Ein Menetekel ist bekanntlich eine unheilverkündende Warnung, ein ernster Mahnruf oder ein Vorzeichen drohenden Unheils. Wer es sieht und seinen Kurs ändert, vermeidet das Unheil. Wer es ignoriert, gerät auf eine Rutschbahn nach unten oder nähert sich dem schmerzhaften Zusammenprall mit den von ihm – oder ihr – ignorierten Realitäten.
Ein solches Menetekel ist der Verkauf des Wärmepumpengeschäfts des hessischen Heizungsherstellers Viessmann an den US-amerikanischen Konzern Carrier, der in diesen Wochen und Monaten abgewickelt werden wird. Rund 12 Milliarden Euro werden dafür den Besitzer wechseln. Hohe Aufmerksamkeit hat das Geschäft vor allem deshalb erregt, weil es den heute anstelle nüchterner Analysen in Mode gekommenen grün-alternativen »Erzählungen« völlig zuwiderläuft. Die nämlich gehen ja so: Deutschland ist industriell führend vor allem im Bereich der Umwelttechnologie. Der anstehende Umbau der Weltwirtschaft auf CO-2-neutrale Technik wird die Nachfrage nach deutscher Technologie folglich massiv ansteigen lassen und so diesem Land Wachstumsraten bescheren wie zu Zeiten des (west-)deutschen Wirtschaftswunders nicht mehr. Die lagen damals bei acht Prozent. Der vollmundigste Wirtschaftsminister, den Deutschland je hatte, Robert Habeck von den »Grünen«, träumte denn auch in seiner Osteransprache von einer »kommenden wirtschaftlichen Prosperität«. Sowohl die Umrüstung weltweiter Autoflotten vom Verbrennungs- auf Elektroantrieb und von Millionen von Häusern auf Beheizung mit Strom, der aus regenerativen Quellen gespeist wird, würde das Label »Made in Germany« in die Welt tragen.
Die bis dahin schon auf dem Tisch liegenden Warnungen – so eine Art Vor-Menetekel – wurden geflissentlich ignoriert. Ähnlich sollte schon die Bepflasterung von Dächern mit Photovoltaikanlagen ablaufen. Auch da sollten zuerst auf deutschen Dächern, dann überall in der Welt die »Made in Germany«-Schildchen draufkleben. Das wurde nix – die deutschen Anbieter wurden vor allem von chinesischen Firmen, die dieselben Produkte billiger und besser anboten vom Markt gefetzt. Wer daraus immer noch nicht gelernt hat, sollte nach Wolfsburg oder Leverkusen schauen.
In Niedersachsen kämpft der früher einmal weltweit größte Autoproduzent inzwischen mit dem Mut der Verzweiflung gegen das Abrutschen in seinem größten Absatzmarkt, dem chinesischen. »Früher«, stellte am 14. April die großbürgerliche FAZ etwas zerknirscht fest, »war Volkswagen in China die unbestrittene Nummer ein. Doch jetzt sind die Marktanteile im freien Fall.« Das sei, sind sich nahezu alle Experten einig, vor allem darauf zurückzuführen, dass inzwischen nicht mehr deutsche (von US-amerikanischen, japanischen oder gar britischen Herstellern, die früher einmal Weltmärkte beherrschten, ganz zu schweigen) Ingenieure die Standards setzen. Stattdessen laufen sie Erfindungen und Entwicklungen hinterher, die von chinesischen Ingenieuren als Benchmark gesetzt werden.
Der Traum von der angeblich herausragenden deutschen Ingenieurskunst ist im letzten Jahr auch in Leverkusen, dem Herz der deutschen Chemieindustrie, geplatzt. Als Habeck und Co. im Februar den russischen Gas- und Öllieferanten ihr lautes »Nein danke!« entgegenbrüllten, verschwand der seit Jahrzehnten verlässliche Vorteil günstiger russischer Energieversorgung. Nun fantasiert Herr Habeck von 30 Milliarden, mit denen die deutsche »Grundstoffindustrie« in die Lage versetzt werden soll, den internationalen Nachteil hoher Strom- und sonstiger Energiekosten auszugleichen, um nicht von allen Märkten katapultiert zu werden. Sein Finanzminister sagt ihm, dass dieses Geld nicht da sei. Selbst wenn es da wäre: 30 Milliarden über sechs Jahre verteilt verzwergen vor den dreistelligen Milliardensummen, die – darauf läuft es nämlich im ökonomischen Kern hinaus – von Russland quasi als Subvention für die deutsche Chemieindustrie gegen ihre europäischen oder US-amerikanischen Konkurrenten seit den 1970er Jahren in Form von konkurrenzlos günstiger Energie gezahlt wurden.
