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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das Sowjetsystem und seine Lehren

Die Deu­tungs­ho­heit über die Geschich­te des Sowjet­sy­stems sowie die Ursa­chen und Fol­gen sei­nes Unter­gangs darf nicht län­ger dem bür­ger­li­chen Lager über­las­sen blei­ben. Unter der Dik­ta­tur der Pro­fit­ma­xi­mie­rung berei­chern sich erneut extrem wohl­ha­ben­de Min­der­hei­ten auf Kosten welt­wei­ter Bevöl­ke­rungs­mehr­hei­ten. Die­ses Gesell­schafts­sy­stem droht erneut in Faschis­mus abzu­glei­ten, sogar ein 3. Welt­krieg ist mög­lich, sowie die Höl­len­fahrt einer öko­lo­gi­schen und damit sozia­len Mensch­heits­ka­ta­stro­phe. Es exi­stiert eine über­heb­li­che, weit­ver­brei­te­te Wahn­vor­stel­lung, dass der Unter­gang der Sowjet­uni­on Beweis dafür sei, dass nur Gesell­schaf­ten des Westens in der Lage wären, men­schen­wür­di­ge Zukunft zu gestal­ten. Rich­tig ist, dass die­se Zukunft heu­te mehr denn je auf dem Spiel steht, aber alter­na­ti­ve gesell­schaft­li­che Lösun­gen lei­der bis­her nur vage erkenn­bar sind.

Die post-mar­xi­sti­schen Lin­ken aller Frak­tio­nen sind aller­dings nach 1990 immer noch in einem erbärm­li­chen men­ta­len und per­so­nel­len Schock­zu­stand der Zer­split­te­rung und pro­gram­ma­ti­scher Ori­en­tie­rungs­schwä­che. Die­se Situa­ti­on macht ohn­mäch­tig, star­ke Mas­sen­be­we­gun­gen gegen die über­mäch­ti­ge, restau­ra­ti­ve Innen- und Außen­po­li­tik des gren­zen­lo­sen Kapi­ta­lis­mus und gegen die Dik­ta­tur sei­ner kri­sen­haf­ten Anar­chie zu mobi­li­sie­ren, um eine poli­ti­sche Umkehr zu einer frie­dens­stif­ten­den, sozi­al-öko­lo­gi­schen und demo­kra­ti­schen Zurück­drän­gung welt­wei­ter mul­ti­pler gesell­schaft­li­cher Spal­tung durchzusetzen.

Des­halb gilt es, um ein neu­es Geschichts- und Gesell­schafts­ver­ständ­nis nach 1990 zu rin­gen, das alter­na­tiv zum bür­ger­li­chen Main­stream die eman­zi­pa­to­ri­sche Ent­ste­hung sowie die Haupt­ur­sa­chen des Unter­gangs des Sowjet­sy­stems tie­fer als bis­her zu ana­ly­sie­ren, um dar­aus neue pro­gram­ma­ti­sche und prak­tisch-poli­ti­sche Schluss­fol­ge­run­gen zu zie­hen. Ohne die­se neu­ar­ti­ge Ana­ly­se wird das bür­ger­li­che Lager, mit der Hybris sei­ner anti­kom­mu­ni­sti­schen Tota­li­ta­ris­mus-Ideo­lo­gie, die Mehr­heit der Men­schen wei­ter für sei­ne Macht- und Gewinn­in­ter­es­sen instru­men­ta­li­sie­ren. Den lin­ken Sozi­al­be­we­gun­gen fehlt dage­gen ein neu­es geschicht­lich-theo­re­ti­sches Fun­da­ment, ein über­zeu­gen­des Nar­ra­tiv, um wirk­sa­me Leh­ren aus ihrem wider­sprüch­li­chen Geschichts­er­be abzu­lei­ten und an vie­le Men­schen mobi­li­sie­rend wei­ter zu vermitteln.

