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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das Recht auf die Stadt

Beim Auto hört der Ver­stand auf und daher auch der Umwelt­schutz. Neu­er­dings ver­lan­gen sogar Grü­ne den Aus­bau sechs­spu­ri­ger Auto­bah­nen. Wer bewusst kein Auto hat oder fährt, gehört einer Min­der­heit an. Klar ist, dass die Auto­in­du­strie sich nicht gegen Elek­tro-Autos wehrt, weil sie auf jeden Fall die Fahr­zeug­art »Auto« und damit den moto­ri­sier­ten Indi­vi­du­al-Ver­kehr (MIV) erhal­ten möch­te. Durch Strom gibt es eine Antriebs­wen­de, aber kei­ne Ver­kehrs­wen­de. Die Autos wer­den grö­ßer, die Park­plät­ze knap­per. Die Abhän­gig­keit von Stof­fen wie Lithi­um wächst.

Das führ­te in der Groß­stadt Essen dazu, dass sonst heiß umkämpf­te Park­plät­ze kom­men­tar­los (auch von den Auto­fah­rern ohne Mur­ren) für die Reser­vie­rung von stun­den­lan­gem Auf­la­den der Elek­tro-Autos geop­fert wer­den. Für Nut­zer des ÖPNV, Fuß­gän­ger, Rad­fah­rer, Eltern mit Kin­der­wa­gen und Roll­stuhl­fah­rer war man hier nicht bereit, von fünf­und­zwan­zig Park­plät­zen auch nur fünf für den sinn­vol­len Umbau einer rei­nen Park­platz­an­la­ge zu einem inner­städ­ti­schen Treff­punkt mit Auf­ent­halts­cha­rak­ter zu opfern. Die vor­ge­schla­ge­ne (mensch­li­che) Opti­mie­rung die­ses Park­plat­zes, der in einem gro­ßen, dem Zen­trum der Stadt nahe­ge­le­ge­nen und die im Krieg zer­stör­te »Alt­stadt« erset­zen­den Stadt­teil liegt, wur­de durch die Mehr­heit der regie­ren­den bür­ger­li­chen Par­tei­en und durch die Mehr­heit der anlie­gen­den Kauf­leu­te und Gastro­no­men abgelehnt.

Geplant war unter dem Begriff »Stern­stun­de« (der zen­tral gele­ge­ne Platz nebst Kreu­zung und Umfeld hat ins­ge­samt den Namen »Rüt­ten­schei­der Stern«), den Bür­gern und Bür­ge­rin­nen, den Besu­chern und Besu­che­rin­nen die­sen Platz »zum Ver­wei­len« zurück­zu­ge­ben. Da die­ser Stadt­teil und die Renom­mier­mei­le »Rüt­ten­schei­der Stra­ße« (Rü oder Fran­zö­sisch »Rue«) nicht nur vom Indi­vi­du­al­ver­kehr ange­fah­ren wer­den, son­dern auch von einer Stra­ßen­bahn­li­nie und zwei U-Bahn-Lini­en direkt sowie von zwei Bus­li­ni­en in erreich­ba­rer Nähe, müss­te selbst­ver­ständ­lich auch der Anteil der Bevöl­ke­rung, der den öffent­li­chen Nah­ver­kehr nutzt, berück­sich­tigt wer­den. Die­ser Anteil wird auf unge­fähr fünf­und­drei­ßig Pro­zent geschätzt. Adäquat berück­sich­tigt wird er nicht

