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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das Scheitern der Demokratie

Zahl­los und nicht endend sind die Appel­le, dass es drin­gend gebo­ten sei, sich für die Demo­kra­tie ein­zu­set­zen, den Fein­den der Demo­kra­tie, wie etwa Rechts­po­pu­li­sten und Auto­kra­ten ver­schie­de­ner Art, ent­ge­gen­zu­tre­ten. Kaum jemand macht sich Gedan­ken, wes­halb seit cir­ca fünf­zehn bis zwan­zig Jah­ren plötz­lich die­se Bedro­hung der Demo­kra­tie ent­steht und woher ihre Fein­de alle kom­men. Ste­phan Les­se­nich unter­sucht in einer bemer­kens­wer­ten Stu­die (2019) die »Gren­zen der Demo­kra­tie« und sieht im »Rin­gen um Betei­li­gung, Mit­be­stim­mung, Berech­ti­gung« die Ursa­che, dass auch in der Demo­kra­tie immer jemand oder bestimm­te Grup­pen aus dem Teil­ha­be­spiel und der Ver­tei­lung von mate­ri­el­len und imma­te­ri­el­len Gütern aus­ge­schlos­sen wer­den. So erhel­lend das ist, es erklärt nicht die rechts­po­pu­li­sti­schen Wahl­er­fol­ge in allen euro­päi­schen Län­dern und den USA und den Rechts­ruck in allen Gesellschaften.

Nimmt man Demo­kra­tie als Ver­spre­chen (so ein bekann­ter Buch­ti­tel von Anto­nia Gru­nen­berg), dann gelangt man sogleich zur Fra­ge, wor­in genau die­ses Ver­spre­chen besteht, und zur Über­le­gung, ob etwa die Nicht­ein­lö­sung des oder der Ver­spre­chen der Demo­kra­tie zum Ver­häng­nis wird. Frei­heit, Ver­nunft oder gar Gerech­tig­keit sind hier ana­ly­tisch unbrauch­bar, denn ihr Bedeu­tungs­ge­halt ist so unklar wie ihre Ver­kün­der zahl­reich. Es sind poli­tisch und ideo­lo­gisch so stark miss­brauch­te Flos­keln, dass sie zu blo­ßen Wort­lei­chen gewor­den sind. Sucht man nach dem inner­sten Kern des Ver­spre­chens der Demo­kra­tie, stößt man unver­meid­lich auf den Begriff der Selbst­be­stim­mung. Zu kei­ner Zeit hat­te die Mas­se der Men­schen in einem Maße die Mög­lich­keit, über sich sel­ber zu bestim­men wie in der moder­nen Demo­kra­tie. Nie­mand kann ihnen vor­schrei­ben, was sie zu den­ken oder zu glau­ben haben, wie sie kon­su­mie­ren, sich klei­den und ihre Frei­zeit ver­brin­gen, wen sie lie­ben oder hei­ra­ten, ob und wen sie wäh­len, ob sie rau­chen, trin­ken, sich gesund ernäh­ren oder nicht, ob sie sich an öffent­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen betei­li­gen oder lie­ber schweigen.

Es gibt jedoch einen Bereich, und das ist der für vie­le Men­schen wich­tig­ste Bereich ihres Lebens, zu dem die Demo­kra­tie kei­nen Zutritt hat: der Bereich von Wirt­schaft und Arbeit. Das Wirt­schafts­le­ben ist so wenig demo­kra­ti­sier­bar wie der Auf­ent­halt im Gefäng­nis. Eine Wirt­schafts­de­mo­kra­tie ist im Kapi­ta­lis­mus per defi­ni­tio­nem nicht mög­lich. Wer kein Ver­mö­gen geerbt hat und nichts besitzt als sei­ne Arbeits­kraft, muss die­se an einen Arbeit­ge­ber ver­kau­fen, und in der Regel dik­tiert die­ser, zu wel­chen Kon­di­tio­nen er sie kauft. Auch wenn bei den Rah­men­be­din­gun­gen Gewerk­schaf­ten ein wenig mit­re­den dür­fen, ist hier für Selbst­be­stim­mung kein Raum. Und die poten­ti­el­le, fak­tisch aber gerin­ge Aus­wahl unter Arbeit­ge­bern schafft kei­ne Abhilfe.

