Ein Buch über Arbeit – nein, über das Gegenteil: Arbeitslosigkeit. Die Autorin, Anna Mayr, Kind arbeitsloser Eltern, die Hartz IV beziehen, ist im Ruhrgebiet aufgewachsen, kennt das, worüber sie schreibt, genau. Sie vermeidet das Wort arm nicht, das oft umschrieben wird als »sozial schwach«. Heute ist sie Zeit-Redakteurin. Sie schildert ihren ersten Praktikumstag beim Zeit-Magazin. Konferenz. Besprechung der Titelgeschichte: »Der Weg aus der Armut«. Gespräch mit einer Wissenschaftlerin. Anna Mayr sah nur das Titelbild: ein dunkles Loch, eine Leiter ragte daraus hervor. Außen alles hell. »Das ist also das Loch, aus dem ich eurer Meinung nach gekrochen bin«, dachte sie. Dachte. Hätte sie etwas gesagt, sie wäre »von da an die Hartz-IV-Praktikantin gewesen«, auch »die mit den Eltern«. Und was sie da schon wusste: »Hartz-IV-Empfänger sind eben […] nicht die Zielgruppe des Zeit-Magazin«, passen nicht zum Werbeumfeld.
Ein Wort, das sie nicht mag: Chancengerechtigkeit, ein Begriff, der verschleiert. Eine Chance ist am Ende »auch nur ein Almosen«. Wer eine Chance nicht nutzt, gilt als Versager. So ist der Aufsteiger hierzulande immer noch »eine Überraschung, eine Ausnahme von der Regel«. Und ein Satz aus ihrem Arbeitsumfeld: »Du hast dich ja wirklich an den Haaren aus dem Sumpf gezogen!« – so ein mitleidiger Redakteur nach Veröffentlichung eines Textes von ihr. Nein, aus einem Sumpf kommt sie nicht, aus einem Haushalt mit liebenden Eltern. Mayr: »Ich bin lieber in Armut aufgewachsen als in einer sozial schwachen Familie.« Von »sozial stark« redet niemand.
Der Arbeitslose wird durch das definiert, was er nicht hat. Die Autorin erinnert sich an die Frage, die in der Schule an sie gestellt wurde: »Bist du katholisch oder evangelisch?« Wenn sie darauf »nichts« antwortete, waren alle verwirrt. Und was arbeiten deine Eltern? Wieder: »nichts«. Anna Mayr stellt fest: »Wir haben gelernt, uns vor dem Nichts zu fürchten.« Sie lotet das Thema aus: die Entwürdigung, die Arbeitslose in Jobcentern erfahren, nicht nur Bürokratie. Es heißt, sich das Wünschen abzugewöhnen – bis zum Nicht-mehr-Wissen, was man wollen darf. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die Deklassierungsgefühle nach sich ziehen. Als »Sozialschmarotzer« beschimpft zu werden, obwohl, wie Mayr feststellt, der Kapitalismus die Arbeitslosen als »Ressourcen« braucht, als billig einkaufbare Reservearbeiter, die nicht aufzubegehren wagen. Das Selbstbewusstsein ist ihnen von Anfang an ausgetrieben worden. Sie fühlen sich nicht berechtigt, irgendetwas für sich zu fordern. So fehlen ihnen später auch die Kontakte, die so wichtig sind für die Karriere. Arbeitslose leben in dauerhafter sozialer Isolation. Was verleiht einem Menschen Wert? Nur die Berufsbezeichnung? Eine echte Chancengleichheit gibt es nicht, weiß die Autorin. Lernen im eigenen Zimmer, ungestört? Und die vielen kleinen Dinge, die das Leben erleichtern oder nur verschönern – ausgeschlossen, nur daran zu denken.
