Man kann es hören und lesen. Gehabter Nazi-Antisemitismus soll im Land DDR gefördert worden sein und ungehemmt weitergelebt haben. Die offizielle Distanz zum Zionismus habe das Land zum Gegner israelischer Staatspolitik gemacht. Ein Feindbild Israel habe das Wunschbild einer zu allem Jüdischen feindseligen DDR erzeugt. Und die Bevölkerung habe sich offenbar genau damit identifiziert. Eine schockierend schlichte Logik. Genauso schlichte Antwort: Das kann doch nicht wahr sein.
Am 23. Februar 2019 meinte Der Tagesspiegel vom Antisemitismus als »Wirkungsmächtiges Erbe der DDR« sprechen zu dürfen. Was stand da schwarz auf weiß? »Antisemitische Bilder wurden durch antizionistische Darbietungen eingeübt und fixiert.« Und: »Jugendliche wurden von Zeitschriften indoktriniert.« Nanu – antijüdische Feindbilder bis hinein in Atze oder Mosaik? Oder: »Anti-semitische Unterwanderungs- und Verschwörungstheorien waren im Umgang mit der jüdischen Minderheit üblich.« Oder: »Innenpolitisch bildeten Juden keine relevante Größe, die Rücksichtnahme erfordert hätte.« Starker Tobak.
Von wem werden solche Sätze heute nicht nur in die Welt des Tagesspiegel gesetzt? Der Name des als integrer Kenner der Materie hundertfach ausgewiesenen Experten Wolfgang Benz steht für Seriosität – und dennoch da als Verfasser dieses Textes. Opfer des Faschismus sind zu ehren – dieser Grundkonsens der DDR-Gesellschaft ist Benz geläufig. Er mag noch so viele berechtigte oder unberechtigte Vorbehalte gegen diese Gesellschaft haben. An der Grundtatsache kommt er nicht vorbei, dass im öffentlichen Leben der DDR Personen mit jüdischem Background anzutreffen waren. Inwieweit es in viel stärkerem Maße als in der Bundesrepublik der Fall war, bleibt dahingestellt. Sie oder ihre Ehepartnerinnen flankierten ganz deutlich eine Elitenbildung der besonderen Art. Sie fielen lediglich durch Leistung oder Haltung auf. Sie selbst sahen sich als gleichberechtigte Mitbürger, unterschieden nur durch ihre aus Herkunft und Verfolgung resultierende Biografie.
Von den Überlebenden des Holocaust, der alle Juden zu vernichten suchte, machte eine große Anzahl das Gebiet der SBZ und später der DDR zu ihrer Heimat. Politisch sowieso traditionell links, gaben sie leidenschaftlich, aber stets skeptisch Genossinnen und Genossen. In der Gesellschaft der DDR war das religiöse oder konfessionelle Bekenntnis grundsätzlich in keiner Weise bestimmend. Da die meisten von denen, die hier zur Debatte stehen, im universitären und künstlerischen Milieu sowie in den Massenmedien tätig waren, hatte ein großer Teil der Bevölkerung mit ihnen Kontakt. Hätte es Anzeichen feindseliger rassistischer Abwertung gegeben, wäre das sofort aufgefallen. Bezeichnend ist die allgemein zu hörende Feststellung »Juden und Jüdinnen? Das ist uns ja gar nicht bewusst gewesen …« Offensichtlich hat ein kollegial freundliches Miteinander irgendeine Distanz gar nicht aufkommen lassen.
Wie das nach allem Vorangegangenen funktionierte, war fast ein Wunder.
