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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Dass nie eine Mutter mehr …«

Am Mon­tag nach dem soge­nann­ten Volks­trau­er­tag waren wir auf dem Golm. Das ist mit fast sieb­zig Metern die höch­ste Erhe­bung auf der Insel Use­dom. Sie liegt dicht bei der Gren­ze, die einst Sta­lin in Pots­dam mit einem Blei­stift­stum­mel auf der Kar­te mar­kiert hat­te. Er wünsch­te aus stra­te­gi­schen Erwä­gun­gen die­sen Teil der Insel in pol­ni­scher Hand, denn dort lag Swi­ne­mün­de mit sei­nem Mili­tär­ha­fen. Was aus Deutsch­land nach dem Krieg künf­tig wer­den wür­de, schien unklar. Dar­um also die­se auch für deut­sche Kom­mu­ni­sten schmerz­li­che Verfügung.

Auf dem Golm, der nun dies­seits jener Gren­ze lag, waren weni­ge Mona­te zuvor eini­ge Tau­send Men­schen bestat­tet wor­den, die am 12. März 1945 bei einem Luft­an­griff der Ame­ri­ka­ner ihr Leben ver­lo­ren hat­ten. In Swi­ne­mün­de hiel­ten sich damals meh­re­re zehn­tau­send Flücht­lin­ge auf. In der DDR hat­te man ein Pro­blem mit die­sem Erbe: Hier lagen deut­sche Opfer des impe­ria­li­sti­schen Krie­ges, aber sie stamm­ten aus einem Ort, der jetzt pol­nisch war und Świ­nou­jście hieß. Die Füh­rung in Ost-Ber­lin unter­ließ alles, was auch nur den Anflug von Natio­na­lis­mus und Revan­chis­mus hät­te haben kön­nen. Bekannt­lich reagier­te man jen­seits der Oder-Nei­ße-Gren­ze aus ver­ständ­li­chen Grün­den sehr empfindlich.

Heu­te spricht und schreibt man von der größ­ten Kriegs­grä­ber­stät­te in Meck­len­burg-Vor­pom­mern und akzep­tiert sogar die Opfer­zah­len, die einst die DDR mit etwa zwan­zig­tau­send Bom­ben­to­ten und drei­tau­send Sol­da­ten ange­ge­ben hat. Zuvor hat­te es aber die glei­chen unsäg­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen gege­ben wie in Dres­den, weil behaup­tet wur­de, die über­lie­fer­ten Zah­len sei­en angeb­lich von der SED aus pro­pa­gan­di­sti­schen Erwä­gun­gen über­höht wor­den. Der ver­meint­lich wis­sen­schaft­li­che Streit war inzwi­schen bei­gelegt, als ich sei­ner­zeit auf dem Golm war und dar­über berich­te­te (sie­he »Nahe der pol­ni­schen Gren­ze« in Ossietzky 19/​2020).

Seit den fünf­zi­ger Jah­ren bemüh­te sich die DDR um ein ange­mes­se­nes Erin­nern und rück­sichts­vol­les Geden­ken an die­sem Ort. Auf dem höch­sten Punkt der weit­läu­fi­gen Anla­ge, unter uralten Bäu­men, wur­de Ende der sech­zi­ger Jah­re ein »Mahn­mal gegen Krieg und Faschis­mus« – ein zwei­ge­teil­ter, begeh­ba­rer Rund­bau – errich­tet. In der Mit­te, ein­ge­las­sen in Feld­stei­ne, eine run­de Boden­ta­fel mit der Inschrift: »Drei­und­zwan­zig­tau­send Tote des Zwei­ten Welt­kriegs mah­nen«. Auf der einen Sei­te rag­ten Kram­pen ins Ron­del­l­in­ne­re, an die man Krän­ze häng­te. Und gegen­über zier­te ein Zitat das Rund und gab dem Gan­zen sei­nen Sinn: »Dass nie eine Mut­ter mehr ihren Sohn beweint«. Die­se Zei­le aus der DDR-Natio­nal­hym­ne war aus Bron­ze, sie wur­de 2009 viel­leicht von den glei­chen Bunt­me­tall­die­ben gestoh­len, die auch die ande­ren Bron­ze­ta­feln aus der Grab­an­la­ge mit­ge­hen lie­ßen. Die Tafeln wur­den durch Kunst­stoff ersetzt, die Zei­le eben­falls, aber selbst die­se wur­de schon im Jahr dar­auf »von bis­lang unbe­kann­ten Tätern ent­fernt«. Viel­leicht waren es ja doch kei­ne Bunt­me­tall­die­be. Der Schrift­zug wur­de dann mit Far­be auf den Beton auf­ge­tra­gen – irgend­wie erin­nert das an Brechts »Unbe­sieg­li­che Inschrift«.

