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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das Märchen vom lieben Gott

Ange­sichts der Schrecken des 1. Welt­kriegs rich­te­te der Worps­we­der Künst­ler Hein­rich Voge­l­er im Janu­ar 1918 in einem offe­nen Brief die­sen berühmt gewor­de­nen Frie­den­ap­pell an den Kai­ser, der eine neue Lek­tü­re ver­dient, weil er heu­te so aktu­ell erscheint wie ehe­dem. Voge­l­er ris­kier­te dafür die Todes­stra­fe, rech­ne­te fest mit sei­ner Erschie­ßung, kam aber – wohl wegen sei­ner Pro­mi­nenz – »glimpf­lich« davon und lan­de­te »ledig­lich« für gut zwei Mona­te im Irrenhaus.

Schon lang, als das Jahr 1917 dem Ende zuging, sah man in Deutsch­land über­all die selt­sam­sten Erschei­nun­gen am Him­mel und unter den Men­schen. Das Merk­wür­di­ge aber war, dass am Spät­nach­mit­tag des 24. Dezem­ber auf dem Pots­da­mer Platz von vie­len Men­schen der lie­be Gott gese­hen wor­den ist. Ein alter trau­ri­ger Mann ver­teil­te Flug­blät­ter. Oben stand: Frie­de auf Erden und den Men­schen ein Wohl­ge­fal­len, und dar­un­ter in lapi­da­rer Schrift die zehn Gebo­te. Der Mann wur­de von den Schutz­leu­ten auf­ge­grif­fen, vom Ober­kom­man­do der Mar­ken wegen Lan­des­ver­rat stand­recht­lich erschos­sen. Eini­ge Auf­neh­mer des Flug­blat­tes, die die Wor­te des alten Man­nes ver­tei­dig­ten, kamen ins Irrenhaus.

Gott war tot.

Ein paar Tage dar­auf waren unse­re gro­ßen Feld­herrn nach Ber­lin gekom­men, mit der festen Absicht, durch Wort und Tat die Welt von Elend und Blut zu erlö­sen. So kamen sie mit den Ver­tre­tern der Frie­dens­kon­fe­renz zusam­men. Sie kamen über­ein, die Welt mit dem Schwer­te in der Hand vor sich in die Knie zu zwin­gen, erho­ben sich sel­ber zum blut­trie­fen­den Göt­zen, aus des­sen selbst­herr­li­cher Hand die Mensch­heit ihre Geset­ze emp­fan­gen soll­te. Da sahen sie plötz­lich, wie der tot­ge­glaub­te Mann vom Pots­da­mer Platz mit­ten unter ihnen stand und stumm auf sei­ne zehn Gebo­te wies. Aber nie­mand woll­te die ärm­li­che Erschei­nung ken­nen. Da gab er sich zu erken­nen und war fast sei­nes Tri­um­phes froh, denn er glaub­te ja an die Mensch­heit. Der Kai­ser und die Feld­herrn führ­ten sei­nen Namen in ihren Tele­gram­men, die Krie­ger tru­gen ihn auf dem Bau­che, die Feld­pre­di­ger hat­ten die schwer­sten Ver­bre­chen der Mensch­heit durch sei­nen Namen gehei­ligt. Da aber sah Gott, dass man ihn gar nicht ken­nen woll­te, dass man von ihm sich nur eine prun­ken­de Form, eine Uni­form behal­ten hat­te, und aus der glotz­te das gol­de­ne Kalb und beherrsch­te die Welt.

Da ver­ließ Gott die Frie­dens­ver­samm­lung und mach­te den orden­best­ern­ten Göt­zen Platz, denn Gott will nicht sie­gen, Gott ist.

Die Göt­zen aber führ­ten das Volk immer tie­fer ins Elend und erweck­ten wei­ter Hass, Bit­ter­nis, Zer­stö­rung und Tod, und wie sie nichts mehr hat­ten außer ble­cher­nen Schmuck­ster­nen und Kreu­zen, ver­schenk­ten sie das gestoh­le­ne Gut ihren Völ­kern. Da ging Gott zu denen, die zusam­men­ge­bro­chen waren unter der Bür­de der Lei­den, unter Hass und Lügen: Es gibt über euren Göt­zen einen Gott, es gibt über eurem Fah­nen­eid mei­ne ewi­gen Geset­ze. Es gibt über eurem Hass die Liebe.

Da gaben die Krüp­pel ihre blut­stin­ken­den grau­en Klei­der, ihre Orden und Ehren­zei­chen zurück an den Gott des Mam­mons, gin­gen unter das Volk und ent­hei­lig­ten die Mord­waf­fen und ver­nich­te­ten sie. Gott aber ging zum Kai­ser: Du bist Skla­ve des Scheins. Wer­de Herr des Lich­tes, indem du der Wahr­heit dienst und die Lüge erkennst. Ver­nich­te die Gren­zen, sei der Mensch­heit Füh­rer. Erken­ne die Eitel­keit des Wir­kens. Sei Frie­dens­fürst, set­ze an die Stel­le des Wor­tes die Tat, Demut an die Stel­le der Sie­ge­rei­tel­keit, Wahr­heit anstatt Lüge, Auf­bau anstatt Zer­stö­rung. In die Knie vor der Lie­be Got­tes, sei Erlö­ser, habe die Kraft des Die­nens Kaiser!