Ohne die geschicht­li­chen Umstän­de für die Ent­ste­hung der sozia­li­sti­schen Län­der seit 1917 in Russ­land und nach 1945 in Ost­eu­ro­pa, Chi­na und dann in Län­dern der soge­nann­ten 3. Welt zu wür­di­gen, kann das eman­zi­pa­to­ri­sche Erbe die­ser Revo­lu­tio­nen, aber auch ihr par­ti­el­les Schei­tern nicht auf neue Wei­se ver­stan­den werden.

Die­se Län­der ent­stan­den zunächst aus natio­na­len Befrei­ungs­re­vo­lu­tio­nen, aus einer anti-impe­ria­li­sti­schen, anti­fa­schi­sti­schen und anti­ko­lo­nia­len Gegen­be­we­gung gegen die krie­ge­ri­schen Inva­sio­nen west­li­cher Indu­strie­staa­ten, ins­be­son­de­re des kai­ser­li­chen Deutsch­lands im 1. Welt­krie­ges gegen Russ­land und des kai­ser­li­chen Japans im 2. Welt­krieg gegen Chi­na. Dadurch wur­den, als Gegen­be­we­gung zur Inva­si­on des deut­schen und japa­ni­schen Faschis­mus in Ost­eu­ro­pa, in Chi­na und schließ­lich auch in Ost­deutsch­land, mehr oder weni­ger nach sowje­ti­schem Vor­bild, sozia­li­sti­sche Ent­wick­lungs­we­ge dik­ta­to­risch ein­ge­führt und ermög­licht. Auch die dar­auf­fol­gen­den anti­ko­lo­nia­len Befrei­ungs­be­we­gun­gen auf allen Kon­ti­nen­ten wur­den dadurch modell­haft inspi­riert. In vie­len Län­dern gelang es, sich aus viel­fa­cher Unter­drückung müh­sam zu befrei­en: 1. aus wirt­schaft­li­cher Rück­stän­dig­keit; 2. aus unsäg­li­chen, kriegs­be­ding­ten Zer­stö­run­gen; 3. aus Aus­beu­tung feu­da­ler und bür­ger­li­cher Olig­ar­chien; 4. aus men­schen­ver­ach­ten­den Zwän­gen durch die impe­ria­len Kolo­ni­al­mäch­te; 5. aus mit­tel­al­ter­li­cher Bil­dungs- und Kul­tur­lo­sig­keit der Bevöl­ke­rung. Es erfolg­te oft­mals eine nie dage­we­se­ne, nach­ho­len­de Indu­stria­li­sie­rung, eine gra­vie­ren­de Zurück­drän­gung von Klas­sen­spal­tung, von Arbeits­lo­sig­keit, Hun­ger, Obdach­lo­sig­keit, Bil­dungs- und Kul­tur­lo­sig­keit sowie der Auf­bau ele­men­ta­rer Gesund­heits­ver­sor­gung, eines Ren­ten­sy­stems, eine gewis­se Poli­ti­sie­rung der Bevöl­ke­rung. Dadurch wur­de eine zuvor nie dage­we­se­ne, rela­ti­ve sozia­le Sicher­heit erreicht, aber auch erstaun­li­che sozia­le Auf­stiegs­chan­cen für gro­ße Bevöl­ke­rungs­tei­le. Russ­land und Chi­na ent­wickel­ten sich in kur­zer Zeit, trotz des mil­lio­nen­fa­chen Blut­zolls und der Zer­stö­run­gen durch die Welt­krie­ge, zu Welt­mäch­ten und ver­wirk­lich­ten einen alter­na­ti­ven Ent­wick­lungs­weg der aller­dings stark zen­tra­li­sier­ten, staat­lich gesteu­er­ten Plan­wirt­schaf­ten – im Gegen­satz zur kri­sen­an­fäl­li­gen, unge­rech­ten, kapi­ta­li­sti­schen Pri­vat- und Kon­kur­renz­wirt­schaft. Des­halb ist der Begriff der sozia­li­sti­schen Gesell­schaft durch­aus berech­tigt, und die­ses eman­zi­pa­to­ri­sche Erbe bleibt, im Kern, wert­voll für eine kri­tisch trans­for­mier­te Zukunfts­ge­stal­tung. Die­se eman­zi­pa­to­ri­schen Lebens- und Gesell­schafts­lei­stun­gen wer­den vom bür­ger­li­chen Main­stream natür­lich vehe­ment dele­gi­ti­miert, dämo­ni­siert und bestritten.

