Am 8. Mai 1945 war ich sieben Jahre alt, lebte in einem kleinen Dorf an der Weser, ging in die Dorfschule und begriff nichts. Auch später auf dem Gymnasium in Hamburg waren Krieg, Faschismus und der Neuanfang im Zeichen der UNO kein Thema im Unterricht. Die Lehrer, überwiegend alte Nazis, schwiegen über die Vergangenheit.
Erst spät haben sich Politik und Regierung dazu durchgerungen, die militärische Niederlage als Befreiung vom Faschismus anzuerkennen und den Ruf »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus« zu akzeptieren. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis 1973 beide deutschen Staaten in die UNO aufgenommen wurden. Es gab nur wenig Beifall, viele Staaten waren nicht erfreut. Aber es war wichtig, dass die Deutschen von nun an in eine Ordnung eingebunden wurden, die jede Gewalt und militärischen Alleingang verbot. Das sind die Gebote der UNO: Verzicht auf Gewalt, die friedliche Lösung aller Konflikte, der Aufbau einer friedlichen Weltgesellschaft, in der Krieg und Unterdrückung geächtet sind.
Was ist daraus geworden? Schon 26 Jahre nach dem Beitritt zur UNO, brach die Regierung mit all ihren Versprechungen und Verpflichtungen. Am 24. März 1999 überfiel sie mit ihren Verbündeten in der Nato ihr Nachbarland Jugoslawien. Wie Gangster haben sie die UNO umgangen und 78 Tage lang Menschen und Land bombardiert. Über 200.000 Tote und mehrere Millionen Flüchtlinge und Vertriebene. Mit Lügen und falschen Erzählungen versuchten SPD und Grüne ihren Völkerrechtsbruch zu rechtfertigen. Sie wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Deutschland zahlte nie Entschädigung.
Doch nun, keine 25 Jahre später ist wieder Krieg in Europa. Diesmal sind es die Russen. Genauso ein schwerer und unverantwortlicher Bruch mit dem Völkerrecht und den Prinzipien der UNO. Ein Epochenumbruch, eine Zeitenwende? Wieso? Die grauenhaften Bilder von Tot, Zerstörung, Flucht und Leid der Menschen aus der Ukraine kennen wir doch schon aus den Kriegen in Vietnam, Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien. Haben wir schon vergessen, wer diese Toten zu verantworten hat? Was ist der Unterschied zwischen den Kriegen der USA und ihren Verbündeten und der russischen Gewalt gegen die Ukraine? Alle Rufe nach dem Völkerrecht, die jetzt plötzlich laut werden, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die, die jetzt rufen, einen Trümmerhaufen vor sich haben, den sie selbst verantworten müssen.
Wie hat es zu diesem Rückfall in die kriegerische Barbarei kommen können? Ausgerechnet Russland, das uns vom Faschismus befreit und dabei 27 Millionen Tote zu beklagen hat. Niemand fragt nach der Vorgeschichte und stürzt sich auf Putin – ein Wahnsinniger, unzurechnungsfähig, von seinen imperialistischen Träumen nach einem russischen Großreich besessen, offensichtlich unter dem Einfluss dunkler Philosophen. Das entlastet, nicht nach der eigenen Verantwortung für diesen zweiten Krieg in Europa zu fragen. Aber nur, wenn wir uns darüber Klarheit verschaffen, wie es zu diesem erneuten Bruch mit der Völkerrechtsordnung kommen konnte, haben wir eine Chance, die Zeit nach dem Krieg friedlich zu ordnen. Denn auch dieser furchtbare Krieg wird einmal beendet, und wir müssen mit Russland in Europa leben.
Dieser Krieg war vermeidbar. Schauen wir nur an den Anfang dieses Jahres zurück. Die Geheimdienste der USA hatten den Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine mit Datum vorausgesagt. Alle Politiker und Militärs der USA und der übrigen Nato-Staaten waren informiert. Das war diesmal keine Falschmeldung. Warum sind sie in diesem Zeitpunkt höchster Gefahr nicht auf die drei Forderungen Putins eingegangen?
- Keine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine.
- Keine Angriffswaffen in den Nato-Staaten an den Grenzen Russlands.
- Und: Rückbildung der militärischen Infrastruktur dieser Staaten auf den Stand der Nato-Russlandakte von 1997.
War das unzumutbar? Sie haben den Krieg vor Augen gehabt und haben nichts unternommen, ihn zu verhindern.
Lassen wir uns nicht täuschen. Dies ist kein Krieg nur zwischen Russland und der Ukraine. Seit Jahrzenten verfolgen die USA ihr Ziel, Russland zu isolieren und als Machtfaktor in den internationalen Beziehungen auszuschalten. Der Chef der geostrategischen Denkfabrik »Stratfor«, George Friedman, sagte im Februar 2015: »Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland … Seit einem Jahrhundert ist es für die Vereinigten Staaten das Hauptziel, die einzigartige Verbindung zwischen deutschem Kapital, deutscher Technologie und russischen Rohstoff-Ressourcen, russischer Arbeitskraft zu verhindern.«
Machen wir uns nichts vor. »Tatsache ist«, wie es ein nüchterner Berater mehrerer US-Präsidenten, Zbigniew Brzezinski, schon 1997 formulierte: »schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben.« Und wer die Ukraine hat, machte schon Brzezinski seinen Präsidenten klar, beherrscht Eurasien. Nun ist die arme Ukraine zum Schlachtfeld dieser Auseinandersetzung geworden. Und die Milliarden Dollar, die die USA in die Verwandlung der Ukraine, genannt Demokratisierung, gesteckt haben, zahlen sich jetzt aus. Wolodymyr Selenskyj und seine Umgebung sind entschlossen, bis zum Sieg kämpfen zu lassen.
Dieser Krieg wird noch lange dauern. Von Diplomatie und Verhandlungen ist keine Rede. Nur schwere Waffen und die Illusion, Russland militärisch besiegen zu können. Es ist unsere Schwäche, dass wir eine Regierung haben, die sich wie ein Vasall immer tiefer in den Krieg hineintreiben lässt. Sie hat nicht die Kraft, stopp zu sagen, nicht weiter. In Ramstein hat US-Außenminister Austin keine Zweifel daran gelassen, dass es darum geht, Russland niederzuwerfen. Hier hilft kein Völkerrecht, keine UNO, keine verlogenen Werte einer kriegerischen Außenpolitik. Eine Atommacht darf man aber nicht testen und bedenkenlos herausfordern. Einmal, im Februar dieses Jahres, hat man Putin falsch eingeschätzt. Ein zweites Mal wird es tödlich sein.
Das sollten die Lehren aus dem 8. Mai 1945 sein: Außenpolitik als Machtpolitik führt immer zum Krieg. Waffen und Krieg führen zu Sieg oder Niederlage, aber niemals zum Frieden. Nur Verhandlungen und Diplomatie können Frieden schaffen. Das gilt auch für die Ukraine.