Wil­ly Brandts Regie­rung ist es zu ver­dan­ken, dass in Deutsch­land unter dem Mot­to »Wir wol­len mehr Demo­kra­tie wagen« auch erste Schrit­te in Rich­tung auf eine betrieb­li­che Mitbestim­mung unter­nom­men wur­den. Das war im vom eng­li­schen Histo­ri­ker Eric Hobs­bawm so genann­ten Gol­de­nen Zeit­al­ter nach dem Zwei­en Welt­krieg mög­lich, da wirt­schaft­li­cher Auf­schwung und eine durch die dro­hen­de sozia­li­sti­sche Syste­mal­ter­na­ti­ve erzwun­ge­ne Sozi­al­staat­lich­keit des Kapi­ta­lis­mus zusam­men­fie­len. Die­se Schrit­te haben aller­dings nicht sehr weit geführt. Der mit dem Ende des Sozia­lis­mus ein­set­zen­de Neo­li­be­ra­lis­mus hebel­te eine wei­te­re Ent­wick­lung demo­kra­ti­scher Mit­be­stim­mung in der Wirt­schaft aus. Heu­te gibt es in Deutsch­land nur noch in sie­ben Pro­zent der Betrie­be einen Betriebs­rat. Knapp jeder drit­te Arbeit­neh­mer, so eine Stu­die des Insti­tuts der Deut­schen Wirt­schaft (IW), hat einen Betriebs­rat für die Ver­tre­tung sei­ner Inter­es­sen. 1996 waren es noch 49 Pro­zent. Und die­se Mit­be­stim­mung hat ohne­hin wenig mit Selbst­be­stim­mung zu tun. Die Ursa­che davon ist die unter­neh­me­ri­sche Frei­heit, für libe­ra­le Poli­ti­ker und Theo­re­ti­ker die wich­tig­ste Art von Frei­heit, der gegen­über z. B. die Mei­nungs­frei­heit von Kapi­ta­lis­mus­kri­ti­kern nicht rele­vant ist. Ein ande­res Wort dafür ist Markt­wirt­schaft. Grund­la­ge der unter­neh­me­ri­schen Frei­heit ist die Frei­heit, sich durch Bezah­lung frem­de Arbeits­kraft anzu­eig­nen. Dies kann jemand tun, der über genü­gend Ver­mö­gen, also Eigen­tum ver­fügt. Und das Eigen­tum – vor allem das gro­ße Eigen­tum, d.h. den Reich­tum der Super­rei­chen – zu schüt­zen, ist der Haupt­zweck jeder Herr­schafts­form, auch und gera­de des demo­kra­ti­schen Herr­schafts­mo­dells. (Nur die kom­mu­ni­sti­sche Herr­schaft im Ost­block bil­de­te eine cir­ca 70 Jahr wäh­ren­de Ausnahme.)

Ver­mö­gen wird nicht besteu­ert. Das Ein­kom­men aus Ver­mö­gen (z. B. Divi­den­de) wird nur mit 25 Pro­zent besteu­ert, dage­gen wird Ein­kom­men aus Arbeit mit maxi­mal 45 Pro­zent besteu­ert (was bei einem Jah­res­ein­kom­men von einer Vier­tel- oder hal­ben Mil­li­on lächer­lich wenig ist). Gleich­zei­tig schafft der Staat für die Rei­chen aller­lei Steu­er­schlupf­lö­cher, Steu­er­oa­sen etc., damit die­se ihre Steu­ern »opti­mie­ren« kön­nen und im End­ef­fekt (mit den rich­ti­gen Anwäl­ten) fast gar nichts zahlen.