Vererbtes Wohneigentum gibt es oft. Vererbte Arbeitslosigkeit? Jobcenter sprechen von »Arbeitslosen-Adel«. Eine Reportage, erschienen in der Zeit Anfang 2019, trieb Anna Mayr »Tränen« in die Augen. Zwei Reporter, unterstützt von einer Sozialarbeiterin, die es gut meinte, schrieben über eine Familie, in der mehrere Generationen von Hartz IV leben. »Der Adel ist schon in zweiter Generation arbeitslos […] weniger mit Vorsatz, eher als Wesensmerkmal. Vererbte Arbeitslosigkeit.« Es ging um zwei Menschen, die als teilweise behindert galten, die »nie eine Chance hatten, jemals ein würdevolles Leben zu führen«, stellt die Autorin klar. Sie telefonierte mit einem der Kollegen, sagte ihm, dass er »die Schuld im Schicksal der Einzelnen gesucht habe, nicht im System«. Menschen als »arme Würstchen« und als »Hilflose«, nicht als Unterdrückte. Anna Mayr erklärte, dass sie gar nichts verstanden hätten. Ihre Wut lag an der Gewissheit, dass sie »nicht nur in einer Redaktion die Deutungshoheit hatten«, in der auch sie arbeitete, »sondern auch im Leben meiner Eltern, in dem Viertel, aus dem ich komme und in dem lauter Menschen leben, die die Reporter mitleidig als Arbeitslosen-Adel bezeichnen würden«.
Die Autorin grub in der Geschichte, die noch andauert. Sie entdeckte, dass am 16. August 2002 im Berliner Dom ein wichtiges Ereignis stattfand. In sakralem Umfeld präsentierte die Hartz-Kommission ihren Abschlussbericht, in dem Unternehmensberater das Sagen hatten. Gerhard Schröder spielt eine wichtige Rolle, überhaupt die SPD. Warum gerade sie? Weil sich mit dieser Partei einmal das Soziale verband. Die Autorin stammt aus einer Hochburg der SPD – früher. Mayr über die SPD heute: Sie müsste es schaffen, »die Furcht vor dem Begriff ›Sozialismus‹ abzulegen«. Die Frage, »ob sich Umverteilung nicht radikaler denken ließe«, wer so denkt, »solle nicht den Kopf einziehen, sobald als Gegenargument die Schrecken des vormals real existierenden Sozialismus aufgezählt werden«. Denn, die »Forderung nach Errichtung von Gulags« hat nichts zu tun mit der »Frage nach der Moral gewisser Vermögenswerte«.
Steuerhinterziehungen rechnet Anna Mayr in Hartz-IV-Sätze um – so bei Fußballfunktionär Uli Hoeneß, der 28,5 Millionen Euro hinterzog.
Zum Schluss sind wir im Jahr 2020 angelangt. Auch beim Coronavirus und den weltweiten Auswirkungen, besonders auf die Schwächsten der Gesellschaft. »Durch die Pandemie«, schreibt die Autorin, »sind die Ungerechtigkeiten so wahnsinnig offensichtlich geworden, dass es fast grotesk ist, wie sie sich vorher verbergen ließen.« Bildung und Chancen seien nichts wert, wenn sie auf Armut treffen, dagegen helfe nur Geld. Wenn sie nach dem Abitur nicht Stipendien bekommen hätte – dieses Buch wäre nie geschrieben worden, glaubt sie. Und nun diese Krise, die auch Zeitungen trifft. Keine Anzeigen mehr, keine Veranstaltungen. Viele ihrer Kollegen und Kolleginnen bangen um ihren Job. »Die Angst vor dem Nichts«, sie ist ihr jetzt »so nah wie nie«. Ihre Angst ist privilegiert. Sie wird nicht hungern und noch genug zu schreiben haben. Sie erkennt, dass Texte allein nicht ausreichen. »Um die Welt zu verändern, braucht man Politik.«
Nachtrag: Am 20. August stand in der Zeit in der Rubrik: »Was mein Leben reicher macht« der Brief einer Leserin aus Sachsen. »Dass es in Deutschland eine Arbeitslosenversicherung gibt – und dass ich trotz Arbeitslosigkeit krankenversichert bin (anders als mein bedauernswerter Brieffreund in Amerika). Vielen Dank an alle, die arbeiten und dafür sorgen, dass ich jetzt nicht von Existenzängsten geplagt werde. Bestimmt werde ich bald auch wieder arbeiten gehen dürfen.«
Anna Mayr: »Die Elenden«, Hanser Berlin, 206 Seiten, 20 €