Anlässlich des zehnten Jahrestages der Aufstände in Syrien veröffentlichte eine Reihe von deutschen Organisationen, die sich vorwiegend mit Flüchtlingsfragen und dem Konflikt in Syrien beschäftigen – darunter der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein – im März 2021 einen Aufruf, in dem sie gegen die Absicht der Bundesregierung protestieren, Flüchtlinge aus Syrien wieder in ihre Heimat abzuschieben (https://www.frsh.de/aktuell/presseerklaerungen).
Die Unterzeichnenden wiesen auf die unzumutbaren Zustände in Syrien hin, machten dafür aber ausschließlich Präsident Assad und sein Regime in Damaskus verantwortlich. Kein Wort zu den zahlreichen fremden Akteuren und den Folgen ihres Kriegseinsatzes in der Region. Dies ist die gängige Erzählung vom State Department über das Auswärtige Amt bis zu FAZ, Welt und den Blättern für deutsche und internationale Politik. Wer wollte dem widersprechen?
Ich muss es. Denn so berechtigt der Protest gegen die Abschiebungen ist, darf dies nicht mit offensichtlichen Geschichtsklitterungen und der Bereitschaft, sich in die Propaganda internationaler Interessenpolitik einbinden zu lassen, einhergehen.
Es begann im März 2011 mit politischen Protesten in der südlichen Stadt Daraa, bei denen es um Reformen und ökonomische Teilhabe ging. Daraus wurde alsbald ein bewaffneter Aufstand, dem die Regierung mit militärischen Mitteln begegnete. Dass dies bei aller Gewalt kein Bürgerkrieg war, sondern sich schnell zu einem Stellvertreterkrieg der großen Mächte ausweiten sollte, macht ein Bericht des US-Militärgeheimdienstes DIA an die US-Regierung vom August 2012 deutlich. In ihm heißt es: »Salafisten, die Muslimbruderschaft und AQI (Al-Qaida im Irak) sind die wichtigsten Kräfte, die den Aufstand in Syrien vorantreiben. (…) Der Westen, die Golfstaaten und die Türkei unterstützen die Opposition; während Russland, China und Iran das Regime unterstützen. (…) AQI hat die syrische Opposition von Beginn an ideologisch und durch die Medien unterstützt.« Man war sogar bereit, ein salafistisches Fürstentum in Ost-Syrien (Hasaka und Deir Zor) zu dulden, »um das syrische Regime zu isolieren«, welches den strategischen Kern der schiitischen Expansion (Irak und Iran) bilde (vgl. rtl.com v. 15. März 2021 mit weiteren Nachweisen).
Der Konflikt begann allerdings nicht erst im Jahr 2011, sondern schon viele Jahre zuvor. Robert F. Kennedy Jr. sah schon in den Plänen Katars im Jahr 2000, eine 1.500 km lange Pipeline durch Saudi-Arabien, Jordanien, Syrien und die Türkei zu bauen, die ersten Anzeichen des Krieges gegen Bashar-al-Assad. Katar wollte das Embargo gegen Teheran nutzen und die gigantischen Naturgasvorkommen des gemeinsamen South Pars/North Dome Gasfeldes allein vermarkten.
Auch Russland, welches 70 Prozent seiner Gasvorkommen nach Europa verkauft, sollte mit dem Pipeline-Zugang nach Europa aus dem Markt geworfen werden. Als Damaskus 2009 das Projekt ablehnte und stattdessen eine »islamische Pipeline« von Iran über Syrien nach Libanon vorschlug, war klar, dass hier eine Achse Russland, Iran, Syrien gegen das sunnitische Katar, die USA und Saudi-Arabien aufgebaut werden sollte. Unmittelbar nach der Absage Bashar-al-Assads begann die CIA mit der Finanzierung von oppositionellen Gruppen in Syrien.
Die USA kamen im September 2014 mit ihren Truppen nach Syrien und bauten ihre Stellungen im Osten des Landes nahe der irakischen Grenze bis heute weiter aus. Frankreich folgte ihnen 2016 nach dem Attentat von Paris. Beide Staaten operieren militärisch offiziell gegen den Islamischen Staat – ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrats und ohne Zustimmung der Regierung in Damaskus, also völkerrechtswidrig. Ihr strategisches Ziel ist jedoch nach wie vor die Vertreibung Assads und seine Ersetzung durch einen ihnen genehmen Statthalter, wie sie es in Afghanistan, Irak und Libyen praktiziert haben.
Aber nicht nur die USA und Frankreich behandeln Syrien wie ein rechtloses Niemandsland. Auch Deutschland mit seinen Aufklärungsflügen über syrischem Territorium, der Türkei mit der Besetzung des Kantons Afrin und des Grenzstreifens östlich von Kobani und Israel mit seinen wöchentlichen Angriffen durch Raketen und Kampfjets sind das Völkerrecht in diesem Krieg offensichtlich völlig gleichgültig. Was die Nato-Staaten nur ungern eingestehen: Russland und Iran haben als einzige Staaten durch die Anforderung aus Damaskus ein völkerrechtliches Mandat für ihre Operationen in Syrien.
Nach allen Berichten von den verschiedenen Fronten kann der Vorwurf der Kriegsverbrechen nicht nur Assads Truppen, sondern muss allen Beteiligten in diesem Krieg gemacht werden. Ein Vorwurf ist jedoch besonders gravierend und haftet von Beginn an Assad und seinen Truppen an: der Einsatz chemischer Kampfmittel, die Verletzung eines auch völkerrechtlich absoluten Tabus.
