Wenn ein Mensch, der nicht nur seiner Familie und Freunden viel bedeutet, sondern darüber hinaus Geltung in der Öffentlichkeit erlangt hat, diese Welt verlässt, was ist von dem ihm gewidmeten Nachrufen zu erwarten? Dass sie den Toten würdigen, seinen Verlust beklagen, vielleicht sogar, dass sie sein Leben und Wesen treffend zusammenfassen.
Dieter Frielinghaus, Pfarrer i. R., ist im Mai im brandenburgischen Brüssow gestorben. Es erschienen Nachrufe im nd, dem früheren Neuen Deutschland und in der Tageszeitung junge Welt.
Von den theologischen Grundsätzen und der Glaubensart eines französisch reformierten Pastors wussten sie ebenso zu berichten wie von seiner Verbindung zum Marxismus; das mag Außenstehenden seltsam erscheinen.
Im Juli brachte die Wochenzeitung Unsere Zeit (DKP) einen von Arnold Schölzel eingeleiteten Nachdruck eines Textes von Dieter Frielinghaus aus dem Jahr 1990, in dem es um die Haltung linker Christen zur DDR ging.
So wurde in den verschiedenen Nachrufen ein sachlicher Abriss der politischen Arbeit des Verstorbenen zusammengestellt, sein unermüdlicher Kampf gegen den Krieg und die Kriegstreiber und gegen die kapitalistische Gesellschaft, die immer wieder neue Kriege erzeugt, wurde hervorgehoben.
Mir scheint jedoch, dass da noch etwas hinzuzufügen ist: Mit ihm ist nicht nur ein kommunistischer Pfarrer gegangen, der zeit seines Lebens für Frieden und Sozialismus gekämpft hat. Mit ihm ist ein Mensch gegangen, der seinesgleichen suchte, aber nur selten (oder gar nicht) fand. Hochgebildet, hochbegabt, ausgestattet mit feinem Sprachgefühl und psychologischem Verständnis, geistreich und humorvoll, spröde und leidenschaftlich, liebenswürdig und schroff, war er nicht zuletzt bescheiden in einer Weise, die schon wieder an Hochmut grenzte.
So liegt er jetzt anonym begraben auf dem Brüssower Friedhof, noch im Tod bescheidener und damit anmaßender, als es irdischer Liebe zumutbar ist.
Eine Pflichtübung im Gedenken gerät unversehens in ein schreiendes Missverhältnis zu dem Verlust, um den es geht: dem eines außergewöhnlichen Menschen. Eines Wesens, das eher von einem anderen Stern hergekommen sein mochte als ausgerechnet aus der niedersächsischen Provinz. Eines Mannes, der, so gegenwartsverhaftet und durch die Lektüre diverser Tageszeitungen politisch umfassend informiert er war, doch einem anderen Jahrhundert anzugehören schien, und der ebenso gut an einem französischen Adelshof wie in einem britischen Herrenclub hätte bestehen können, nicht nur vermöge der dazu notwendigen Sprachkenntnisse, über die er neben dem obligatorischen Griechisch, Hebräisch und Latein des Theologen verfügte.
Der in Villen oder sogar Palästen hätte residieren können, es aber vorzog, sich an die Hütten und die einfachen Menschen zu halten und selbst fast ohne Komfort zu leben. Er war auf die volkstümlichste Weise Individualist.
Verschiedene glänzende Karrieren hätten ihm offen gestanden. Zunächst eine als Konzertpianist – er war bereits erfolgreich öffentlich aufgetreten –, dann, nach seiner Göttinger Promotion in Theologie, natürlich die wissenschaftliche- theologische, die ihm in der DDR erneut angeboten wurde; aber auch die philologische Richtung wäre ihm nahe gewesen, ähnlich wie seinem Bruder Helmut, dem Übersetzer aus dem Englischen und hervorragenden Lektor.
Zuletzt, nach der »Wende«, winkte dem Mittsechziger eine politische Laufbahn etwa als Landtags- oder Bundestagsabgeordneter der damaligen Partei des Demokratischen Sozialismus. Zudem hätte er sich jederzeit als Buchautor und Redner in Szene setzen können.
Auf all dies hat Dieter Frielinghaus ganz bewusst verzichtet, inklusive der damit verbundenen sozialen Anerkennung und der materiellen Vergütung. Selbst aus der wohlsituierten Dresdner Gemeinde, die er zunächst betreut hatte, zog er sich zurück, um in ein bescheidenes Dorf in der Uckermark, gewissermaßen in die Verbannung, nach dem Verständnis seiner Verwandten »nach Polen« zu gehen. Ohne seine Frau Gisela, eine studierte Hamburger Juristin, die zum Glück über mehr praktisches Geschick und Pragmatismus als ihr Mann verfügte, wäre das nicht möglich gewesen.
Unvergesslich die Atmosphäre im Pfarrhaus in Bergholz: ruhig, harmonisch, entspannt, oft lustig, immer lebendig und gedankenvoll. Die Kinder des Ehepaars, alle drei sehr verschieden, suchten sich eigensinnig ihren Weg und fanden ihn fernab der Eltern, ihnen doch immer nahe und verbunden vor allem in grundsätzlichen politischen Überzeugungen.
Dabei herrschte im Hause F. kein biedermeierliches Idyll. Schriftsteller wie Dieter Lattmann und Armin Stolper, die die Familie kennenlernten, versuchten sich an literarischen Schilderungen in diesem Sinn. Sie gerieten unzureichend, um nicht zu sagen, enttäuschend. Vielleicht wäre Thomas Mann, den Dieter F. nicht zuletzt wegen seiner »Reden an die Deutschen« und der Warnung vor der Torheit des Antikommunismus schätzte, dazu imstande gewesen.
Dieter Frielinghaus hat an sozialer und politischer Arbeit geleistet, was er vermochte, zweifellos bis zur völligen Erschöpfung. Trotz seiner Bitterkeit über die aktuell politische Situation, da der Weltfrieden so bedroht ist wie lange nicht, und obwohl er sich stets vorwarf, nicht genug getan zu haben, muss er in Erinnerung bleiben als jemand, der bei aller entschlossenen Diesseitigkeit nicht ganz von dieser Welt war, der irdisch, sogar plebejisch sein wollte, aber unverkennbar – intellektuell, moralisch und religiös – »über den Dingen« stand, in die er sich unverdrossen immer wieder einbrachte und einmischte.
Ungeachtet der Trauer, der Verzweiflung und der gnadenlosen Härte, die sein Tod mit sich bringt, ist in diesem Zusammenhang passend von dem Licht zu reden, das in der Finsternis geschienen hat und weiter scheint, »und die Finsternis hat es nicht begriffen«.
Es bleibt sein Vermächtnis über den Tod hinaus.