Zahllos und nicht endend sind die Appelle, dass es dringend geboten sei, sich für die Demokratie einzusetzen, den Feinden der Demokratie, wie etwa Rechtspopulisten und Autokraten verschiedener Art, entgegenzutreten. Kaum jemand macht sich Gedanken, weshalb seit circa fünfzehn bis zwanzig Jahren plötzlich diese Bedrohung der Demokratie entsteht und woher ihre Feinde alle kommen. Stephan Lessenich untersucht in einer bemerkenswerten Studie (2019) die »Grenzen der Demokratie« und sieht im »Ringen um Beteiligung, Mitbestimmung, Berechtigung« die Ursache, dass auch in der Demokratie immer jemand oder bestimmte Gruppen aus dem Teilhabespiel und der Verteilung von materiellen und immateriellen Gütern ausgeschlossen werden. So erhellend das ist, es erklärt nicht die rechtspopulistischen Wahlerfolge in allen europäischen Ländern und den USA und den Rechtsruck in allen Gesellschaften.
Nimmt man Demokratie als Versprechen (so ein bekannter Buchtitel von Antonia Grunenberg), dann gelangt man sogleich zur Frage, worin genau dieses Versprechen besteht, und zur Überlegung, ob etwa die Nichteinlösung des oder der Versprechen der Demokratie zum Verhängnis wird. Freiheit, Vernunft oder gar Gerechtigkeit sind hier analytisch unbrauchbar, denn ihr Bedeutungsgehalt ist so unklar wie ihre Verkünder zahlreich. Es sind politisch und ideologisch so stark missbrauchte Floskeln, dass sie zu bloßen Wortleichen geworden sind. Sucht man nach dem innersten Kern des Versprechens der Demokratie, stößt man unvermeidlich auf den Begriff der Selbstbestimmung. Zu keiner Zeit hatte die Masse der Menschen in einem Maße die Möglichkeit, über sich selber zu bestimmen wie in der modernen Demokratie. Niemand kann ihnen vorschreiben, was sie zu denken oder zu glauben haben, wie sie konsumieren, sich kleiden und ihre Freizeit verbringen, wen sie lieben oder heiraten, ob und wen sie wählen, ob sie rauchen, trinken, sich gesund ernähren oder nicht, ob sie sich an öffentlichen Auseinandersetzungen beteiligen oder lieber schweigen.
Es gibt jedoch einen Bereich, und das ist der für viele Menschen wichtigste Bereich ihres Lebens, zu dem die Demokratie keinen Zutritt hat: der Bereich von Wirtschaft und Arbeit. Das Wirtschaftsleben ist so wenig demokratisierbar wie der Aufenthalt im Gefängnis. Eine Wirtschaftsdemokratie ist im Kapitalismus per definitionem nicht möglich. Wer kein Vermögen geerbt hat und nichts besitzt als seine Arbeitskraft, muss diese an einen Arbeitgeber verkaufen, und in der Regel diktiert dieser, zu welchen Konditionen er sie kauft. Auch wenn bei den Rahmenbedingungen Gewerkschaften ein wenig mitreden dürfen, ist hier für Selbstbestimmung kein Raum. Und die potentielle, faktisch aber geringe Auswahl unter Arbeitgebern schafft keine Abhilfe.
