Die Deutungshoheit über die Geschichte des Sowjetsystems sowie die Ursachen und Folgen seines Untergangs darf nicht länger dem bürgerlichen Lager überlassen bleiben. Unter der Diktatur der Profitmaximierung bereichern sich erneut extrem wohlhabende Minderheiten auf Kosten weltweiter Bevölkerungsmehrheiten. Dieses Gesellschaftssystem droht erneut in Faschismus abzugleiten, sogar ein 3. Weltkrieg ist möglich, sowie die Höllenfahrt einer ökologischen und damit sozialen Menschheitskatastrophe. Es existiert eine überhebliche, weitverbreitete Wahnvorstellung, dass der Untergang der Sowjetunion Beweis dafür sei, dass nur Gesellschaften des Westens in der Lage wären, menschenwürdige Zukunft zu gestalten. Richtig ist, dass diese Zukunft heute mehr denn je auf dem Spiel steht, aber alternative gesellschaftliche Lösungen leider bisher nur vage erkennbar sind.
Die post-marxistischen Linken aller Fraktionen sind allerdings nach 1990 immer noch in einem erbärmlichen mentalen und personellen Schockzustand der Zersplitterung und programmatischer Orientierungsschwäche. Diese Situation macht ohnmächtig, starke Massenbewegungen gegen die übermächtige, restaurative Innen- und Außenpolitik des grenzenlosen Kapitalismus und gegen die Diktatur seiner krisenhaften Anarchie zu mobilisieren, um eine politische Umkehr zu einer friedensstiftenden, sozial-ökologischen und demokratischen Zurückdrängung weltweiter multipler gesellschaftlicher Spaltung durchzusetzen.
Deshalb gilt es, um ein neues Geschichts- und Gesellschaftsverständnis nach 1990 zu ringen, das alternativ zum bürgerlichen Mainstream die emanzipatorische Entstehung sowie die Hauptursachen des Untergangs des Sowjetsystems tiefer als bisher zu analysieren, um daraus neue programmatische und praktisch-politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Ohne diese neuartige Analyse wird das bürgerliche Lager, mit der Hybris seiner antikommunistischen Totalitarismus-Ideologie, die Mehrheit der Menschen weiter für seine Macht- und Gewinninteressen instrumentalisieren. Den linken Sozialbewegungen fehlt dagegen ein neues geschichtlich-theoretisches Fundament, ein überzeugendes Narrativ, um wirksame Lehren aus ihrem widersprüchlichen Geschichtserbe abzuleiten und an viele Menschen mobilisierend weiter zu vermitteln.
Ohne die geschichtlichen Umstände für die Entstehung der sozialistischen Länder seit 1917 in Russland und nach 1945 in Osteuropa, China und dann in Ländern der sogenannten 3. Welt zu würdigen, kann das emanzipatorische Erbe dieser Revolutionen, aber auch ihr partielles Scheitern nicht auf neue Weise verstanden werden.
Diese Länder entstanden zunächst aus nationalen Befreiungsrevolutionen, aus einer anti-imperialistischen, antifaschistischen und antikolonialen Gegenbewegung gegen die kriegerischen Invasionen westlicher Industriestaaten, insbesondere des kaiserlichen Deutschlands im 1. Weltkrieges gegen Russland und des kaiserlichen Japans im 2. Weltkrieg gegen China. Dadurch wurden, als Gegenbewegung zur Invasion des deutschen und japanischen Faschismus in Osteuropa, in China und schließlich auch in Ostdeutschland, mehr oder weniger nach sowjetischem Vorbild, sozialistische Entwicklungswege diktatorisch eingeführt und ermöglicht. Auch die darauffolgenden antikolonialen Befreiungsbewegungen auf allen Kontinenten wurden dadurch modellhaft inspiriert. In vielen Ländern gelang es, sich aus vielfacher Unterdrückung mühsam zu befreien: 1. aus wirtschaftlicher Rückständigkeit; 2. aus unsäglichen, kriegsbedingten Zerstörungen; 3. aus Ausbeutung feudaler und bürgerlicher Oligarchien; 4. aus menschenverachtenden Zwängen durch die imperialen Kolonialmächte; 5. aus mittelalterlicher Bildungs- und Kulturlosigkeit der Bevölkerung. Es erfolgte oftmals eine nie dagewesene, nachholende Industrialisierung, eine gravierende Zurückdrängung von Klassenspaltung, von Arbeitslosigkeit, Hunger, Obdachlosigkeit, Bildungs- und Kulturlosigkeit sowie der Aufbau elementarer Gesundheitsversorgung, eines Rentensystems, eine gewisse Politisierung der Bevölkerung. Dadurch wurde eine zuvor nie dagewesene, relative soziale Sicherheit erreicht, aber auch erstaunliche soziale Aufstiegschancen für große Bevölkerungsteile. Russland und China entwickelten sich in kurzer Zeit, trotz des millionenfachen Blutzolls und der Zerstörungen durch die Weltkriege, zu Weltmächten und verwirklichten einen alternativen Entwicklungsweg der allerdings stark zentralisierten, staatlich gesteuerten Planwirtschaften – im Gegensatz zur krisenanfälligen, ungerechten, kapitalistischen Privat- und Konkurrenzwirtschaft. Deshalb ist der Begriff der sozialistischen Gesellschaft durchaus berechtigt, und dieses emanzipatorische Erbe bleibt, im Kern, wertvoll für eine kritisch transformierte Zukunftsgestaltung. Diese emanzipatorischen Lebens- und Gesellschaftsleistungen werden vom bürgerlichen Mainstream natürlich vehement delegitimiert, dämonisiert und bestritten.
