Beim Auto hört der Verstand auf und daher auch der Umweltschutz. Neuerdings verlangen sogar Grüne den Ausbau sechsspuriger Autobahnen. Wer bewusst kein Auto hat oder fährt, gehört einer Minderheit an. Klar ist, dass die Autoindustrie sich nicht gegen Elektro-Autos wehrt, weil sie auf jeden Fall die Fahrzeugart »Auto« und damit den motorisierten Individual-Verkehr (MIV) erhalten möchte. Durch Strom gibt es eine Antriebswende, aber keine Verkehrswende. Die Autos werden größer, die Parkplätze knapper. Die Abhängigkeit von Stoffen wie Lithium wächst.
Das führte in der Großstadt Essen dazu, dass sonst heiß umkämpfte Parkplätze kommentarlos (auch von den Autofahrern ohne Murren) für die Reservierung von stundenlangem Aufladen der Elektro-Autos geopfert werden. Für Nutzer des ÖPNV, Fußgänger, Radfahrer, Eltern mit Kinderwagen und Rollstuhlfahrer war man hier nicht bereit, von fünfundzwanzig Parkplätzen auch nur fünf für den sinnvollen Umbau einer reinen Parkplatzanlage zu einem innerstädtischen Treffpunkt mit Aufenthaltscharakter zu opfern. Die vorgeschlagene (menschliche) Optimierung dieses Parkplatzes, der in einem großen, dem Zentrum der Stadt nahegelegenen und die im Krieg zerstörte »Altstadt« ersetzenden Stadtteil liegt, wurde durch die Mehrheit der regierenden bürgerlichen Parteien und durch die Mehrheit der anliegenden Kaufleute und Gastronomen abgelehnt.
Geplant war unter dem Begriff »Sternstunde« (der zentral gelegene Platz nebst Kreuzung und Umfeld hat insgesamt den Namen »Rüttenscheider Stern«), den Bürgern und Bürgerinnen, den Besuchern und Besucherinnen diesen Platz »zum Verweilen« zurückzugeben. Da dieser Stadtteil und die Renommiermeile »Rüttenscheider Straße« (Rü oder Französisch »Rue«) nicht nur vom Individualverkehr angefahren werden, sondern auch von einer Straßenbahnlinie und zwei U-Bahn-Linien direkt sowie von zwei Buslinien in erreichbarer Nähe, müsste selbstverständlich auch der Anteil der Bevölkerung, der den öffentlichen Nahverkehr nutzt, berücksichtigt werden. Dieser Anteil wird auf ungefähr fünfunddreißig Prozent geschätzt. Adäquat berücksichtigt wird er nicht
Die von einer großen Bürgerinitiative unter Mitarbeit zweier professioneller Architektinnen vorgelegten Pläne sahen statt eines öden Platzes mit fünfundzwanzig Parkbuchten einen Platz zum Versammeln vor – mit Baum-Arkaden, einer Grünfläche mit Lavendelstöcken, Ruhe-Inseln mit Sitzbänken, einer Pergola, einem kleinen Café, Fahrradständern und adäquater Beleuchtung. Zwanzig der vorhandenen Parkplätze sollten durch intelligente Straßenumgestaltung zusätzlich in einer Seitenstraße und die restlichen fünf in einem in der Nähe vorhandenen Parkhaus untergebracht werden. Dies geschah trotz aller Bemühungen und trotz allen Lobes nicht, obwohl die Stadt für das Jahr 2017 im zweiten Anlauf den begehrten Titel »Grüne Hauptstadt Europas« erhalten hatte.
Überlegungen, einen Teil der Stadt der Allmende wieder zurückzugeben, haben in anderen deutschen Städten und vor allem in anderen Ländern (z. B. den Niederlanden) längst Platz (sic!) gegriffen. Solche Planungen werden aber in hiesigen Breiten trotz teilweiser theoretischer Zustimmung nicht durchgeführt oder verhindert.
Durch die Wegnahme bzw. Vernichtung der Allmende (des der Allgemeinheit zur Verfügung stehenden Teils des öffentlichen Raumes) im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert wurden vor allem die kleinen Bauern, Kötter oder Leute ohne Land, aber mit Tieren, geschädigt. Durch so genannten »Einhegungen« eigneten sich Großgrundbesitzer das Land ohne Entschädigung an. Die verarmte Landbevölkerung stand dann der beginnenden Industrialisierung als Arbeiter und Arbeiterinnen in Bergwerken und Fabriken zur Verfügung. Diese Erscheinungen, von manchen Historikern als »Landraub« bezeichnet, haben im Endeffekt bis heute nicht aufgehört. Immer wieder und immer noch werden vormals öffentlich zugängliche Bereiche privatisiert und dem Gewinnstreben einzelner Firmen und Konzerne geopfert. Ein Beispiel dafür in Essen ist der Bau einer riesigen Einkaufsmall am »Limbecker Platz«, der nur dank Überlistung der beteiligten Bürgerschaft gelang und den eigentlichen Limbecker-Platz und den öffentlichen Zugang zur U-Bahn, eines Bereichs mit Bäumen und Bänken, vernichtete und privatisierte. Der damalige Lokalchef der Monopolzeitung WAZ (heute Funke Mediengruppe) war voll des Lobes über diese Veränderung. Wie dieser städtebauliche Koloss, der die Universität endgültig von der Stadt trennt, betrieben wird (als Immobilienfonds, der auswärts angesiedelt ist und seine Anteilseigner trotz Finanzkrise mit guten Erträgen bedient), ist den meisten Menschen in Essen nicht bewusst.