Wenn die prominenten Politbüromitglieder Albert Norden und Hermann Axen agierten, waren sie selbst Holocaust-Betroffene. Die Attacke auf Adenauers Staatssekretär-Intimus Hans Globke als Kommentator der Nürnberger Rassegesetze konnte aus keinem berufeneren Mund kommen als dem des Rabbinersohns Norden. Gegen Schonung von Judenmördern im Westen wurden die Schlagzeilen des ND vom Auschwitz-Überlebenden Axen als Chefredakteur veranlasst. Als der Auschwitz-Prozess dann endlich zustande kam, war es ein Topjurist wie Friedrich Karl Kaul seiner jüdischen Mutter schuldig, als Nebenkläger des Ostens in Frankfurt am Main alle möglichen Rechtsmittel auszureizen.
Inzwischen ist das Thema Antisemitismus in oft genug ganz unchristlich sowie unjüdisch hitziger Debatte ein so aufgeheizt heißes Eisen, dass besonders Linke jede Berührung damit panisch meiden. Daher rührt eine extreme ideologische Reizbarkeit. Der stattfindende Alarmismus ist meist irreführend. Eine schlichtweg alle menschlichen Lebenszeichen erfassende Betrachtung ist angebracht.
Was ich zeitlebens erlebt habe, war nämlich etwas ganz anderes. Ich muss es beschreiben. Als bereits 14 Jahre unter Nazi-Ideologie Aufgewachsener weckte der verordnete Judenhass früh meine Neugier darauf, woher das kam. Dass mein Vater Walther Rathenau verehrte, war mir vertraut. Doch Bücher jüdischer Autoren mied er offenbar. Als ich 1937 in Dresden zur Schule kam, setzte mich der kindlich verehrte Lehrer Hecker neben den einzigen jüdischen Jungen in der Klasse. Mit Leo Freitag zusammen lernte ich schreiben. Zum neuen Schuljahr 1938 war er auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ich vermisste ihn sehr. Meine Fragen blieben unbeantwortet. Die Flucht nach England blieb ein Tabu.
Dresdens Trümmerwüste danach sah sofort jüdische Gesichter unter den nun maßgebenden Antifaschisten. Victor Klemperer trat im Kulturbund in Erscheinung. Paul Lewitt, im Dezember 1945 aus dem englischen Exil zurück, gründete sofort in Dresden-Leuben die Volksbühne neu, die mir bald danach den ersten Brecht-Abend bescherte. Hans Schrecker startete im März 1946 die Illustrierte Zeit im Bild mit Max Zimmering als Kulturredakteur. Die Kinderbuchautorin Auguste Lazar kam solo, die agile Ruth Seydewitz trat ihrem Max zum Darstellen eines guten sächsischen Ministerpräsidenten an die Seite. Wie Lea Grundig, aus dem zum Staat Israel gewandelten Palästina gekommen, nun ihrem von Nazi-Verfolgung gezeichneten Hans beistand. All das konnte ich bereits als Schüler wahrnehmen.
Sieben nun zur Geltung kommende Lebensschicksale, sich vollendend in diesem von so vielen Problemen und Konflikten belasteten Staat. Alle blieben dabei, obwohl Hans Schrecker die Ausnahmefigur für die stalinistische Misstrauens-welle gegen Westemigranten hergeben musste. Im Exil verdächtige Retter gehabt zu haben, brachte ihm das Verhängnis: zwei Jahre Haft. Der Mord-Verdacht des Kremlherrschers war auf seine jüdischen Leibärzte gefallen. Plötzlich brach eine bis zu dessen Tod 1953 genau befristete antijüdische Kampagne aus. Tschechische und ungarische jüdische Parteifunktionäre kostete dieser Wahnsinn das Leben. Die DDR machte den offenbar ungebrochenen Schrecker hinterher wieder zum Chefredakteur, hatte aber mit der Kampagne die ohnehin schwache jüdische Gemeinde dezimiert.
Dem Fliehen in den Westen zogen dagegen die politisch Engagierten eine Flucht nach vorn vor. Sie waren es, die fortan ein enormes dissidentisches Potential in die immer wieder von Verkrustung bedrohten Verhältnisse einbrachten.
