Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Das Syrienkrieg-Narrativ

Anläss­lich des zehn­ten Jah­res­ta­ges der Auf­stän­de in Syri­en ver­öf­fent­lich­te eine Rei­he von deut­schen Orga­ni­sa­tio­nen, die sich vor­wie­gend mit Flücht­lings­fra­gen und dem Kon­flikt in Syri­en beschäf­ti­gen – dar­un­ter der Flücht­lings­rat Schles­wig-Hol­stein – im März 2021 einen Auf­ruf, in dem sie gegen die Absicht der Bun­des­re­gie­rung pro­te­stie­ren, Flücht­lin­ge aus Syri­en wie­der in ihre Hei­mat abzu­schie­ben (https://www.frsh.de/aktuell/presseerklaerungen).

Die Unter­zeich­nen­den wie­sen auf die unzu­mut­ba­ren Zustän­de in Syri­en hin, mach­ten dafür aber aus­schließ­lich Prä­si­dent Assad und sein Regime in Damas­kus ver­ant­wort­lich. Kein Wort zu den zahl­rei­chen frem­den Akteu­ren und den Fol­gen ihres Kriegs­ein­sat­zes in der Regi­on. Dies ist die gän­gi­ge Erzäh­lung vom Sta­te Depart­ment über das Aus­wär­ti­ge Amt bis zu FAZ, Welt und den Blät­tern für deut­sche und inter­na­tio­na­le Poli­tik. Wer woll­te dem widersprechen?

Ich muss es. Denn so berech­tigt der Pro­test gegen die Abschie­bun­gen ist, darf dies nicht mit offen­sicht­li­chen Geschichts­klit­te­run­gen und der Bereit­schaft, sich in die Pro­pa­gan­da inter­na­tio­na­ler Inter­es­sen­po­li­tik ein­bin­den zu las­sen, einhergehen.

Es begann im März 2011 mit poli­ti­schen Pro­te­sten in der süd­li­chen Stadt Daraa, bei denen es um Refor­men und öko­no­mi­sche Teil­ha­be ging. Dar­aus wur­de als­bald ein bewaff­ne­ter Auf­stand, dem die Regie­rung mit mili­tä­ri­schen Mit­teln begeg­ne­te. Dass dies bei aller Gewalt kein Bür­ger­krieg war, son­dern sich schnell zu einem Stell­ver­tre­ter­krieg der gro­ßen Mäch­te aus­wei­ten soll­te, macht ein Bericht des US-Mili­tär­ge­heim­dien­stes DIA an die US-Regie­rung vom August 2012 deut­lich. In ihm heißt es: »Sala­fi­sten, die Mus­lim­bru­der­schaft und AQI (Al-Qai­da im Irak) sind die wich­tig­sten Kräf­te, die den Auf­stand in Syri­en vor­an­trei­ben. (…) Der Westen, die Golf­staa­ten und die Tür­kei unter­stüt­zen die Oppo­si­ti­on; wäh­rend Russ­land, Chi­na und Iran das Regime unter­stüt­zen. (…) AQI hat die syri­sche Oppo­si­ti­on von Beginn an ideo­lo­gisch und durch die Medi­en unter­stützt.« Man war sogar bereit, ein sala­fi­sti­sches Für­sten­tum in Ost-Syri­en (Hasa­ka und Deir Zor) zu dul­den, »um das syri­sche Regime zu iso­lie­ren«, wel­ches den stra­te­gi­schen Kern der schii­ti­schen Expan­si­on (Irak und Iran) bil­de (vgl. rtl.com v. 15. März 2021 mit wei­te­ren Nachweisen).

