sondern in manchen gesellschaftlichen Bereichen dominierten.
»Es war doch gar nicht so übel in der kleinen, feinen DDR« – diese Katja Hoyer ironisch unterstellte Schlussfolgerung enthält eine nicht nur nostalgische, sondern eine lehrreiche Wahrheit in doppeltem Sinne, die Kowalczuk verschlossen bleibt, weil er auf der Klaviatur seiner Vorurteile seit 1989 perfekt zu spielen gelernt hat: Es war nicht nur »nicht so übel«, sondern trotz SED und Stasi war das Leben in der DDR lebendig, pulsierend, produktiv und kreativ – und deshalb musste möglichst jede materielle, jede kulturelle, jede wissenschaftliche, jede gesellschaftlich irgendwie eindrückliche Facette im Zuge der Annexion durch die BRD plattgemacht werden. Wendezeit halt, eine fast lautlose Vernichtung, auch eine Art Krieg.