Das alles war kein Geheimnis. Die großartigen Zeitungsgründer der Nachkriegszeit in der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin – wer war das denn? Sie hatten großenteils jüdische Namen: Lex Ende startete 1946 das Neue Deutschland – und kurioserweise gleichzeitig das satirische Witzblatt Frischer Wind. Seine Nachfolger als Chefredakteure des Zentralorgans der SED hießen Rudolf Herrnstadt, Hermann Axen, Rudi Singer. Buchenwald-Rückkehrer Herbert Sandberg hatte mit Karl Schnog bereits im Dezember 1945 den Ulenspiegel auf den Weg gebracht, Lilly Becher die Neue Berliner Illustrierte, Klaus Gysi die Monatszeitschrift Aufbau. Georg Honigmann erst Berlin am Mittag , dann Berlin am Abend, ehe er mit der »Stacheltier«-Filmproduktion und dem Kabarett Distel ins satirische Fach wechselte.
In diese Reihe gehört auch Hans Leonard, der schon 1945 mit Maud von Ossietzky Die Weltbühne neu gründete, auf deren Erbe wir Ossietzky-Leute uns heute noch beziehen. Da gab es unter wohlwollender Förderung durch Albert Norden einen deutlich jüdisch geprägten Pool intellektueller Zeitsicht. Jürgen Kuczynski, Siegbert Kahn, Henryk Keisch und Emil Carlebach gehörten von Anfang an zum festen Autorenstamm. Da diese Klientel in der Regel ganz unproletarisch bürgerlich daherkam, bediente sie mitten im Arbeiter-und-Bauern-Staat stark eine solche Mentalität.
Als erhebliche Verstärkung kamen in der zweiten Welle der Pressegründungen nach 1953 die Wochenpost (Kurt Neheimer), Das Magazin (Hilde Eisler), Eulenspiegel (Peter Nelken) und Sibylle (Sibylle Gerstner) dazu. Ob Rudolf Hirsch da, Berta Waterstradt dort – jüdische Autoren waren präsent. Jüdisches Leben wurde von Heinz Knobloch und Jürgen Rennert erforscht. Wo sollte denn zu diesen in der Beliebtheit beim Publikum wetteifernden Presseorganen der Antisemitismus herkommen? Eine absurde Vermutung.
Meine ganze Berufswahl auf dem Weg zu künstlerisch pointierter Publizistik wurde durch die Leistungen dieser Leute geprägt. Noch vor dem Abitur 1949 erlebte ich meinen Vater in Heiligendamm im Disput mit Stephan Hermlin über die dort ihre ersten Ferien feiernden West-Remigranten. Ich freute mich über die sympathische und intelligente Ausstrahlung von Menschen, die eben noch auf den Todeslisten von Auschwitz gestanden hatten.
Für mich als Kunststudent in Leipzig waren die Kulturkongresse zur Buchmesse ein Indiz für all das. Da sprachen Ernst Bloch und Hans Mayer, und Friedrich Karl Kaul referierte einen Rechtsstreit um den Dichter Hermlin. Da wurde offen der Formalismusvorwurf gegen John Heartfield zurückgewiesen. Hermann Budzislawski wurde extra aus dem US-Exil geholt, Direktor der Journalistenausbildung an der Universität Leipzig zu werden. Wurde aber »nur« Professor, und erst 1954 Dekan. Gerhart Eisler, der Bruder des Komponisten der Nationalhymne Hanns Eisler, konnte nach Ankunft aus New York ein »Amt für Information« übernehmen. Und nach dessen Auflösung als Intendant des Staatlichen Rundfunkkomitees durch extrem unkonventionelles Auftreten glänzen. Nicht genug damit, war er regelmäßig auf den Seiten der Jungen Welt um die Beantwortung unbequemer Fragen bemüht. Und Hans Jacobus konnte sein »Professorenkollegium« nicht nur im Radio hörbar, sondern auch im Fernsehen sichtbar machen.