Im libe­ral-bür­ger­li­chen Ver­ständ­nis ist Eigen­tum gleich­be­deu­tend mit Leben und Frei­heit. Des­halb wer­den die­se drei immer als feste Tri­as in den Ver­fas­sun­gen und Men­schen­rechts­er­klä­run­gen des spä­ten 18. Jahr­hun­derts (nach der ame­ri­ka­ni­schen und der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on) genannt. Ohne Eigen­tum kann sich der Besitz­bür­ger kei­ne Frei­heit und kein rich­ti­ges Leben vor­stel­len. Wer über gro­ßen Grund­be­sitz ver­fügt, braucht natür­lich Arbei­ter, die für ihn arbei­ten. In der Anti­ke und im demo­kra­ti­schen Ame­ri­ka der libe­ra­len Grün­der­vä­ter waren das Skla­ven. Heu­te sind es bezahl­te Arbei­ter. Erst in jün­ge­rer Zeit häu­fen sich Stu­di­en dar­über, wie­viel skla­ven­ähn­li­che Arbeit auch im Kapi­ta­lis­mus benö­tigt wird. Lie­fer­ket­ten­ge­set­ze wer­den so gestal­tet, dass sie nichts dar­an ändern.

Alle libe­ral-demo­kra­ti­schen Ver­fas­sun­gen schüt­zen pri­mär das Eigen­tum. Des­halb wird auch einer Demo­kra­ti­sie­rung der Wirt­schaft, die – z. B. in der Rechts­auf­fas­sung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts und der Frank­fur­ter All­ge­mei­ner Zei­tung – ein Ein­griff in das Eigen­tums­recht wäre, ein Rie­gel vor­ge­scho­ben. Arbei­ter ver­fü­gen wäh­rend der Arbeits­zeit über kei­ner­lei Selbst­be­stim­mung. Und ihre Selbst­be­stim­mung beim Kon­sum in der Frei­zeit ist natür­lich vom Ein­kom­men abhän­gig. In der Markt­wirt­schaft fällt die Selbst­be­stim­mung der Men­schen extrem ver­schie­den aus – im Gegen­satz zu dem von der Demo­kra­tie sug­ge­rier­ten Ver­spre­chen, das sich als ein fal­sches herausstellt.

Gemäß dem Haupt­zweck aller poli­ti­schen Ord­nung und Herr­schaft greift der Staat nicht auf den Reich­tum der Ver­mö­gen­den und Betuch­ten zu, wie er es müss­te, woll­te er letz­te­re in einem adäqua­ten Ver­hält­nis zu deren Mög­lich­kei­ten an den Lasten für die Gemein­schaft betei­li­gen. Da jedoch der Reich­tum so kate­go­risch geschützt wird, trägt er kaum etwas zur Gemein­schaft bei, deren Zusam­men­halt alle Poli­ti­ker so inbrün­stig beschwö­ren. Ein Zusam­men­halt zwi­schen einer BMW-Aktio­nä­rin, die pro Jahr eine Mil­li­ar­de Divi­den­de aus ihren BMW-Akti­en bezieht, und einem Fließ­band­ar­bei­ter in dem Werk, das ihr (mit-)gehört, ist so unmög­lich wie der Zusam­men­halt zwi­schen einem Skla­ven und dem Skla­ven­hal­ter. Dass der Arbei­ter recht­lich nicht das Eigen­tum der Aktio­nä­re ist, spielt dabei kei­ne Rolle.