Aller­dings wie­sen die neu­en Gesell­schaf­ten bekannt­lich zugleich gra­vie­ren­de Schwä­chen und Schat­ten­sei­ten auf, die nicht nur das Sowjet­sy­stem auch von innen her schließ­lich zum Unter­gang ver­ur­teil­ten. Haupt­grün­de für das Schei­tern des Sowjet­sy­stems waren: 1. Die Ver­staat­li­chung der Betrie­be; die Über­win­dung eines Groß­teils des Pri­vat­ei­gen­tums führ­te nicht wirk­lich zu einer juri­sti­schen Teil­ha­be und demo­kra­ti­schen Mit­be­stim­mung der Beschäf­tig­ten am pro­du­zier­ten gesell­schaft­li­chen Reich­tum, son­dern lähm­te auf Dau­er eher deren öko­no­mi­sche Moti­va­ti­on sowie die Arbeits­pro­duk­ti­vi­tät. Die zen­tra­li­sier­ten Staats- und Par­tei­o­lig­ar­chien bil­de­ten zudem eine neue pri­vi­le­gier­te Klas­sen­herr­schaft, die dik­ta­to­risch über Ver­wer­tung und Ver­tei­lung der Gewin­ne obrig­keits­staat­lich ent­schied. Chi­nas Auf­stieg nach 1989 ver­dankt sich hin­ge­gen wesent­lich einer stär­ke­ren Streu­ung von staat­li­chem und pri­va­tem Eigen­tum. 2. Das Pri­mat der Par­tei- und Staats­füh­rung ermög­lich­te zwar die zen­tra­le Steue­rung der oben genann­ten wirt­schaft­li­chen und sozia­len Fort­schrit­te, ver­hin­der­te aber zugleich die poli­ti­sche Demo­kra­ti­sie­rung der Gesell­schaft, weil die eman­zi­pa­to­ri­schen Errun­gen­schaf­ten der Gewal­ten­tei­lung in unter­schied­li­che Par­tei­en und Orga­ni­sa­tio­nen, als Inter­es­sen­ver­tre­ter fort­be­stehen­der Klas­sen und Schich­ten, sowie die auto­no­me Macht­ver­tei­lung zwi­schen Legis­la­ti­ve, Exe­ku­ti­ve, Judi­ka­ti­ve, Bil­dung, Medi­en, Kul­tur usw. so nicht mög­lich war. Alle dies­be­züg­li­chen Reform­ver­su­che schei­ter­ten, auch weil es dafür kei­ne leben­di­ge Zivil­ge­sell­schaft gege­ben hat oder die­se selbst­zer­stö­re­risch, gip­felnd im Sta­li­nis­mus, sogar gezielt zer­stört wur­de. Das beruh­te aller­dings auch auf den rück­stän­di­gen Start­be­din­gun­gen und an der Über­macht impe­ria­ler Bedrohungen.