Der Kon­flikt begann aller­dings nicht erst im Jahr 2011, son­dern schon vie­le Jah­re zuvor. Robert F. Ken­ne­dy Jr. sah schon in den Plä­nen Katars im Jahr 2000, eine 1.500 km lan­ge Pipe­line durch Sau­di-Ara­bi­en, Jor­da­ni­en, Syri­en und die Tür­kei zu bau­en, die ersten Anzei­chen des Krie­ges gegen Bas­har-al-Assad. Katar woll­te das Embar­go gegen Tehe­ran nut­zen und die gigan­ti­schen Natur­gas­vor­kom­men des gemein­sa­men South Pars/​North Dome Gas­fel­des allein vermarkten.

Auch Russ­land, wel­ches 70 Pro­zent sei­ner Gas­vor­kom­men nach Euro­pa ver­kauft, soll­te mit dem Pipe­line-Zugang nach Euro­pa aus dem Markt gewor­fen wer­den. Als Damas­kus 2009 das Pro­jekt ablehn­te und statt­des­sen eine »isla­mi­sche Pipe­line« von Iran über Syri­en nach Liba­non vor­schlug, war klar, dass hier eine Ach­se Russ­land, Iran, Syri­en gegen das sun­ni­ti­sche Katar, die USA und Sau­di-Ara­bi­en auf­ge­baut wer­den soll­te. Unmit­tel­bar nach der Absa­ge Bas­har-al-Assads begann die CIA mit der Finan­zie­rung von oppo­si­tio­nel­len Grup­pen in Syrien.

Die USA kamen im Sep­tem­ber 2014 mit ihren Trup­pen nach Syri­en und bau­ten ihre Stel­lun­gen im Osten des Lan­des nahe der ira­ki­schen Gren­ze bis heu­te wei­ter aus. Frank­reich folg­te ihnen 2016 nach dem Atten­tat von Paris. Bei­de Staa­ten ope­rie­ren mili­tä­risch offi­zi­ell gegen den Isla­mi­schen Staat – ohne Man­dat des UNO-Sicher­heits­rats und ohne Zustim­mung der Regie­rung in Damas­kus, also völ­ker­rechts­wid­rig. Ihr stra­te­gi­sches Ziel ist jedoch nach wie vor die Ver­trei­bung Assads und sei­ne Erset­zung durch einen ihnen geneh­men Statt­hal­ter, wie sie es in Afgha­ni­stan, Irak und Liby­en prak­ti­ziert haben.

Aber nicht nur die USA und Frank­reich behan­deln Syri­en wie ein recht­lo­ses Nie­mands­land. Auch Deutsch­land mit sei­nen Auf­klä­rungs­flü­gen über syri­schem Ter­ri­to­ri­um, der Tür­kei mit der Beset­zung des Kan­tons Afrin und des Grenz­strei­fens öst­lich von Koba­ni und Isra­el mit sei­nen wöchent­li­chen Angrif­fen durch Rake­ten und Kampf­jets sind das Völ­ker­recht in die­sem Krieg offen­sicht­lich völ­lig gleich­gül­tig. Was die Nato-Staa­ten nur ungern ein­ge­ste­hen: Russ­land und Iran haben als ein­zi­ge Staa­ten durch die Anfor­de­rung aus Damas­kus ein völ­ker­recht­li­ches Man­dat für ihre Ope­ra­tio­nen in Syrien.

Nach allen Berich­ten von den ver­schie­de­nen Fron­ten kann der Vor­wurf der Kriegs­ver­bre­chen nicht nur Assads Trup­pen, son­dern muss allen Betei­lig­ten in die­sem Krieg gemacht wer­den. Ein Vor­wurf ist jedoch beson­ders gra­vie­rend und haf­tet von Beginn an Assad und sei­nen Trup­pen an: der Ein­satz che­mi­scher Kampf­mit­tel, die Ver­let­zung eines auch völ­ker­recht­lich abso­lu­ten Tabus.

