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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das LenkMal in Stuttgart

Am 23. Sep­tem­ber ent­schie­den die Stadt­obe­ren in Stutt­gart wie folgt: Die mehr als elf Meter hohe Skulp­tur des Bild­hau­ers Peter Lenk »Schwä­bi­scher Lao­ko­on« wird zur Auf­stel­lung im Zen­trum der Stadt – am Stadt­pa­lais – zuge­las­sen. Es han­delt sich um eine bis zum 31. März 2021 befri­ste­te Auf­stel­lung. Wo die Skulp­tur danach plat­ziert wer­den wird, wird sich her­aus­stel­len. Im Fall ver­gleich­ba­rer Vor­ha­ben der Lenk’schen Kunst­wer­ke fand sich spä­ter an ande­rer Stel­le ein wür­di­ger Platz.

Peter Lenk wur­de einer grö­ße­ren Öffent­lich­keit in den 1990er Jah­ren durch die Sta­tue »Impe­ria« bekannt. Wer sich mit dem Schiff, von Meers­burg oder von der Insel Main­au kom­mend, der Stadt Kon­stanz nähert – und die Schiffs­rei­se ist drin­gend zu emp­feh­len –, den begrüßt die zehn Meter hohe Skulp­tur bei der Hafen­ein­fahrt. Es han­delt sich um die Dar­stel­lung einer Kur­ti­sa­ne, die in der einen Hand ein Schrum­pel-Päpst­lein und in der ande­ren einen Hut­zel-Kai­ser hält. Sie erin­nert an das Kon­zil in Kon­stanz 1414 bis 1418, einen Höhe­punkt der mit­tel­al­ter­li­chen Amts­kir­che mit vie­len öffent­li­chen Damen und der öffent­li­chen Ver­bren­nung des arg­los ange­rei­sten »Ket­zers« Jan Hus, grell­bunt beschrie­ben von Hono­ré de Bal­zac als Teil sei­ner »Toll­drei­sten Geschich­ten«. Lenk hat die Sta­tue 1993 in einer Nacht-und-Nebel-Akti­on – ohne Geneh­mi­gung – auf der Hafen­mau­er plat­zie­ren las­sen. Trotz mas­si­ver Pro­te­ste der Obrig­keit und eines sich zustän­dig und betrof­fen füh­len­den Bischofs ist die Sta­tue längst zum Wahr­zei­chen der Stadt Kon­stanz gewor­den, in jedem Jahr von Hun­dert­tau­sen­den Tou­ri­stin­nen und Tou­ri­sten bewun­dert. Inzwi­schen gibt es ein Dut­zend Städ­te, über­wie­gend im badi­schen Teil des Boden­see-Raums, mit – oft hoch­po­li­ti­schen – Lenk’schen Wer­ken, dar­un­ter die »Glo­bal Play­ers« in Lud­wigs­ha­fen am Boden­see oder »Das Nar­ren­schiff« in Bodman.

Und was lag da näher als ein Lenk­Mal, das das größ­te Infra­struk­tur-Pro­jekt in Deutsch­land und den brei­ten zivil­ge­sell­schaft­li­chen Wider­stand gegen das­sel­be zum The­ma hat? Seit Mit­te 2018 arbei­tet Lenk an einem Kunst­werk zu Stutt­gart 21. Im Janu­ar 2019 initi­ier­te ich eine Spen­den­samm­lung zur Finan­zie­rung des Pro­jekts. Inzwi­schen kam mit rund 120.000 Euro ein Betrag zusam­men, der weit­ge­hend die Mate­ri­al­ko­sten und die Aus­ga­ben für Fremd­ar­beit deckt.

Denn eines war klar: Die Obe­ren in Baden-Würt­tem­berg und in der Lan­des­haupt­stadt Stutt­gart, die in den Posi­tio­nen Mini­ster­prä­si­dent, Lan­des­ver­kehrs­mi­ni­ster und Stutt­gar­ter Ober­bür­ger­mei­ster der Par­tei Die Grü­nen ange­hö­ren, wür­den ein sol­ches Lenk­Mal mit der lan­des­ty­pi­schen Begrün­dung »Mer gäbet nix« ableh­nen. Vor einem Jahr­zehnt als S21-Kri­ti­ker in die­se Ämter gewählt, sind sie inzwi­schen mit dar­an betei­ligt, das stadt­zer­stö­re­ri­sche und den Bahn­ver­kehr ein­engen­de Pro­jekt umzu­set­zen. Nach­dem nun das Kunst­werk – ein nack­ter »Schwä­bi­scher Lao­ko­on«, von dem es heißt, er wür­de den MP Kret­sch­mann dar­stel­len, über dem sich mehr als zwei Dut­zend Figu­ren der Nomen­kla­tur tum­meln, die für Stutt­gart 21 mit­ver­ant­wort­lich sind (dar­un­ter Map­pus, Rom­mel, Geiß­ler, Meh­dorn), – weit­ge­hend voll­endet ist, befan­den sich die Stadt­obe­ren in Erklä­rungs­not. Soll­ten sie es ableh­nen, das Werk in Stutt­gart selbst zur Schau zu stel­len, und sich damit bun­des­weit dem Gespött preis­ge­ben? Oder soll­ten sie unter Ver­weis auf die Frei­heit von Kunst dem Tief­la­der mit dem S21-Kunst­werk grü­nes Licht signa­li­sie­ren? Sie ent­schie­den sich für einen Zwi­schen­weg: Lenk darf sei­nen »Schwä­bi­schen Lao­ko­on« zwar noch im Okto­ber vor dem Stadt­pa­lais plat­zie­ren. Das – ins­ge­samt mehr als elf Meter hohe Werk – soll jedoch zusam­men mit zwei ande­ren Skulp­tu­ren prä­sen­tiert wer­den. Man darf gespannt sein, wel­che Dar­stel­lung den ersten Preis in die­sem absur­den Wett­be­werb in Sachen Auf­merk­sam­keits­öko­no­mie erhält.