Unweit die­ses Mahn­mals steht eine in einen Wehr­machts­man­tel gehüll­te Frau. Die Beton­fi­gur ist von Flech­ten über­wu­chert und vom Regen gedun­kelt. Der Frau fehlt die Nase, sie wur­de ihr vor vier Jah­ren abge­schla­gen. Die Skulp­tur schuf der Ban­si­ner Bild­hau­er Rudolf Lep­ti­en 1952/​53, doch weil er danach in den Westen ging, hader­ten die Offi­zi­el­len, wes­halb »Die Frie­ren­de« erst 1984 ihren Platz fand, auf dem sie seit­her steht. Und eben dort lagen und hin­gen auf stäh­ler­nen Stän­dern die Krän­ze und Gebin­de der Par­tei­en und Orga­ni­sa­tio­nen im Dut­zend, die die­se am Vor­tag hat­ten nie­der­le­gen las­sen. Den größ­ten Kranz mit Eiser­nem Kreuz auf schwarz­rot­gol­de­ner Schlei­fe hat­te, wie auf der zwei­ten Schär­pe zu lesen war, »Der Bun­des­mi­ni­ster der Ver­tei­di­gung« geschickt. Auch wenn Schin­kel einst das Kreuz ent­warf, das auch die Qua­dri­ga auf dem Bran­den­bur­ger Tor in Ber­lin »schmückt«, so kön­nen wir des­sen spä­te­re Ver­wen­dung an Kriegs­ge­rä­ten und Ordens­brü­sten nicht ver­ges­sen. (Neben­bei: Die deut­sche Bot­schaft in Hel­sin­ki fei­ert die­ses EK auf ihrer Home­page als »Erken­nungs­zei­chen für Frei­heit und gegen Tyran­nei«: https://helsinki.diplo.de/fi-de/03-deutschlandundfinnland/aktuelles/-/2502270). Das sahen unse­re Nach­barn zwi­schen 1914 und 1918 bzw. 1939 bis 1945 gewiss anders. O-Ton und fast Real­sa­ti­re, wenn’s denn nicht so trau­rig wäre: »Die Ver­traut­heit mit die­sem Sym­bol hat sei­ne Wur­zeln in ver­gan­ge­nen Zei­ten und gilt wie die Natio­nal­far­ben Schwarz-Rot-Gold sowohl im Bal­ti­kum als auch in ande­ren Tei­len der Welt als posi­tiv besetz­tes Erkennungszeichen.«)

Aus­ge­rech­net Boris Pisto­ri­us (SPD), der erst eine Woche zuvor öffent­lich gefor­dert hat­te, die Bun­des­wehr müs­se »kriegs­tüch­tig« gemacht und in Deutsch­land ein »Men­ta­li­täts­wan­del« voll­zo­gen wer­den, schick­te sei­nen Kranz an die­ses Mas­sen­grab. (Ich ver­mu­te mal: Er schick­te auch wel­che an ande­re Kriegs­grä­ber­stät­ten.) Ist das zynisch, gefühl­los, inhu­man und kru­de? Aller­dings beschäf­tig­te mich auch die Fra­ge, war­um all die Krän­ze und Gebin­de hier und eben nicht ein paar Meter wei­ter im Ron­dell mit der Zei­le »Dass nie eine Mut­ter mehr ihren Sohn beweint« hin­gen oder lagen? Platz war aus­rei­chend vor­han­den und auch Raum zum Nachdenken.