Willy Brandts Regierung ist es zu verdanken, dass in Deutschland unter dem Motto »Wir wollen mehr Demokratie wagen« auch erste Schritte in Richtung auf eine betriebliche Mitbestimmung unternommen wurden. Das war im vom englischen Historiker Eric Hobsbawm so genannten Goldenen Zeitalter nach dem Zweien Weltkrieg möglich, da wirtschaftlicher Aufschwung und eine durch die drohende sozialistische Systemalternative erzwungene Sozialstaatlichkeit des Kapitalismus zusammenfielen. Diese Schritte haben allerdings nicht sehr weit geführt. Der mit dem Ende des Sozialismus einsetzende Neoliberalismus hebelte eine weitere Entwicklung demokratischer Mitbestimmung in der Wirtschaft aus. Heute gibt es in Deutschland nur noch in sieben Prozent der Betriebe einen Betriebsrat. Knapp jeder dritte Arbeitnehmer, so eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), hat einen Betriebsrat für die Vertretung seiner Interessen. 1996 waren es noch 49 Prozent. Und diese Mitbestimmung hat ohnehin wenig mit Selbstbestimmung zu tun. Die Ursache davon ist die unternehmerische Freiheit, für liberale Politiker und Theoretiker die wichtigste Art von Freiheit, der gegenüber z. B. die Meinungsfreiheit von Kapitalismuskritikern nicht relevant ist. Ein anderes Wort dafür ist Marktwirtschaft. Grundlage der unternehmerischen Freiheit ist die Freiheit, sich durch Bezahlung fremde Arbeitskraft anzueignen. Dies kann jemand tun, der über genügend Vermögen, also Eigentum verfügt. Und das Eigentum – vor allem das große Eigentum, d.h. den Reichtum der Superreichen – zu schützen, ist der Hauptzweck jeder Herrschaftsform, auch und gerade des demokratischen Herrschaftsmodells. (Nur die kommunistische Herrschaft im Ostblock bildete eine circa 70 Jahr währende Ausnahme.)
Vermögen wird nicht besteuert. Das Einkommen aus Vermögen (z. B. Dividende) wird nur mit 25 Prozent besteuert, dagegen wird Einkommen aus Arbeit mit maximal 45 Prozent besteuert (was bei einem Jahreseinkommen von einer Viertel- oder halben Million lächerlich wenig ist). Gleichzeitig schafft der Staat für die Reichen allerlei Steuerschlupflöcher, Steueroasen etc., damit diese ihre Steuern »optimieren« können und im Endeffekt (mit den richtigen Anwälten) fast gar nichts zahlen.
Im liberal-bürgerlichen Verständnis ist Eigentum gleichbedeutend mit Leben und Freiheit. Deshalb werden diese drei immer als feste Trias in den Verfassungen und Menschenrechtserklärungen des späten 18. Jahrhunderts (nach der amerikanischen und der französischen Revolution) genannt. Ohne Eigentum kann sich der Besitzbürger keine Freiheit und kein richtiges Leben vorstellen. Wer über großen Grundbesitz verfügt, braucht natürlich Arbeiter, die für ihn arbeiten. In der Antike und im demokratischen Amerika der liberalen Gründerväter waren das Sklaven. Heute sind es bezahlte Arbeiter. Erst in jüngerer Zeit häufen sich Studien darüber, wieviel sklavenähnliche Arbeit auch im Kapitalismus benötigt wird. Lieferkettengesetze werden so gestaltet, dass sie nichts daran ändern.
Alle liberal-demokratischen Verfassungen schützen primär das Eigentum. Deshalb wird auch einer Demokratisierung der Wirtschaft, die – z. B. in der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts und der Frankfurter Allgemeiner Zeitung – ein Eingriff in das Eigentumsrecht wäre, ein Riegel vorgeschoben. Arbeiter verfügen während der Arbeitszeit über keinerlei Selbstbestimmung. Und ihre Selbstbestimmung beim Konsum in der Freizeit ist natürlich vom Einkommen abhängig. In der Marktwirtschaft fällt die Selbstbestimmung der Menschen extrem verschieden aus – im Gegensatz zu dem von der Demokratie suggerierten Versprechen, das sich als ein falsches herausstellt.
Gemäß dem Hauptzweck aller politischen Ordnung und Herrschaft greift der Staat nicht auf den Reichtum der Vermögenden und Betuchten zu, wie er es müsste, wollte er letztere in einem adäquaten Verhältnis zu deren Möglichkeiten an den Lasten für die Gemeinschaft beteiligen. Da jedoch der Reichtum so kategorisch geschützt wird, trägt er kaum etwas zur Gemeinschaft bei, deren Zusammenhalt alle Politiker so inbrünstig beschwören. Ein Zusammenhalt zwischen einer BMW-Aktionärin, die pro Jahr eine Milliarde Dividende aus ihren BMW-Aktien bezieht, und einem Fließbandarbeiter in dem Werk, das ihr (mit-)gehört, ist so unmöglich wie der Zusammenhalt zwischen einem Sklaven und dem Sklavenhalter. Dass der Arbeiter rechtlich nicht das Eigentum der Aktionäre ist, spielt dabei keine Rolle.
