Am Montag nach dem sogenannten Volkstrauertag waren wir auf dem Golm. Das ist mit fast siebzig Metern die höchste Erhebung auf der Insel Usedom. Sie liegt dicht bei der Grenze, die einst Stalin in Potsdam mit einem Bleistiftstummel auf der Karte markiert hatte. Er wünschte aus strategischen Erwägungen diesen Teil der Insel in polnischer Hand, denn dort lag Swinemünde mit seinem Militärhafen. Was aus Deutschland nach dem Krieg künftig werden würde, schien unklar. Darum also diese auch für deutsche Kommunisten schmerzliche Verfügung.
Auf dem Golm, der nun diesseits jener Grenze lag, waren wenige Monate zuvor einige Tausend Menschen bestattet worden, die am 12. März 1945 bei einem Luftangriff der Amerikaner ihr Leben verloren hatten. In Swinemünde hielten sich damals mehrere zehntausend Flüchtlinge auf. In der DDR hatte man ein Problem mit diesem Erbe: Hier lagen deutsche Opfer des imperialistischen Krieges, aber sie stammten aus einem Ort, der jetzt polnisch war und Świnoujście hieß. Die Führung in Ost-Berlin unterließ alles, was auch nur den Anflug von Nationalismus und Revanchismus hätte haben können. Bekanntlich reagierte man jenseits der Oder-Neiße-Grenze aus verständlichen Gründen sehr empfindlich.
Heute spricht und schreibt man von der größten Kriegsgräberstätte in Mecklenburg-Vorpommern und akzeptiert sogar die Opferzahlen, die einst die DDR mit etwa zwanzigtausend Bombentoten und dreitausend Soldaten angegeben hat. Zuvor hatte es aber die gleichen unsäglichen Auseinandersetzungen gegeben wie in Dresden, weil behauptet wurde, die überlieferten Zahlen seien angeblich von der SED aus propagandistischen Erwägungen überhöht worden. Der vermeintlich wissenschaftliche Streit war inzwischen beigelegt, als ich seinerzeit auf dem Golm war und darüber berichtete (siehe »Nahe der polnischen Grenze« in Ossietzky 19/2020).
Seit den fünfziger Jahren bemühte sich die DDR um ein angemessenes Erinnern und rücksichtsvolles Gedenken an diesem Ort. Auf dem höchsten Punkt der weitläufigen Anlage, unter uralten Bäumen, wurde Ende der sechziger Jahre ein »Mahnmal gegen Krieg und Faschismus« – ein zweigeteilter, begehbarer Rundbau – errichtet. In der Mitte, eingelassen in Feldsteine, eine runde Bodentafel mit der Inschrift: »Dreiundzwanzigtausend Tote des Zweiten Weltkriegs mahnen«. Auf der einen Seite ragten Krampen ins Rondellinnere, an die man Kränze hängte. Und gegenüber zierte ein Zitat das Rund und gab dem Ganzen seinen Sinn: »Dass nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint«. Diese Zeile aus der DDR-Nationalhymne war aus Bronze, sie wurde 2009 vielleicht von den gleichen Buntmetalldieben gestohlen, die auch die anderen Bronzetafeln aus der Grabanlage mitgehen ließen. Die Tafeln wurden durch Kunststoff ersetzt, die Zeile ebenfalls, aber selbst diese wurde schon im Jahr darauf »von bislang unbekannten Tätern entfernt«. Vielleicht waren es ja doch keine Buntmetalldiebe. Der Schriftzug wurde dann mit Farbe auf den Beton aufgetragen – irgendwie erinnert das an Brechts »Unbesiegliche Inschrift«.
Unweit dieses Mahnmals steht eine in einen Wehrmachtsmantel gehüllte Frau. Die Betonfigur ist von Flechten überwuchert und vom Regen gedunkelt. Der Frau fehlt die Nase, sie wurde ihr vor vier Jahren abgeschlagen. Die Skulptur schuf der Bansiner Bildhauer Rudolf Leptien 1952/53, doch weil er danach in den Westen ging, haderten die Offiziellen, weshalb »Die Frierende« erst 1984 ihren Platz fand, auf dem sie seither steht. Und eben dort lagen und hingen auf stählernen Ständern die Kränze und Gebinde der Parteien und Organisationen im Dutzend, die diese am Vortag hatten niederlegen lassen. Den größten Kranz mit Eisernem Kreuz auf schwarzrotgoldener Schleife hatte, wie auf der zweiten Schärpe zu lesen war, »Der Bundesminister der Verteidigung« geschickt. Auch wenn Schinkel einst das Kreuz entwarf, das auch die Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin »schmückt«, so können wir dessen spätere Verwendung an Kriegsgeräten und Ordensbrüsten nicht vergessen. (Nebenbei: Die deutsche Botschaft in Helsinki feiert dieses EK auf ihrer Homepage als »Erkennungszeichen für Freiheit und gegen Tyrannei«: https://helsinki.diplo.de/fi-de/03-deutschlandundfinnland/aktuelles/-/2502270). Das sahen unsere Nachbarn zwischen 1914 und 1918 bzw. 1939 bis 1945 gewiss anders. O-Ton und fast Realsatire, wenn’s denn nicht so traurig wäre: »Die Vertrautheit mit diesem Symbol hat seine Wurzeln in vergangenen Zeiten und gilt wie die Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold sowohl im Baltikum als auch in anderen Teilen der Welt als positiv besetztes Erkennungszeichen.«)
Ausgerechnet Boris Pistorius (SPD), der erst eine Woche zuvor öffentlich gefordert hatte, die Bundeswehr müsse »kriegstüchtig« gemacht und in Deutschland ein »Mentalitätswandel« vollzogen werden, schickte seinen Kranz an dieses Massengrab. (Ich vermute mal: Er schickte auch welche an andere Kriegsgräberstätten.) Ist das zynisch, gefühllos, inhuman und krude? Allerdings beschäftigte mich auch die Frage, warum all die Kränze und Gebinde hier und eben nicht ein paar Meter weiter im Rondell mit der Zeile »Dass nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint« hingen oder lagen? Platz war ausreichend vorhanden und auch Raum zum Nachdenken.