Bis heute gibt es in westlichen Kreisen der Politik und Medien keinen Zweifel daran, dass der Einsatz des Giftgases am 21. August 2013 in Ghouta von der syrischen Armee auf Befehl von Assad erfolgte. Präsident Obama hatte für die Überzeugung am 10. September 2013 in einer Rede im Fernsehen den Auftakt gegeben: »Assads Regierung hat über 1000 Menschen mit Gas getötet. (…) Wir wissen, dass das Assad Regime verantwortlich war.« Stabschef Denis McDonough assistierte in der New York Times: »Niemand, mit dem ich gesprochen habe, zweifelt an den Geheimdienstangaben, die das Assad-Regime mit den Sarin-Angriffen in Verbindung bringen.«
Doch diese Aussagen waren falsch, wie der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh schon am 8. Dezember 2013 in einem langen Artikel im London Review of Books unter dem Titel »Wessen Sarin?« nachweisen konnte. Hersh verfügte über hervorragende Verbindungen zu den Geheimdiensten. Alle seine Quellen bekundeten, dass es keine Erkenntnisse und Berichte über den Einsatz von Nervengas gab. Sie waren vielmehr entsetzt, als sie hörten, wie Washington ihre hochgeheimen Morgenberichte frisierte (vgl. »Sarin in Syrien 1«, Ossietzky 01-2016).
Schon Ende Mai hatte ein Geheimdienstmitarbeiter Hersh erzählt, dass die CIA die Obama-Administration über die islamistische al-Nusra-Front und ihre Arbeit mit Sarin unterrichtet und alarmierende Nachrichten über Al Qaida in Irak (AQI) geliefert habe, die sich ebenfalls auf die Produktion von Sarin verstehe. Im Militär war sogar die Sorge verbreitet, dass die Rebellen US-amerikanische Truppen, sollten sie nach Syrien gesandt werden, mit Sarin angreifen könnten.
Doch die US-Administration blieb bei ihrer Version. Sie reagierte auch nicht auf den Bericht der türkischen Zeitung Today’s Zaman am 25. Oktober 2013 von der Pressekonferenz zweier Abgeordneter der »Republikanischen Volkspartei« (CHP), die Dokumente und Audio-Kassetten vorgelegt hatten, in denen Details beschrieben werden, wie Sarin in der Türkei produziert und an die Terroristen weitergegeben wurde (vgl. »Sarin in Syrien 2« Ossietzky 02-2016).
Und so ruft auch der im März 2019 veröffentlichte Abschlussbericht der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OVCW) über einen angeblichen Giftgasangriff der syrischen Truppen am 7. April 2018 in Duma erhebliche Zweifel hervor. Am 12. März 2021 haben ehemalige Diplomaten, hohe Militärs und Journalisten mit einer »Erklärung der Besorgnis« die Glaubwürdigkeit und Integrität der OVCW infrage gestellt. Sie habe einen manipulierten Bericht vorgelegt und sich für die Interessen des Westens einspannen lassen.
Einer der Unterzeichner, Hans von Sponeck, ehemaliger UN-Koordinator für das Programm »Öl für Nahrungsmittel« im Irak, erklärte, dass es zahlreiche Dokumente, wissenschaftliche Gutachten und Aussagen von OVCW-Mitarbeitern gäbe, »die bezeugen, dass das OVCW-Management in Absprache mit verschiedenen Regierungen ein falsches Bild über das Geschehen in Duma aufgebaut« habe. Es sei »kein Geheimnis geblieben, dass amerikanische Diplomaten in der OVCW vorstellig wurden, um sicherzustellen, dass der Bericht Hinweise auf den Einsatz von chemischen Waffen in Duma enthalten würde« (vgl. Rubikon v. 24. März 2021).
Wer heute noch Assad allein für den Einsatz chemischer Kampfmittel verantwortlich macht, ohne darauf hinzuweisen, dass diese Vorwürfe zumindest strittig sind, beteiligt sich an der Propaganda und lässt Zweifel an seiner Seriosität aufkommen.
Der oben genannte Aufruf lässt zudem die wirtschaftlichen Sanktionen der EU und der USA unerwähnt, die alle Bemühungen, das Leben der Menschen in den vom Krieg zerstörten Städten zu erleichtern und die Rückkehr der Flüchtlinge zu ermöglichen, vereitelt. Die UN-Sonderberichterstatterin Alena Douhan hat in der Schweizer Zeitung Zeit-Fragen kürzlich die negativen Auswirkungen der Sanktionen auf das Leben der Bevölkerung in Syrien beklagt. Syrien werde gehindert, Medikamente, medizinische Geräte, Testmaterial zu erhalten, um die Covid19-Pandemie einzudämmen. Sanktionen gegen Einzelpersonen und Unternehmen behinderten den Wiederaufbau in Syrien, lebensnotwendige Infrastruktur in der Öl- und Gasförderung könne nicht gebaut werden. Das wiederum verzögere den Wiederaufbau von Wohnungen und Krankenhäusern, weil Stromnetze, Wasser- und Gasversorgung nicht gewährleistet seien.
Schon im Oktober 2019 hatte die Leiterin der Abteilung Mittlerer Osten im Pentagon, Dana Stroul, als eines der strategischen Ziele neben der Isolierung des Assad-Regimes die Verhinderung jeglicher Wiederaufbauhilfe für Syrien bezeichnet. Die Bundesregierung hat sich dem angeschlossen und die Organisationen des Aufrufs nun leider auch.
So richtig es ist, angesichts der Zerstörungen, des verbreiteten Elends und des andauernden Krieges keine Zwangsabschiebungen nach Syrien zu fordern, so kann man diesen Aufruf ehrlichen Gewissens dennoch nicht unterstützen. Er verleugnet die Geschichte und halbiert die Humanität.