Bis heu­te gibt es in west­li­chen Krei­sen der Poli­tik und Medi­en kei­nen Zwei­fel dar­an, dass der Ein­satz des Gift­ga­ses am 21. August 2013 in Ghou­ta von der syri­schen Armee auf Befehl von Assad erfolg­te. Prä­si­dent Oba­ma hat­te für die Über­zeu­gung am 10. Sep­tem­ber 2013 in einer Rede im Fern­se­hen den Auf­takt gege­ben: »Assads Regie­rung hat über 1000 Men­schen mit Gas getö­tet. (…) Wir wis­sen, dass das Assad Regime ver­ant­wort­lich war.« Stabs­chef Denis McDo­no­ugh assi­stier­te in der New York Times: »Nie­mand, mit dem ich gespro­chen habe, zwei­felt an den Geheim­dien­st­an­ga­ben, die das Assad-Regime mit den Sarin-Angrif­fen in Ver­bin­dung bringen.«

Doch die­se Aus­sa­gen waren falsch, wie der US-ame­ri­ka­ni­sche Jour­na­list Sey­mour Hersh schon am 8. Dezem­ber 2013 in einem lan­gen Arti­kel im Lon­don Review of Books unter dem Titel »Wes­sen Sarin?« nach­wei­sen konn­te. Hersh ver­füg­te über her­vor­ra­gen­de Ver­bin­dun­gen zu den Geheim­dien­sten. Alle sei­ne Quel­len bekun­de­ten, dass es kei­ne Erkennt­nis­se und Berich­te über den Ein­satz von Ner­ven­gas gab. Sie waren viel­mehr ent­setzt, als sie hör­ten, wie Washing­ton ihre hoch­ge­hei­men Mor­gen­be­rich­te fri­sier­te (vgl. »Sarin in Syri­en 1«, Ossietzky 01-2016).

Schon Ende Mai hat­te ein Geheim­dienst­mit­ar­bei­ter Hersh erzählt, dass die CIA die Oba­ma-Admi­ni­stra­ti­on über die isla­mi­sti­sche al-Nus­ra-Front und ihre Arbeit mit Sarin unter­rich­tet und alar­mie­ren­de Nach­rich­ten über Al Qai­da in Irak (AQI) gelie­fert habe, die sich eben­falls auf die Pro­duk­ti­on von Sarin ver­ste­he. Im Mili­tär war sogar die Sor­ge ver­brei­tet, dass die Rebel­len US-ame­ri­ka­ni­sche Trup­pen, soll­ten sie nach Syri­en gesandt wer­den, mit Sarin angrei­fen könnten.

Doch die US-Admi­ni­stra­ti­on blieb bei ihrer Ver­si­on. Sie reagier­te auch nicht auf den Bericht der tür­ki­schen Zei­tung Today’s Zaman am 25. Okto­ber 2013 von der Pres­se­kon­fe­renz zwei­er Abge­ord­ne­ter der »Repu­bli­ka­ni­schen Volks­par­tei« (CHP), die Doku­men­te und Audio-Kas­set­ten vor­ge­legt hat­ten, in denen Details beschrie­ben wer­den, wie Sarin in der Tür­kei pro­du­ziert und an die Ter­ro­ri­sten wei­ter­ge­ge­ben wur­de (vgl. »Sarin in Syri­en 2« Ossietzky 02-2016).

Und so ruft auch der im März 2019 ver­öf­fent­lich­te Abschluss­be­richt der Orga­ni­sa­ti­on für das Ver­bot Che­mi­scher Waf­fen (OVCW) über einen angeb­li­chen Gift­gas­an­griff der syri­schen Trup­pen am 7. April 2018 in Duma erheb­li­che Zwei­fel her­vor. Am 12. März 2021 haben ehe­ma­li­ge Diplo­ma­ten, hohe Mili­tärs und Jour­na­li­sten mit einer »Erklä­rung der Besorg­nis« die Glaub­wür­dig­keit und Inte­gri­tät der OVCW infra­ge gestellt. Sie habe einen mani­pu­lier­ten Bericht vor­ge­legt und sich für die Inter­es­sen des Westens ein­span­nen lassen.