Die Stadt­obe­ren wer­den die Ange­le­gen­heit mit Ver­weis auf »Sati­re darf (fast) alles« zu baga­tel­li­sie­ren ver­su­chen. Doch es han­delt sich um einen hoch­po­li­ti­schen Vor­gang. In die­sen Tagen beginnt der offi­zi­el­le Wahl­kampf um das Amt des Ober­bür­ger­mei­sters der Lan­des­haupt­stadt. Der aktu­el­le OB, Fritz Kuhn, blickt auf eine äußerst dürf­ti­ge Bilanz; er tritt nicht mehr an. Das Infra­struk­tur­pro­jekt S21 ent­wickelt sich immer mehr zu einem finan­zi­el­len und ver­kehrs­po­li­ti­schen Desa­ster. Gera­de erst wur­de ein (seit einem Jahr unter Ver­schluss gehal­te­ner) Prüf­be­richt des Bun­des­rech­nungs­hofs publik, in dem wört­lich zu lesen ist: Das Bun­des­mi­ni­ste­ri­um für Ver­kehr »hält das Pro­jekt S21 nicht mehr für ver­kehrs­be­deut­sam«. Zehn und mehr Mil­li­ar­den Euro an Steu­er­gel­dern für ein »nicht bedeut­sa­mes« Ver­kehrs­pro­jekt? Und dann gibt es die aktu­el­len und die noch zu erwar­ten­den Medi­en­be­rich­te anläss­lich von »Zehn Jah­re Schwar­zer Don­ners­tag« (am 30. Sep­tem­ber 2010 gab es den bru­ta­len Poli­zei­an­griff auf fried­lich demon­strie­ren­de Jugend­li­che im Stutt­gar­ter Schloss­gar­ten) und zu »Zehn Jah­re (mani­pu­la­ti­ve) Geißler-S21-Schlichtung«.

Stutt­gart ist eine Rei­se wert. Oder zumin­dest einen Zwi­schen­stopp. Es gibt aktu­ell drei Sehens­wür­dig­kei­ten, die man sich dort nicht ent­ge­hen las­sen soll­te: Erstens, nach dem Aus­stei­gen aus dem ICE, eini­ge tie­fe Ein­blicke in die Art und Wei­se, wie hier seit einem Jahr­zehnt das stadt- und bahn­hof­zer­stö­re­ri­sche Werk vor­an­ge­trie­ben wird – nebst Gang durch die seit einem Jahr weit­ge­hend ent­kern­te Haupt­hal­le des »eigent­lich« unter Denk­mal­schutz ste­hen­den Bahn­hofs­ge­bäu­des, des »Bonatz-Baus«, in dem ein Vier-Ster­ne-Hotel errich­tet wer­den soll. Als Groß­in­ve­stor mit dabei: der Schwei­ne­prie­ster Tön­nies. Zwei­tens – ab Mit­te Okto­ber – besag­tes Lenk­Mal am Stadt­pa­lais (Char­lot­ten­platz; Stadt­mu­se­um). Und drit­tens das seit zehn Jah­ren Tag und Nacht – rund um die Uhr – besetz­te Mahn­wa­chen-Zelt gegen­über vom Haupt­bahn­hof – als leben­di­ge Ein­rich­tung, die, zusam­men mit den an jedem Mon­tag um 18 Uhr statt­fin­den­den Mon­tags-Demos, den zivil­ge­sell­schaft­li­chen Wider­stand gegen Stutt­gart 21 dokumentiert.

 

Infos: Web­site: www.lenk-in-stuttgart.de, Spen­den­kon­to: MBS/​BFS e.V., IBAN DE04 1605 0000 3527 0018 66. Wer min­de­stens 75 Euro spen­det, bekommt – wenn gewünscht – ent­we­der Peter Lenks Bild­band »Skulp­tu­ren: Bil­der. Brie­fe, Kom­men­ta­re« oder das Buch von Win­fried Wolf »abgrund­tief + boden­los. Stutt­gart 21, sein abseh­ba­res Schei­tern und die Kul­tur des Wider­stands« zuge­sandt. Jeweils mit Wid­mung des Autors.