Die von einer gro­ßen Bür­ger­initia­ti­ve unter Mit­ar­beit zwei­er pro­fes­sio­nel­ler Archi­tek­tin­nen vor­ge­leg­ten Plä­ne sahen statt eines öden Plat­zes mit fünf­und­zwan­zig Park­buch­ten einen Platz zum Ver­sam­meln vor – mit Baum-Arka­den, einer Grün­flä­che mit Laven­del­stöcken, Ruhe-Inseln mit Sitz­bän­ken, einer Per­go­la, einem klei­nen Café, Fahr­rad­stän­dern und adäqua­ter Beleuch­tung. Zwan­zig der vor­han­de­nen Park­plät­ze soll­ten durch intel­li­gen­te Stra­ßen­um­ge­stal­tung zusätz­lich in einer Sei­ten­stra­ße und die rest­li­chen fünf in einem in der Nähe vor­han­de­nen Park­haus unter­ge­bracht wer­den. Dies geschah trotz aller Bemü­hun­gen und trotz allen Lobes nicht, obwohl die Stadt für das Jahr 2017 im zwei­ten Anlauf den begehr­ten Titel »Grü­ne Haupt­stadt Euro­pas« erhal­ten hatte.

Über­le­gun­gen, einen Teil der Stadt der All­men­de wie­der zurück­zu­ge­ben, haben in ande­ren deut­schen Städ­ten und vor allem in ande­ren Län­dern (z. B. den Nie­der­lan­den) längst Platz (sic!) gegrif­fen. Sol­che Pla­nun­gen wer­den aber in hie­si­gen Brei­ten trotz teil­wei­ser theo­re­ti­scher Zustim­mung nicht durch­ge­führt oder verhindert.

Durch die Weg­nah­me bzw. Ver­nich­tung der All­men­de (des der All­ge­mein­heit zur Ver­fü­gung ste­hen­den Teils des öffent­li­chen Rau­mes) im acht­zehn­ten und neun­zehn­ten Jahr­hun­dert wur­den vor allem die klei­nen Bau­ern, Köt­ter oder Leu­te ohne Land, aber mit Tie­ren, geschä­digt. Durch so genann­ten »Ein­he­gun­gen« eig­ne­ten sich Groß­grund­be­sit­zer das Land ohne Ent­schä­di­gung an. Die ver­arm­te Land­be­völ­ke­rung stand dann der begin­nen­den Indu­stria­li­sie­rung als Arbei­ter und Arbei­te­rin­nen in Berg­wer­ken und Fabri­ken zur Ver­fü­gung. Die­se Erschei­nun­gen, von man­chen Histo­ri­kern als »Land­raub« bezeich­net, haben im End­ef­fekt bis heu­te nicht auf­ge­hört. Immer wie­der und immer noch wer­den vor­mals öffent­lich zugäng­li­che Berei­che pri­va­ti­siert und dem Gewinn­stre­ben ein­zel­ner Fir­men und Kon­zer­ne geop­fert. Ein Bei­spiel dafür in Essen ist der Bau einer rie­si­gen Ein­kaufsmall am »Lim­becker Platz«, der nur dank Über­li­stung der betei­lig­ten Bür­ger­schaft gelang und den eigent­li­chen Lim­becker-Platz und den öffent­li­chen Zugang zur U-Bahn, eines Bereichs mit Bäu­men und Bän­ken, ver­nich­te­te und pri­va­ti­sier­te. Der dama­li­ge Lokal­chef der Mono­pol­zei­tung WAZ (heu­te Fun­ke Medi­en­grup­pe) war voll des Lobes über die­se Ver­än­de­rung. Wie die­ser städ­te­bau­li­che Koloss, der die Uni­ver­si­tät end­gül­tig von der Stadt trennt, betrie­ben wird (als Immo­bi­li­en­fonds, der aus­wärts ange­sie­delt ist und sei­ne Anteils­eig­ner trotz Finanz­kri­se mit guten Erträ­gen bedient), ist den mei­sten Men­schen in Essen nicht bewusst.