Allerdings wiesen die neuen Gesellschaften bekanntlich zugleich gravierende Schwächen und Schattenseiten auf, die nicht nur das Sowjetsystem auch von innen her schließlich zum Untergang verurteilten. Hauptgründe für das Scheitern des Sowjetsystems waren: 1. Die Verstaatlichung der Betriebe; die Überwindung eines Großteils des Privateigentums führte nicht wirklich zu einer juristischen Teilhabe und demokratischen Mitbestimmung der Beschäftigten am produzierten gesellschaftlichen Reichtum, sondern lähmte auf Dauer eher deren ökonomische Motivation sowie die Arbeitsproduktivität. Die zentralisierten Staats- und Parteioligarchien bildeten zudem eine neue privilegierte Klassenherrschaft, die diktatorisch über Verwertung und Verteilung der Gewinne obrigkeitsstaatlich entschied. Chinas Aufstieg nach 1989 verdankt sich hingegen wesentlich einer stärkeren Streuung von staatlichem und privatem Eigentum. 2. Das Primat der Partei- und Staatsführung ermöglichte zwar die zentrale Steuerung der oben genannten wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte, verhinderte aber zugleich die politische Demokratisierung der Gesellschaft, weil die emanzipatorischen Errungenschaften der Gewaltenteilung in unterschiedliche Parteien und Organisationen, als Interessenvertreter fortbestehender Klassen und Schichten, sowie die autonome Machtverteilung zwischen Legislative, Exekutive, Judikative, Bildung, Medien, Kultur usw. so nicht möglich war. Alle diesbezüglichen Reformversuche scheiterten, auch weil es dafür keine lebendige Zivilgesellschaft gegeben hat oder diese selbstzerstörerisch, gipfelnd im Stalinismus, sogar gezielt zerstört wurde. Das beruhte allerdings auch auf den rückständigen Startbedingungen und an der Übermacht imperialer Bedrohungen.
Wichtige Lehren aus dem Untergang des Sowjetsystems, das auch deshalb zu schwach und inkompetent war, sich gegen die wirtschaftliche, militärische und politisch-ideologische Übermacht des westlichen Kapitalismus durch innere Reformen dauerhaft zu behaupten, lassen sich für gegenwärtige und künftige linke Sozialbewegungen wie folgt skizzieren:
- Notwendig sind weiterhin Forderungen nach einer stärkeren Vergesellschaftung privater Gewinne, des von allen erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtums, zugunsten von prekär und abhängig-beschäftigten Lohn- und Gehaltsempfängern. Durch stärkere progressive steuerliche Abschöpfung großer Aktionäre sind der Sozialstaat und notwendige Infrastrukturen in allen Segmenten weiter auszubauen.
- Ökologischer Umbau kann dabei gleichzeitig durch ein Primat politischer Umsteuerung der Gesellschaft nur dann gelingen, wenn Umweltbewahrung steuerlich belohnt und gefördert, Gewinne aus Umweltzerstörung aber dafür stärker steuerlich abgeschöpft werden.
- Zugleich sind Staatshaushalte von extremer Überschuldung zu befreien, indem, neben progressiver Steuerabschöpfung hoher Privatgewinne, vor allem eine Konversion der Rüstungsindustrie zu ökologisch sinnvoller Wirtschaft durchgesetzt wird. Dazu ist friedensstiftende Außenpolitik zwingend erforderlich, die nicht auf neokoloniale Expansion und Konfrontation setzt, sondern auf gegenseitigen Wandel durch Annäherung mit aufstrebenden Entwicklungsländern des Ostens und Südens, im Kern den heutigen BRICS-Staaten. Dadurch kann zugleich destruktive Wirtschaftsmigration, zum Vorteil aller Seiten, verhindert werden.
- Linke können sich aus sektiererischer Fragmentierung, und undemokratischem Zentralismus nur dann befreien, wenn sie stabile Beziehungen zu Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbände aufbauen, mit Linksintellektuellen ihre Programm- und Öffentlichkeitsarbeit qualifizieren und ein neues Geschichts- und Gesellschaftsverständnis über die Zeit vor und nach 1989 sowie eine eigenständige Medienarbeit gegenüber bürgerlichen Leitmedien entwickeln und schließlich ihre Basisgruppen vor Ort hilfreiche Bürgertreffpunkte für bürgernahe Sozial- und Kulturarbeit anbieten. Insgesamt ist die Durchsetzung eines demokratischen Primats parlamentarischer Politik notwendig, das nur durch zielgerichtete Bündnispolitik linker Sozialbewegungen sowie auf der Basis sanierter Staatshaushalte erstritten werden kann. Die demokratische Zurückdrängung imperialer, faschistoider oder terroristischer, Gewalt auslösender Klassenspaltung bleibt die Kernaufgabe linker Gesellschaftsveränderungen.