Obwohl eine Verfassung eine Sozialbindung des Eigentums vorschreiben kann. wie etwa das Grundgesetz in Artikel 14, bleibt das ohne Verbindlichkeit. Das Eigentum kann auf demokratischem Wege weder begrenzt noch abgeschafft werden; und es wird ab einem bestimmten Umfang nicht mehr an den Lasten der Allgemeinheit beteiligt. Aufgrund der inneren Dynamik der Marktwirtschaft wächst es (wie Elon Musk zeigt) sinnlos ins Unermessliche. Da diese zutiefst undemokratische Wirtschaftsform im Innersten mit dem politischen Herrschaftsmodell der Demokratie verbunden ist wie ein siamesischer Zwilling, wählen wir bei jeder Wahl automatisch (und zumeist unbewusst) die Unmöglichkeit, uns im Bereich von Arbeit und Wirtschaft selbst zu bestimmen. Was viele für ein Ergebnis von Aufklärung und politischer Mündigkeit halten, läuft grundsätzlich auf eine Wahl der eigenen Unselbstständigkeit und Unmündigkeit hinaus. Nur in der politischen Theorie wird, ganz anders als in der Wirklichkeit, der siamesische Zwilling getrennt: Schon Aristoteles unterscheidet oikos (das Wirtschaftsleben) und polis (den Staat); Hannah Arendt übernimmt das in ihrer Unterscheidung von Arbeit einerseits und Handeln im öffentlichen Raum (Praxis) andererseits; und in Niklas Luhmanns Systemtheorie finden wir die getrennten Funktionssysteme Wirtschaft und Politik (die nur mehr oder minder lose »gekoppelt« sind).
Dieses Paradox der Demokratie jedoch, durch demokratische Entscheidung immer für das Gegenteil von Demokratie im so eminent wichtigen Bereich der Arbeit (und dessen größerem Kontext von Zeit, Einkommen und Lebensgestaltungsmöglichkeiten) zu sorgen, führt im Verbund mit dem exzessiven (unsozialen) Reichtum, auf dessen Gegenseite wachsende Armut steht, zu einer staatlichen Überforderung bei der Bewältigung wachsender Aufgaben, sei es der Finanzierbarkeit der Renten, der Pflege, des Bildungssystems, des Gesundheitssystems, der Instandhaltung der Infrastruktur, des Umwelt- und Klimaschutzes.
In einem überforderten Staat greifen die meisten Politiker auf das Mittel der Lenkung der Menschen durch Ressentiments zurück. Das ließ sich beispielhaft vor der Bundestagswahl im Februar 2025 beobachten. Politisches Ressentiment richtet sich als erstes gegen die Schwächsten, zurzeit gegen Flüchtlinge und Bürgergeldempfänger (Aiwanger: »Nichtsnutze«). Die Fokussierung auf das Thema Migration, nicht zufällig pausenlos angefeuert durch die rechtsextreme AfD, wurde so stark, dass alles weitere in den Hintergrund trat und die CDU/CSU Ende Januar in einem Testlauf im Bundestag eine mögliche Kooperation mit den Rechtsextremen auslotete. Dass vom Slogan »Migration ist unser größtes Problem« zu einem »Die Migranten sind unser Unglück« nur ein ganz kleiner Schritt ist, ignorieren konservative Politiker bereitwillig, wenn sie glauben, mit solcher Aussage Wahlen gewinnen zu können.
Wenn aber einmal das Ressentiment regiert, von Konservativen und Rechtsextremen, wie wir es gegenwärtig weltweit erleben, beliebig benutzt wird, um ihr Versagen zu kaschieren, dann wird Demokratie zu ihrem eigenen Opfer – und scheitert letztlich an sich selbst.