Mög­li­cher­wei­se ist die Ver­städ­te­rung der west­li­chen Gesell­schaf­ten an einem kri­ti­schen Punkt ange­kom­men. Allein die Pro­ble­me des indi­vi­dua­li­sier­ten, moto­ri­sier­ten Ver­kehrs machen vie­le gut­ge­mein­te Anstren­gun­gen zur Bele­bung und Ver­schö­ne­rung der Städ­te zunich­te. Der über­stei­ger­te Bau von Ein­kaufs­zen­tren und Geschäf­ten aller Art, wodurch die Wohn­be­völ­ke­rung ver­trie­ben wird und Stadt­tei­le »ster­ben«, wird zuneh­mend kri­tisch gese­hen. Über­all grei­fen neue Bewe­gun­gen die Mise­re des Neo­li­be­ra­lis­mus auf urba­nem Ter­rain an. Das »Recht auf die Stadt« wird gefor­dert, ob in Ber­lin, Ham­burg, Duis­burg, Wien, Dur­ban, New York oder Istan­bul. Im west­kur­di­schen Roja­va, in den Con­se­jos Comu­na­les Vene­zue­las oder den Jun­tas Veci­na­les in El Alto in Boli­vi­en begin­nen die Men­schen in einem Aus­maß über ihre Belan­ge selbst zu bestim­men, von dem wir Euro­pä­er nur träu­men kön­nen. Ledig­lich lei­se Anklän­ge sind in Deutsch­land mit Urban Gar­dening, Car Sha­ring, Repair-Cafés und öffent­li­chen Bücher­schrän­ken zu finden.

Der im so genann­ten Westen herr­schen­de bür­ger­li­che Par­la­men­ta­ris­mus hat sich, nicht nur aus finan­zi­el­len Grün­den, der herr­schen­den Wirt­schafts­form, dem Kapi­ta­lis­mus, unter­ge­ord­net. Dem set­zen neue Ideen die Selbst­ver­wal­tung ent­ge­gen, die das All­tags­le­ben umfasst. Die Bewoh­ner haben dem­nach nicht nur das Recht auf Woh­nen, son­dern auch das Recht auf Aneig­nung. Eigent­lich müss­te in einer ech­ten Demo­kra­tie mit ech­ter Mit­be­stim­mung und ech­tem auf­ge­teil­ten Eigen­tum (an den Pro­duk­ti­ons­mit­teln und dem öffent­li­chen Raum) die neue, moder­ne All­men­de über die histo­ri­sche weit hinausgehen.

Das Gelän­de der Stadt dürf­te nicht län­ger in den Hän­den pri­va­ter Eigen­tü­mer lie­gen, es wür­de ver­ge­sell­schaf­tet und nicht auf dem Markt ver­han­del­bar sein. Die Bewoh­ner wür­den in selbst­be­stimm­ten Orga­ni­sa­ti­ons­for­men über ihre Stadt und ihre Belan­ge ent­schei­den kön­nen. Eine Bür­ger­initia­ti­ve mit kom­pe­ten­ten Mit­glie­dern und sach­lich gut begrün­de­ten Anträ­gen und Pla­nun­gen könn­te eine Ein­gangs­form die­ser Art von sinn­vol­ler, demo­kra­ti­scher und mensch­li­cher Mit­be­stim­mung sein – der Aneig­nung der eige­nen Stadt, an der man mit plant und mitarbeitet.

Weil der neo­li­be­ra­len Stadt mit ihren mehr­heit­li­chen Ent­schei­dungs­trä­gern und Eigen­tü­mern das men­schen­wür­di­ge Woh­nen für alle nicht viel bedeu­tet, ist fast über­all der sozia­le Woh­nungs­bau zurück­ge­fah­ren wor­den. Für die All­ge­mein­heit bezahl­ba­rer Wohn­raum wird zuneh­mend knap­per. Klei­ne Läden des täg­li­chen Bedarfs haben es schwer, die stei­gen­den Mie­ten zu bezah­len. Das Zen­trum einer frei­en Stadt oder das Zen­trum eines belieb­ten, beleb­ten und viel fre­quen­tier­ten Stadt­teils soll­te kein Macht­zen­trum (oder ein öder Auto­park­platz) sein, son­dern ein Ort der Begeg­nung und des Austauschs.