Einer der Unter­zeich­ner, Hans von Spon­eck, ehe­ma­li­ger UN-Koor­di­na­tor für das Pro­gramm »Öl für Nah­rungs­mit­tel« im Irak, erklär­te, dass es zahl­rei­che Doku­men­te, wis­sen­schaft­li­che Gut­ach­ten und Aus­sa­gen von OVCW-Mit­ar­bei­tern gäbe, »die bezeu­gen, dass das OVCW-Manage­ment in Abspra­che mit ver­schie­de­nen Regie­run­gen ein fal­sches Bild über das Gesche­hen in Duma auf­ge­baut« habe. Es sei »kein Geheim­nis geblie­ben, dass ame­ri­ka­ni­sche Diplo­ma­ten in der OVCW vor­stel­lig wur­den, um sicher­zu­stel­len, dass der Bericht Hin­wei­se auf den Ein­satz von che­mi­schen Waf­fen in Duma ent­hal­ten wür­de« (vgl. Rubi­kon v. 24. März 2021).

Wer heu­te noch Assad allein für den Ein­satz che­mi­scher Kampf­mit­tel ver­ant­wort­lich macht, ohne dar­auf hin­zu­wei­sen, dass die­se Vor­wür­fe zumin­dest strit­tig sind, betei­ligt sich an der Pro­pa­gan­da und lässt Zwei­fel an sei­ner Serio­si­tät aufkommen.

Der oben genann­te Auf­ruf lässt zudem die wirt­schaft­li­chen Sank­tio­nen der EU und der USA uner­wähnt, die alle Bemü­hun­gen, das Leben der Men­schen in den vom Krieg zer­stör­ten Städ­ten zu erleich­tern und die Rück­kehr der Flücht­lin­ge zu ermög­li­chen, ver­ei­telt. Die UN-Son­der­be­richt­erstat­te­rin Ale­na Dou­han hat in der Schwei­zer Zei­tung Zeit-Fra­gen kürz­lich die nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen der Sank­tio­nen auf das Leben der Bevöl­ke­rung in Syri­en beklagt. Syri­en wer­de gehin­dert, Medi­ka­men­te, medi­zi­ni­sche Gerä­te, Test­ma­te­ri­al zu erhal­ten, um die Covi­d19-Pan­de­mie ein­zu­däm­men. Sank­tio­nen gegen Ein­zel­per­so­nen und Unter­neh­men behin­der­ten den Wie­der­auf­bau in Syri­en, lebens­not­wen­di­ge Infra­struk­tur in der Öl- und Gas­för­de­rung kön­ne nicht gebaut wer­den. Das wie­der­um ver­zö­ge­re den Wie­der­auf­bau von Woh­nun­gen und Kran­ken­häu­sern, weil Strom­net­ze, Was­ser- und Gas­ver­sor­gung nicht gewähr­lei­stet seien.

Schon im Okto­ber 2019 hat­te die Lei­te­rin der Abtei­lung Mitt­le­rer Osten im Pen­ta­gon, Dana Stroul, als eines der stra­te­gi­schen Zie­le neben der Iso­lie­rung des Assad-Regimes die Ver­hin­de­rung jeg­li­cher Wie­der­auf­bau­hil­fe für Syri­en bezeich­net. Die Bun­des­re­gie­rung hat sich dem ange­schlos­sen und die Orga­ni­sa­tio­nen des Auf­rufs nun lei­der auch.

So rich­tig es ist, ange­sichts der Zer­stö­run­gen, des ver­brei­te­ten Elends und des andau­ern­den Krie­ges kei­ne Zwangs­ab­schie­bun­gen nach Syri­en zu for­dern, so kann man die­sen Auf­ruf ehr­li­chen Gewis­sens den­noch nicht unter­stüt­zen. Er ver­leug­net die Geschich­te und hal­biert die Humanität.