Wer nicht lesen will, muss fühlen. Nun also Viessmann. Die Eigentümer verkaufen in die USA, weil sie nach China nicht verkaufen dürfen. Sie werden sich das Gewürge um die Minibeteiligung chinesischer Unternehmen an einem von vielen Hafenterminals in Hamburg genau angeschaut und ihre Schlüsse daraus gezogen haben: Die 12 Milliarden aus den USA fließen schnell – wer weiß, ob entsprechende Milliarden aus China überhaupt je geflossen wären. Die detaillierte Begründung der Familie Viessmann macht klar: Die Hauptkonkurrenten sitzen nicht jenseits des Atlantiks, sondern in Asien, vor allem in China. Dort entwickeln sich die Märkte so, dass die im Raum China/Indien/Vietnam/Russland erzielbaren Skaleneffekte – also Erträge aus der Herstellung eines Gutes in großer Zahl – die Möglichkeiten jedes europäischen Unternehmens weit übersteigen. Das sei, so Viessmann, nicht kompensierbar – also verkaufe man an den, der sich traut, dem noch die Stirn zu bieten.
In dieser abschüssigen Lage nun macht sich Deutschland auf, dem 11. Sanktionspaket zuzustimmen, das gegenwärtig von der EU-Kommission in Brüssel vorbereitet wird. Es sieht im Kern vor, die bisher von der EU als völkerrechtswidrig abgelehnten sogenannten Sekundärsanktionen zu verhängen. Gekappt werden danach nicht nur Wirtschaftsverbindungen nach Russland. Auf eine schwarze Liste gesetzt werden sollen nun auch zunächst acht chinesische High-Tech-Unternehmen, die Waren nach Russland liefern. Sie sollen vom EU-Markt ausgeschlossen werden – Schulter an Schulter mit den USA, die das für ihre Märkt tun. In der heute üblichen Schnoddrigkeit wurde das am 9. Mai, dem Tag des blutig errungenen Sieges der Völker der Welt über den deutschen Größenwahn verkündet. Am selben Tag reagierte darauf in Gegenwart der deutschen Außenministerin ihr chinesischer Amtskollege Qin Gang kurz und trocken, wenn es so käme, werde Chinas Reaktion »streng und entschlossen« sein.
Die Talfahrt der deutschen Industrie wird sich also fortsetzen. Die FAZ bejubelte – pikanterweise auch am 9. Mai – die Ankündigung von Sekundärsanktionen. Ihre Ablehnung sei ein »Tabu aus der untergehenden liberalen Epoche«. Diese »liberale Epoche«, die Epoche des freien Welthandels, hat Deutschland eine vorher nicht gekannte Prosperität gebracht, von der vor allem seine Reichen, aber als Brosamen-Empfänger vom reich gedeckten Tisch weltweit erzielter Profite auch seine nicht ganz so reichen Menschen gezehrt haben. Diese Epoche geht nun nach dem Willen der Herrschenden zu Ende – es beginnt eine Epoche des Kampfes der Mächte des 19. Jahrhunderts (Westeuropa und USA) gegen die Mächte des 21. Jahrhunderts, die Staaten des BRICS-Verbundes, also Brasilien, Russland, Indien, China (Süd-)Afrika und vieler sich zunehmend an ihnen orientierender Nationen.
Das Menetekel Viessmann leuchtet an der Wand. Es macht deutlich: Es ist Wille der herrschenden Politik, das Schicksal dieses Landes nicht an die aufstrebenden, sondern an die absteigenden Mächte zu knüpfen. Ist das auch der Wille der Beherrschten?