Vom frühen Gärtnerglück der Siedlungsbewegung bis hin zu proletarischen Wohnpalästen, dem Karl-Marx-Hof und dem Karl-Seitz-Hof, spannt sich ein mächtiger Bogen der sozialdemokratischen Geschichte Wiens. Bei freiem Eintritt können Besucher im Museum auf Abruf unweit des Wiener Rathauses in der Ausstellung »Das Rote Wien 1919 – 1934. Ideen – Debatten – Praxis« dieser Geschichte nachspüren. Das »Rote Wien« gilt bis heute sozialpolitisch als Vorbild. Es ging 1934 unter, da kämpfte die Sozialdemokratie – verschwiegen werden die Kommunisten – an zwei Fronten: gegen den Austrofaschismus, der zur Errichtung des Ständestaates führte, und gegen die NSDAP, deren Anziehungskraft die Sozialdemokraten lange unterschätzten. Die Landtags- und Gemeinderatswahl in Wien am 24. April 1932 waren die letzten Wahlen im Bundesland Wien in der ersten Österreichischen Republik. Mit 66 Mandaten erreichte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs (SDAP) in dem auf 100 Mandate reduzierten Gemeinderat die absolute Mehrheit. Die Christlichsoziale Partei kam mit 19 Mandaten auf den zweiten Platz. Die NSDAP erzielte 15 Mandate. Für die KPÖ stimmten 21.813 Wiener; die Kommunisten blieben aber ohne Mandat.
Mit dem Wahlsieg der Wiener Sozialdemokratie bei den Gemeinderatswahlen im Mai 1919 begann eine einzigartige Ära: die Sozialdemokraten regierten mit absoluter Mehrheit die Stadt. Heute besteht die Landesregierung in Wien aus Mitgliedern der SPÖ, der Grünen, der FPÖ und der ÖVP.
Die Kernzeit des »Roten Wien« liegt zwischen 1919 und 1934, und ihr widmet sich die Ausstellung. Da es im Ausweichquartier des Museums auf Abruf (MUSA) wenig Ausstellungsfläche gibt, beschränken sich die Kuratoren – Elke Wikidal, Werner Michael Schwarz und Georg Spitaler – auf einige zentrale Themen: den kommunalen Wohnungsbau, die Bildung, die Frauenpolitik, das Kunstverständnis und die Emigration.
Erst in den 1970ern begannen sich die Forschung und auch die Museen für das »Rote Wien« zu interessieren. Vor allem Historiker aus den USA, deren Eltern zwischen 1934 und 1938 geflüchtet waren, schrieben Bücher über diese Jahre. Die eigene Biografie weckte das Interesse an Wien. Siegfried Matti, Wolfgang Maderthaner, Helene Maimann, Alfred Pfoser und weitere begannen, sich kritisch mit dem Thema auseinanderzusetzen, Georg Spitaler: »Sie untersuchten die Vergangenheit im Hinblick auf die Gegenwart, die war bestimmt von der Ära Kreisky. Die Kritik bezog sich auf bestimmte Aspekte, deren Wurzeln sie im Roten Wien sahen: Etwa den vorherrschenden Paternalismus oder die Tendenz, dass alles ›von oben‹ bestimmt wird und mit Zwang verbunden ist.«
Bis heute ist der kommunale Wohnungsbau Wiens ein Vorbild. »In Deutschland und anderswo in Europa [weist man] immer wieder auf das Vorbild des Roten Wien zum Thema kommunaler Wohnungsbau hin«, so Elke Wikidal.
Die Ausstellung ist kein Versuch der Selbstpräsentation von Wien. Kurator Spitaler: »Wir haben uns auf die Suche nach privaten Erinnerungen gemacht, das war gar nicht so leicht, etwas zu finden. Auf jedem zweiten Dachboden finden sich irgendwelche Nazi-Devotionalien. Aber keine Relikte des Roten Wien, und wenn dann bei Emigranten.« Dazu zählt die Skulptur des Bildhauers Anton Hanak. Sie stammt aus dem Nachlass von Julius Tandler. Der Wohlfahrtstadtrat des »Roten Wien« starb 1936 in Moskau, seine Witwe konnte in die USA fliehen und einige Dinge mitnehmen, darunter auch die von Hanak gefertigte Skulptur »Eine Mutter mit zwei Kindern«. Sie bereichert die Ausstellung.
Im Vorwort zum Katalog schreibt Kulturwissenschaftler Matti Bunzl: »Beim Roten Wien ist es anders. Sein Gegenentwurf zu jahrhundertelang gewachsen Machtstrukturen war zu markant, politisch wie ästhetisch, um es als reinen Ausbund der Stadtgeschichte zu verstehen. Seine Gebäude sind formal kenntlich, gleichermaßen architektonisches wie ideologisches Programm.« Das könne in der Ausstellung nachgezeichnet werden, fährt Bunzl fort. Aber »wirklich nachvollziehen kann man es […] nur in situ: in den Gemeindebauten mit modernen Ansätzen zu Versorgung und Hygiene, in den Schwimmbädern für die körperliche Ertüchtigung des ›Neuen Menschen‹ und den Büchereien, die aus unterdrückten Arbeitern und Arbeiterrinnen stolze Kulturmenschen machen sollten.« Also: Auf nach Wien!
Bis 19. Januar 2020: »Das Rote Wien 1919 – 1934« im Museum auf Abruf, Felderstraße, 1010 Wien, täglich geöffnet. Der umfangreiche Katalog zur Ausstellung kostet 39 Euro (470 Seiten, Birkhäuser Verlag GmbH. Basel, Postfach 44, 4009 Basel, SCHWEIZ).