Obwohl eine Ver­fas­sung eine Sozi­al­bin­dung des Eigen­tums vor­schrei­ben kann. wie etwa das Grund­ge­setz in Arti­kel 14, bleibt das ohne Ver­bind­lich­keit. Das Eigen­tum kann auf demo­kra­ti­schem Wege weder begrenzt noch abge­schafft wer­den; und es wird ab einem bestimm­ten Umfang nicht mehr an den Lasten der All­ge­mein­heit betei­ligt. Auf­grund der inne­ren Dyna­mik der Markt­wirt­schaft wächst es (wie Elon Musk zeigt) sinn­los ins Uner­mess­li­che. Da die­se zutiefst unde­mo­kra­ti­sche Wirt­schafts­form im Inner­sten mit dem poli­ti­schen Herr­schafts­mo­dell der Demo­kra­tie ver­bun­den ist wie ein sia­me­si­scher Zwil­ling, wäh­len wir bei jeder Wahl auto­ma­tisch (und zumeist unbe­wusst) die Unmög­lich­keit, uns im Bereich von Arbeit und Wirt­schaft selbst zu bestim­men. Was vie­le für ein Ergeb­nis von Auf­klä­rung und poli­ti­scher Mün­dig­keit hal­ten, läuft grund­sätz­lich auf eine Wahl der eige­nen Unselbst­stän­dig­keit und Unmün­dig­keit hin­aus. Nur in der poli­ti­schen Theo­rie wird, ganz anders als in der Wirk­lich­keit, der sia­me­si­sche Zwil­ling getrennt: Schon Ari­sto­te­les unter­schei­det oikos (das Wirt­schafts­le­ben) und polis (den Staat); Han­nah Are­ndt über­nimmt das in ihrer Unter­schei­dung von Arbeit einer­seits und Han­deln im öffent­li­chen Raum (Pra­xis) ande­rer­seits; und in Niklas Luh­manns System­theo­rie fin­den wir die getrenn­ten Funk­ti­ons­sy­ste­me Wirt­schaft und Poli­tik (die nur mehr oder min­der lose »gekop­pelt« sind).

Die­ses Para­dox der Demo­kra­tie jedoch, durch demo­kra­ti­sche Ent­schei­dung immer für das Gegen­teil von Demo­kra­tie im so emi­nent wich­ti­gen Bereich der Arbeit (und des­sen grö­ße­rem Kon­text von Zeit, Ein­kom­men und Lebens­ge­stal­tungs­mög­lich­kei­ten) zu sor­gen, führt im Ver­bund mit dem exzes­si­ven (unso­zia­len) Reich­tum, auf des­sen Gegen­sei­te wach­sen­de Armut steht, zu einer staat­li­chen Über­for­de­rung bei der Bewäl­ti­gung wach­sen­der Auf­ga­ben, sei es der Finan­zier­bar­keit der Ren­ten, der Pfle­ge, des Bil­dungs­sy­stems, des Gesund­heits­sy­stems, der Instand­hal­tung der Infra­struk­tur, des Umwelt- und Klimaschutzes.

In einem über­for­der­ten Staat grei­fen die mei­sten Poli­ti­ker auf das Mit­tel der Len­kung der Men­schen durch Res­sen­ti­ments zurück. Das ließ sich bei­spiel­haft vor der Bun­des­tags­wahl im Febru­ar 2025 beob­ach­ten. Poli­ti­sches Res­sen­ti­ment rich­tet sich als erstes gegen die Schwäch­sten, zur­zeit gegen Flücht­lin­ge und Bür­ger­geld­emp­fän­ger (Aiwan­ger: »Nichts­nut­ze«). Die Fokus­sie­rung auf das The­ma Migra­ti­on, nicht zufäl­lig pau­sen­los ange­feu­ert durch die rechts­extre­me AfD, wur­de so stark, dass alles wei­te­re in den Hin­ter­grund trat und die CDU/​CSU Ende Janu­ar in einem Test­lauf im Bun­des­tag eine mög­li­che Koope­ra­ti­on mit den Rechts­extre­men aus­lo­te­te. Dass vom Slo­gan »Migra­ti­on ist unser größ­tes Pro­blem« zu einem »Die Migran­ten sind unser Unglück« nur ein ganz klei­ner Schritt ist, igno­rie­ren kon­ser­va­ti­ve Poli­ti­ker bereit­wil­lig, wenn sie glau­ben, mit sol­cher Aus­sa­ge Wah­len gewin­nen zu können.

Wenn aber ein­mal das Res­sen­ti­ment regiert, von Kon­ser­va­ti­ven und Rechts­extre­men, wie wir es gegen­wär­tig welt­weit erle­ben, belie­big benutzt wird, um ihr Ver­sa­gen zu kaschie­ren, dann wird Demo­kra­tie zu ihrem eige­nen Opfer – und schei­tert letzt­lich an sich selbst.