Die neoliberale Organisation der Welt wird schon lange nicht mehr in Frage gestellt, weder von der politischen Linken und natürlich schon gar nicht von den konservativen und reaktionären politischen Kräften. Dabei ist die Bilanz der Folgen für die Menschheit und die Welt alles in allem mehr als desaströs. Die Akkumulation von Reichtum ist in den vergangenen Jahrzehnten exponentiell gestiegen. Er kommt indessen einer winzigen Minderheit zugute, während die Armut überall auf dem Globus, wenn auch recht unterschiedlich im wohlhabenden Westen und im armen »Süden«, immer weiter gestiegen ist.
Und da ist noch der Zustand unseres Planeten. Immer mehr Katastrophen, sei es Trockenheit, seien es verheerenden Überschwemmungen, verursacht durch die Erwärmung der Atmosphäre und der Meere. Von Menschen gemacht. Unbestritten gibt es (zaghafte und ungenügende) Maßnahmen, die Erderwärmung zu bekämpfen und einzudämmen. Die Menschen haben andere Sorgen: die Kriege im Nahen Osten und der Ukraine, die hohe Inflation, steigende Preise, die Angst, in die Armut abzudriften, und das berechtigte Misstrauen gegenüber den Regierenden jedweder Couleur, von Sozialdemokraten über Konservative bis zu den Rechtsaußenparteien (linke Parteien, wie früher einmal, gibt es nicht mehr).
Nicht genug damit. Ein Prominenter wie der amerikanische Multimilliardär Elon Musk, ein Kotzbrocken der besonderen Art, empfiehlt den Deutschen, AfD zu wählen. Erstaunlich, außer für ihn selbst, ist die Dreistigkeit, Staaten jenseits der USA Empfehlungen zu erteilen. Das scheint das neue ungeschminkte Selbstverständnis der Trump-Administration zu sein, die ja nun auch den Panama-Kanal und ganz Grönland für die USA beansprucht.
In der neoliberalen Weltordnung kommt dem Individuum, dem einzelnen Bürger / der einzelnen Bürgerin eine radikal neue Rolle und Bestimmung zu: Es ist ausschließlich allein für sein Schicksal verantwortlich. Der »Wohlfahrtsstaat« hat sich weitgehend verabschiedet, anders ausgedrückt, er ist allen gegenteiligen Behauptungen von neoliberalen Ökonomen (andere gibt es an den entscheidenden Schaltstellen nicht mehr) und konservativen Politikern auf ein Minimum reduziert. Das betrifft etwa Löhne, sonstige Zuwendungen, Sozialleistungen, medizinische Versorgung und mehr. Seit 1993 gibt es in Deutschland sogenannte »Tafeln«, wo Bedürftige Mahlzeiten einnehmen und Essen mitnehmen können. Sie wurden im Jahr 1993 gegründet, als der Neoliberalismus seine Wirkung zu entfalten begann.
Am Ende des Jahres 2024 gab es bereits 975 Tafeln, die von 75.000 Helfern betreut werden (von ihnen arbeiten 94 Prozent ehrenamtlich). Um zu ihnen zugelassen zu werden, benötigt man eine »Kundenkarte«, die von der Caritas oder dem Roten Kreuz ausgestellt wird. Bezugsberechtigt ist, wessen Einkommen unter 1.200 Euro beträgt, bei Rentnern liegt die Grenze bei 900 Euro. In den letzten Jahren sind aber Löhne und Renten wegen der Inflation und der erheblichen Teuerung real nicht gestiegen Mit den Jahren hat sich so eine Parallelökonomie entwickelt, ähnlich, nur nicht so kriminell, wie einst in der sogenannten Dritten Welt, wo es die offizielle und die Schattenökonomie gibt, die häufig die wichtigere ist.
2014 wurden die »Tafeln« von 1,5 Millionen Bedürftigen genutzt, im Jahr 2022 (dem jüngsten Erhebungsjahr) waren es 2 Millionen (immerhin die Einwohnerzahl von Hamburg), die Dunkelziffer dürfte höher sein. Als Gründe für den Zuwachs nennen die Statistiker die Corona-Pandemie, den Krieg in der Ukraine und gestiegene Lebensmittelpreise. Es gibt keine offiziellen Statistiken darüber, wie sich die Zahlen seither entwickelt haben.