Möglicherweise ist die Verstädterung der westlichen Gesellschaften an einem kritischen Punkt angekommen. Allein die Probleme des individualisierten, motorisierten Verkehrs machen viele gutgemeinte Anstrengungen zur Belebung und Verschönerung der Städte zunichte. Der übersteigerte Bau von Einkaufszentren und Geschäften aller Art, wodurch die Wohnbevölkerung vertrieben wird und Stadtteile »sterben«, wird zunehmend kritisch gesehen. Überall greifen neue Bewegungen die Misere des Neoliberalismus auf urbanem Terrain an. Das »Recht auf die Stadt« wird gefordert, ob in Berlin, Hamburg, Duisburg, Wien, Durban, New York oder Istanbul. Im westkurdischen Rojava, in den Consejos Comunales Venezuelas oder den Juntas Vecinales in El Alto in Bolivien beginnen die Menschen in einem Ausmaß über ihre Belange selbst zu bestimmen, von dem wir Europäer nur träumen können. Lediglich leise Anklänge sind in Deutschland mit Urban Gardening, Car Sharing, Repair-Cafés und öffentlichen Bücherschränken zu finden.
Der im so genannten Westen herrschende bürgerliche Parlamentarismus hat sich, nicht nur aus finanziellen Gründen, der herrschenden Wirtschaftsform, dem Kapitalismus, untergeordnet. Dem setzen neue Ideen die Selbstverwaltung entgegen, die das Alltagsleben umfasst. Die Bewohner haben demnach nicht nur das Recht auf Wohnen, sondern auch das Recht auf Aneignung. Eigentlich müsste in einer echten Demokratie mit echter Mitbestimmung und echtem aufgeteilten Eigentum (an den Produktionsmitteln und dem öffentlichen Raum) die neue, moderne Allmende über die historische weit hinausgehen.
Das Gelände der Stadt dürfte nicht länger in den Händen privater Eigentümer liegen, es würde vergesellschaftet und nicht auf dem Markt verhandelbar sein. Die Bewohner würden in selbstbestimmten Organisationsformen über ihre Stadt und ihre Belange entscheiden können. Eine Bürgerinitiative mit kompetenten Mitgliedern und sachlich gut begründeten Anträgen und Planungen könnte eine Eingangsform dieser Art von sinnvoller, demokratischer und menschlicher Mitbestimmung sein – der Aneignung der eigenen Stadt, an der man mit plant und mitarbeitet.
Weil der neoliberalen Stadt mit ihren mehrheitlichen Entscheidungsträgern und Eigentümern das menschenwürdige Wohnen für alle nicht viel bedeutet, ist fast überall der soziale Wohnungsbau zurückgefahren worden. Für die Allgemeinheit bezahlbarer Wohnraum wird zunehmend knapper. Kleine Läden des täglichen Bedarfs haben es schwer, die steigenden Mieten zu bezahlen. Das Zentrum einer freien Stadt oder das Zentrum eines beliebten, belebten und viel frequentierten Stadtteils sollte kein Machtzentrum (oder ein öder Autoparkplatz) sein, sondern ein Ort der Begegnung und des Austauschs.
Möglicherweise ist die neue Migration, die Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts Westeuropa berührt und vielleicht sogar die EU ins Wanken bringt, ein Angriff auf die neoliberale Stadt. Ein großer Teil der Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens verlässt nur der Not wegen oder aus Todesangst ihr Land, und die Flüchtlinge aus den Staaten Afrikas entfliehen dem Hunger und der Unmöglichkeit einer Existenz. Der »reiche« Westen antwortet darauf mit einer Art Notstands-Urbanismus, mit Zelten und Wohncontainern und gleichzeitiger Verschärfung der Asylregeln durch die mit Mehrheit gewählten Politiker. Mit armen Flüchtlingen kann der Kapitalismus nicht viel anfangen, ausgenommen sie verdingen sich als Billiglöhner und Mindestlohnbrecher. Oder sie ersetzen Fachkräfte, die seltsamerweise bei uns nicht vorhanden zu sein scheinen.
Die weltweiten Migrationsbewegungen sind auch durch Klimaveränderungen und -probleme begründet. Internationale Klimakonferenzen, die meist nicht mehr als Showveranstaltungen sind, können ehrliche Ökologen, die auch Ahnung von Ökonomie haben (oder ehrliche Ökonomen, die auch Ahnung von Ökologie haben), nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass es einen »grünen« Kapitalismus nicht gibt. D. h., die Probleme, die das kapitalistische System erzeugt, können nicht durch Maßnahmen desselben Systems beseitigt werden.
Gegen das »Weiter so« macht sich – noch im Kleinen – Widerstand breit, der z. B. das Recht auf die Stadt, auf den eigenen Stadtteil einfordert. Unter dem Motto »La nuit debout – Aufrecht durch die Nacht« besetzte im April 2016 die französische Jugend Plätze in Paris und anderen französischen Städten. Auslöser war die Verschärfung der Arbeitsgesetze für abhängig Beschäftigte zu Gunsten der Arbeitgeber durch eine sich »sozialistisch« nennende Regierung, die längst in das rechte Lager übergewechselt ist. Aber es geht der Jugend – zu Recht – nicht nur um Arbeitsgesetze, sondern um das große Ganze. Es geht um ihr Land, um Europa, um den ganzen Planeten, auf dem nichts ist, wie es sein könnte und sollte. Diese Formulierung erinnert an eine Sentenz Friedrich Hegels: Denn nicht das, was ist, macht uns ungestüm und leidend, sondern dass es nicht ist, wie es sein soll. Die Jugend muckt auf gegen die faktische Aufkündigung der Menschenrechte durch die ältere Generation, ohne Ansehen der Parteien. Vielleicht ist die Parteiendemokratie überholt.