Wich­ti­ge Leh­ren aus dem Unter­gang des Sowjet­sy­stems, das auch des­halb zu schwach und inkom­pe­tent war, sich gegen die wirt­schaft­li­che, mili­tä­ri­sche und poli­tisch-ideo­lo­gi­sche Über­macht des west­li­chen Kapi­ta­lis­mus durch inne­re Refor­men dau­er­haft zu behaup­ten, las­sen sich für gegen­wär­ti­ge und künf­ti­ge lin­ke Sozi­al­be­we­gun­gen wie folgt skizzieren:

  1. Not­wen­dig sind wei­ter­hin For­de­run­gen nach einer stär­ke­ren Ver­ge­sell­schaf­tung pri­va­ter Gewin­ne, des von allen erar­bei­te­ten gesell­schaft­li­chen Reich­tums, zugun­sten von pre­kär und abhän­gig-beschäf­tig­ten Lohn- und Gehalts­emp­fän­gern. Durch stär­ke­re pro­gres­si­ve steu­er­li­che Abschöp­fung gro­ßer Aktio­nä­re sind der Sozi­al­staat und not­wen­di­ge Infra­struk­tu­ren in allen Seg­men­ten wei­ter auszubauen.
  2. Öko­lo­gi­scher Umbau kann dabei gleich­zei­tig durch ein Pri­mat poli­ti­scher Umsteue­rung der Gesell­schaft nur dann gelin­gen, wenn Umwelt­be­wah­rung steu­er­lich belohnt und geför­dert, Gewin­ne aus Umwelt­zer­stö­rung aber dafür stär­ker steu­er­lich abge­schöpft werden.
  3. Zugleich sind Staats­haus­hal­te von extre­mer Über­schul­dung zu befrei­en, indem, neben pro­gres­si­ver Steu­er­ab­schöp­fung hoher Pri­vat­ge­win­ne, vor allem eine Kon­ver­si­on der Rüstungs­in­du­strie zu öko­lo­gisch sinn­vol­ler Wirt­schaft durch­ge­setzt wird. Dazu ist frie­dens­stif­ten­de Außen­po­li­tik zwin­gend erfor­der­lich, die nicht auf neo­ko­lo­nia­le Expan­si­on und Kon­fron­ta­ti­on setzt, son­dern auf gegen­sei­ti­gen Wan­del durch Annä­he­rung mit auf­stre­ben­den Ent­wick­lungs­län­dern des Ostens und Südens, im Kern den heu­ti­gen BRICS-Staa­ten. Dadurch kann zugleich destruk­ti­ve Wirt­schafts­mi­gra­ti­on, zum Vor­teil aller Sei­ten, ver­hin­dert werden.
  4. Lin­ke kön­nen sich aus sek­tie­re­ri­scher Frag­men­tie­rung, und unde­mo­kra­ti­schem Zen­tra­lis­mus nur dann befrei­en, wenn sie sta­bi­le Bezie­hun­gen zu Gewerk­schaf­ten, Sozi­al- und Umwelt­ver­bän­de auf­bau­en, mit Links­in­tel­lek­tu­el­len ihre Pro­gramm- und Öffent­lich­keits­ar­beit qua­li­fi­zie­ren und ein neu­es Geschichts- und Gesell­schafts­ver­ständ­nis über die Zeit vor und nach 1989 sowie eine eigen­stän­di­ge Medi­en­ar­beit gegen­über bür­ger­li­chen Leit­me­di­en ent­wickeln und schließ­lich ihre Basis­grup­pen vor Ort hilf­rei­che Bür­ger­treff­punk­te für bür­ger­na­he Sozi­al- und Kul­tur­ar­beit anbie­ten. Ins­ge­samt ist die Durch­set­zung eines demo­kra­ti­schen Pri­mats par­la­men­ta­ri­scher Poli­tik not­wen­dig, das nur durch ziel­ge­rich­te­te Bünd­nis­po­li­tik lin­ker Sozi­al­be­we­gun­gen sowie auf der Basis sanier­ter Staats­haus­hal­te erstrit­ten wer­den kann. Die demo­kra­ti­sche Zurück­drän­gung impe­ria­ler, faschi­sto­ider oder ter­ro­ri­sti­scher, Gewalt aus­lö­sen­der Klas­sen­spal­tung bleibt die Kern­auf­ga­be lin­ker Gesellschaftsveränderungen.