Mög­li­cher­wei­se ist die neue Migra­ti­on, die Ende des 20. und Anfang des 21. Jahr­hun­derts West­eu­ro­pa berührt und viel­leicht sogar die EU ins Wan­ken bringt, ein Angriff auf die neo­li­be­ra­le Stadt. Ein gro­ßer Teil der Flücht­lin­ge aus den Kriegs­ge­bie­ten des Nahen Ostens ver­lässt nur der Not wegen oder aus Todes­angst ihr Land, und die Flücht­lin­ge aus den Staa­ten Afri­kas ent­flie­hen dem Hun­ger und der Unmög­lich­keit einer Exi­stenz. Der »rei­che« Westen ant­wor­tet dar­auf mit einer Art Not­stands-Urba­nis­mus, mit Zel­ten und Wohn­con­tai­nern und gleich­zei­ti­ger Ver­schär­fung der Asyl­re­geln durch die mit Mehr­heit gewähl­ten Poli­ti­ker. Mit armen Flücht­lin­gen kann der Kapi­ta­lis­mus nicht viel anfan­gen, aus­ge­nom­men sie ver­din­gen sich als Bil­lig­löh­ner und Min­dest­lohn­bre­cher. Oder sie erset­zen Fach­kräf­te, die selt­sa­mer­wei­se bei uns nicht vor­han­den zu sein scheinen.

Die welt­wei­ten Migra­ti­ons­be­we­gun­gen sind auch durch Kli­ma­ver­än­de­run­gen und -pro­ble­me begrün­det. Inter­na­tio­na­le Kli­ma­kon­fe­ren­zen, die meist nicht mehr als Show­ver­an­stal­tun­gen sind, kön­nen ehr­li­che Öko­lo­gen, die auch Ahnung von Öko­no­mie haben (oder ehr­li­che Öko­no­men, die auch Ahnung von Öko­lo­gie haben), nicht mehr dar­über hin­weg­täu­schen, dass es einen »grü­nen« Kapi­ta­lis­mus nicht gibt. D. h., die Pro­ble­me, die das kapi­ta­li­sti­sche System erzeugt, kön­nen nicht durch Maß­nah­men des­sel­ben Systems besei­tigt werden.

Gegen das »Wei­ter so« macht sich – noch im Klei­nen – Wider­stand breit, der z. B. das Recht auf die Stadt, auf den eige­nen Stadt­teil ein­for­dert. Unter dem Mot­to »La nuit debout – Auf­recht durch die Nacht« besetz­te im April 2016 die fran­zö­si­sche Jugend Plät­ze in Paris und ande­ren fran­zö­si­schen Städ­ten. Aus­lö­ser war die Ver­schär­fung der Arbeits­ge­set­ze für abhän­gig Beschäf­tig­te zu Gun­sten der Arbeit­ge­ber durch eine sich »sozia­li­stisch« nen­nen­de Regie­rung, die längst in das rech­te Lager über­ge­wech­selt ist. Aber es geht der Jugend – zu Recht – nicht nur um Arbeits­ge­set­ze, son­dern um das gro­ße Gan­ze. Es geht um ihr Land, um Euro­pa, um den gan­zen Pla­ne­ten, auf dem nichts ist, wie es sein könn­te und soll­te. Die­se For­mu­lie­rung erin­nert an eine Sen­tenz Fried­rich Hegels: Denn nicht das, was ist, macht uns unge­stüm und lei­dend, son­dern dass es nicht ist, wie es sein soll. Die Jugend muckt auf gegen die fak­ti­sche Auf­kün­di­gung der Men­schen­rech­te durch die älte­re Gene­ra­ti­on, ohne Anse­hen der Par­tei­en. Viel­leicht ist die Par­tei­en­de­mo­kra­tie überholt.