So hatte sich nicht nur ein Personalbestand sortiert, der öffentlich fürs Ideologische zuständig war. Die ersten beiden DEFA-Filme »Die Mörder sind unter uns« und »Ehe im Schatten« eröffneten die lange Reihe von Film- und Fernsehproduktionen zur Judenverfolgung unter dem System der Nazis. Die 692 Seiten des Buches der Reihe »Tangenten«, auf denen Elke Schieber 2015 »Holocaust und jüdisches Leben im Spiegel audiovisueller Medien der SBZ und der DDR 1946 bis 1990« dokumentierte, liefern souverän den Beweis, wie intensiv von Filmemachern da informiert und argumentiert wurde. In den 1387 Sendungen Karl-Eduard von Schnitzlers »Der schwarze Kanal« wurde 21mal in jener abwertenden Tonart vom Staat Israel gesprochen, die nun als Beweis fortgesetzten Antisemitismus herhalten muss. Schnitzlers Pendant Gerhard Löwenthal bediente sich im »ZDF-Magazin« gegenüber dem Osten kaum einer gepflegteren Ausdrucksweise.
Die Situation, in der ich 1955 in Berlin Fuß fasste, war nicht anders als personell vielschichtig zu bezeichnen. Wo Leute initiativ waren, immer wieder jüdische Namen. Der international angelegte Verlag Volk und Welt: Walter Czollek. Das Schiffbauerdammtheater: Fritz Wisten. Das daraus entstehende Berliner Ensemble: Helene Weigel. Als ich bereits nach kurzer Zeit meine Porträtkarikaturen, die ich alternierend mit Herbert Sandberg und Leo Haas jede Woche im Eulenspiegel machte, im Presseclub ausstellte, speisten sie persönlich darunter zu Mittag. Der Hausherr als Vorsitzender des Presseverbandes war Georg Krausz. Oben drüber spielten die Distel-Leute. Da folgte im Direktorat Otto Stark Georg Honigmann. Dessen Frau Lizzy leitete das Synchronstudio der DEFA.
Im Klub der Kulturschaffenden machten sich alternativ andere Namen bemerkbar. Stephan Hermlin brachte aufmüpfige junge Dichter ins Gespräch. Da tagte unter Regie Bruno Kaisers die bibliophile Pirckheimer-Gesellschaft. Und Herbert Sandberg hielt für die Bildkunst mit Doris Kahane und Ingeborg Hunzinger gegen den Formalismusverdacht stand. Konrad Wolf folgte Arnold Zweig als Präsident der Akademie der Künste – beide unverkennbar in der Spur jüdischer Thematik. Sein Bruder Markus scherte 1987 fast dissidentisch aus der Hierarchie des Geheimdienstes aus. Mit Anna Seghers, Lea Grundig, Ernst Hermann Meyer und Wolfgang Heinz waren alle Künstlerverbände präsidial auf diese Weise dominiert. Ein Rätsel, wie all das mit einem quasi verordneten Antisemitismus vereinbar gewesen sein soll.
Wenn es Zoff gab mit der Partei, die immer recht haben wollte, dann war der immer politisch, und nie rassistisch. Stefan Heym, mit der Kolumne »Offen gesagt« in der Berliner Zeitung akzeptiert, eckte erst mit quer geschriebenen Büchern an. Jurek Becker, mit »Jakob der Lügner« zum jüdischen Thema prominent geworden, initiierte mit ihm den Protest um den Liedermacher Wolf Biermann. Kaum zu glauben, wenn der katastrophale Eklat darum von den privat mit Vater Biermann befreundeten Honeckers antisemitisch gesehen worden wäre.
Das war das Innenleben der DDR. Von Menschen besiedelt, die sich mühselig und immer von Rückfällen bedroht von dem mörderischen Judenhass der Vergangenheit befreiten. Dieses konkrete Land hier war in den Jahrzehnten nach dem Holocaust von vielen seiner Überlebenden mitgestaltet worden. Das lässt sich nicht mehr auseinanderdividieren.