In Frankreich heißen die Tafeln »banques alimentaires«, in England »Foodbanks«, und es gibt weit mehr davon als in Deutschland, was nicht verwundert, wenn man die prekäre finanzielle und medizinische Situation besonders im Norden Englands bedenkt. Aber sogar in der reichen Schweiz gibt es Arme, die nicht nach Kantonen, sondern nach Regionen aufgeschlüsselt sind. Immerhin wurden 700.000 Arme registriert, bei einer Bevölkerung von rund neun Millionen. Das sind 8,2 Prozent. Offenbar macht es keinen großen Unterschied, ob ein Land reich oder weniger reich ist. Entscheidend ist vielmehr der Einfluss der neoliberalen Ökonomie.
Der einzelne Mensch ist, seit die neoliberale Ökonomie die Welt beherrscht, also seit die »Chicago Boys« im Chile der Militärregierung unter Augusto Pinochet in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die neue Wirtschaftslehre ausprobieren und mit ihr experimentieren durften, auf sich allein gestellt, hat bestenfalls seine Familie oder Freunde zur Seite, um seine materielle Existenz zu sichern.
Die Emanzipation des Individuums, des Einzelnen gegenüber der Sippe, dem Clan, dem Familienverbund oder der Berufszunft ist historisch noch nicht sehr alt. Sie nimmt ihren Anfang in der französischen Revolution. Das war ein erster Schritt. Die drei Stände des vorrevolutionären Ancien Régime waren gestaffelt: 1.der Adel; 2. der Klerus (Bischöfe, Äbte, hohe und niedrige Geistliche); 3. die Bürger (Reiche, die nach dem Zensus berechnet wurden, Kleinbürger, Bauern). Der erste Stand machte etwa 0,5 Prozent der Bevölkerung aus, der zweite (alle Kleriker bis hinunter zum Dorfpfarrer) 1,5 Prozent. Nun erreichte der dritte Stand eine Art Gleichstellung, allerdings nur die Reichen, also die Bourgeoisie. Das Proletariat blieb ausgeschlossen, und sollte es noch lange bleiben.
In den deutschen, von absoluten Herrschern regierten (Klein-)Staaten blieb bis zur Revolution von 1848 noch alles beim Alten. Die Fürsten bestimmten, wie etwa in Frankreich unter dem Ancien Régime, über vieles im Privatleben ihrer Untertanen: welcher Konfession sie anzugehören hatten, welche Berufe sie ausüben durften. Der vergleichsweise liberale Herzog Karl August von Sachsen-Weimar, Goethes Dienstherr, bestimmte etwa, wen man heiraten durfte und wen nicht. An der Universität im benachbarten Jena lehrte unter anderen (Schelling, Hegel) der Philosoph des deutschen Idealismus Johann Gottlieb Fichte, der sich eingehend mit dem Ich (und dem Nicht-Ich) beschäftigte in der Absicht, ihm persönliche Freiheit zu verschaffen. Er hatte großen Zulauf an Studenten aus ganz Europa. Allerdings fehlte seinen Theorien, anders als in Frankreich, ein explizit politischer Aspekt, der ihm im immer noch vorherrschenden Absolutismus der deutschen Staaten wohl bald den Garaus gemacht hätte.
Persönliche Bürgerrechte werden in Deutschland erst spät errungen. Nicht durch die gescheiterte Revolution von 1848, nicht in der gescheiterten Revolution von 1918 (Revolution sind in Deutschland im Gegensatz zu Frankreich immer gescheitert). Das gelingt erst in der Weimarer Republik (die 1933 durch die völkische Revolution der Nazis endet).
Aber diese positive Entwicklung hat sich in der vom Neoliberalismus geprägten Weltordnung wieder umgekehrt. Beispielhaft hierfür ist das neue Phänomen der (in der Mehrheit weiblichen) »Influencer«, die sich der neuen Plattformen und Streaming-Dienste bedienen und eine Mischung aus Business und weltanschaulicher Orientierung betreiben. Sie verkaufen Kosmetika und Mode, werben für Musikkanäle, repräsentieren einen ebenso bemüht optimistischen wie angestrengten Lebensstil, der typisch für unsere Epoche des unterschwelligen Prekariats ist. Es geht nicht mehr um Inhalte oder Politik, um Freiheit oder Selbstbestimmung, nein, in der neoliberalen Ökonomie geht es darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen, um Geld zu verdienen (siehe Musk). Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit gar, bleiben dabei auf der Strecke. Es ist wie eine Rückkehr in die selbstverschuldete Unmündigkeit. Die Menschen sind nur noch als Marktteilnehmer relevant.