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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das Individuum im Neoliberalismus

Die neo­li­be­ra­le Orga­ni­sa­ti­on der Welt wird schon lan­ge nicht mehr in Fra­ge gestellt, weder von der poli­ti­schen Lin­ken und natür­lich schon gar nicht von den kon­ser­va­ti­ven und reak­tio­nä­ren poli­ti­schen Kräf­ten. Dabei ist die Bilanz der Fol­gen für die Mensch­heit und die Welt alles in allem mehr als desa­strös. Die Akku­mu­la­ti­on von Reich­tum ist in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten expo­nen­ti­ell gestie­gen. Er kommt indes­sen einer win­zi­gen Min­der­heit zugu­te, wäh­rend die Armut über­all auf dem Glo­bus, wenn auch recht unter­schied­lich im wohl­ha­ben­den Westen und im armen »Süden«, immer wei­ter gestie­gen ist.

Und da ist noch der Zustand unse­res Pla­ne­ten. Immer mehr Kata­stro­phen, sei es Trocken­heit, sei­en es ver­hee­ren­den Über­schwem­mun­gen, ver­ur­sacht durch die Erwär­mung der Atmo­sphä­re und der Mee­re. Von Men­schen gemacht. Unbe­strit­ten gibt es (zag­haf­te und unge­nü­gen­de) Maß­nah­men, die Erd­er­wär­mung zu bekämp­fen und ein­zu­däm­men. Die Men­schen haben ande­re Sor­gen: die Krie­ge im Nahen Osten und der Ukrai­ne, die hohe Infla­ti­on, stei­gen­de Prei­se, die Angst, in die Armut abzu­drif­ten, und das berech­tig­te Miss­trau­en gegen­über den Regie­ren­den jed­we­der Cou­leur, von Sozi­al­de­mo­kra­ten über Kon­ser­va­ti­ve bis zu den Rechts­au­ßen­par­tei­en (lin­ke Par­tei­en, wie frü­her ein­mal, gibt es nicht mehr).

Nicht genug damit. Ein Pro­mi­nen­ter wie der ame­ri­ka­ni­sche Mul­ti­mil­li­ar­där Elon Musk, ein Kotz­brocken der beson­de­ren Art, emp­fiehlt den Deut­schen, AfD zu wäh­len. Erstaun­lich, außer für ihn selbst, ist die Drei­stig­keit, Staa­ten jen­seits der USA Emp­feh­lun­gen zu ertei­len. Das scheint das neue unge­schmink­te Selbst­ver­ständ­nis der Trump-Admi­ni­stra­ti­on zu sein, die ja nun auch den Pana­ma-Kanal und ganz Grön­land für die USA beansprucht.

In der neo­li­be­ra­len Welt­ord­nung kommt dem Indi­vi­du­um, dem ein­zel­nen Bür­ger /​ der ein­zel­nen Bür­ge­rin eine radi­kal neue Rol­le und Bestim­mung zu: Es ist aus­schließ­lich allein für sein Schick­sal ver­ant­wort­lich. Der »Wohl­fahrts­staat« hat sich weit­ge­hend ver­ab­schie­det, anders aus­ge­drückt, er ist allen gegen­tei­li­gen Behaup­tun­gen von neo­li­be­ra­len Öko­no­men (ande­re gibt es an den ent­schei­den­den Schalt­stel­len nicht mehr) und kon­ser­va­ti­ven Poli­ti­kern auf ein Mini­mum redu­ziert. Das betrifft etwa Löh­ne, son­sti­ge Zuwen­dun­gen, Sozi­al­lei­stun­gen, medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung und mehr. Seit 1993 gibt es in Deutsch­land soge­nann­te »Tafeln«, wo Bedürf­ti­ge Mahl­zei­ten ein­neh­men und Essen mit­neh­men kön­nen. Sie wur­den im Jahr 1993 gegrün­det, als der Neo­li­be­ra­lis­mus sei­ne Wir­kung zu ent­fal­ten begann.

Am Ende des Jah­res 2024 gab es bereits 975 Tafeln, die von 75.000 Hel­fern betreut wer­den (von ihnen arbei­ten 94 Pro­zent ehren­amt­lich). Um zu ihnen zuge­las­sen zu wer­den, benö­tigt man eine »Kun­den­kar­te«, die von der Cari­tas oder dem Roten Kreuz aus­ge­stellt wird. Bezugs­be­rech­tigt ist, wes­sen Ein­kom­men unter 1.200 Euro beträgt, bei Rent­nern liegt die Gren­ze bei 900 Euro. In den letz­ten Jah­ren sind aber Löh­ne und Ren­ten wegen der Infla­ti­on und der erheb­li­chen Teue­rung real nicht gestie­gen Mit den Jah­ren hat sich so eine Par­al­lel­öko­no­mie ent­wickelt, ähn­lich, nur nicht so kri­mi­nell, wie einst in der soge­nann­ten Drit­ten Welt, wo es die offi­zi­el­le und die Schat­ten­öko­no­mie gibt, die häu­fig die wich­ti­ge­re ist.

2014 wur­den die »Tafeln« von 1,5 Mil­lio­nen Bedürf­ti­gen genutzt, im Jahr 2022 (dem jüng­sten Erhe­bungs­jahr) waren es 2 Mil­lio­nen (immer­hin die Ein­woh­ner­zahl von Ham­burg), die Dun­kel­zif­fer dürf­te höher sein. Als Grün­de für den Zuwachs nen­nen die Sta­ti­sti­ker die Coro­na-Pan­de­mie, den Krieg in der Ukrai­ne und gestie­ge­ne Lebens­mit­tel­prei­se. Es gibt kei­ne offi­zi­el­len Sta­ti­sti­ken dar­über, wie sich die Zah­len seit­her ent­wickelt haben.

In Frank­reich hei­ßen die Tafeln »ban­ques ali­men­tai­res«, in Eng­land »Food­banks«, und es gibt weit mehr davon als in Deutsch­land, was nicht ver­wun­dert, wenn man die pre­kä­re finan­zi­el­le und medi­zi­ni­sche Situa­ti­on beson­ders im Nor­den Eng­lands bedenkt. Aber sogar in der rei­chen Schweiz gibt es Arme, die nicht nach Kan­to­nen, son­dern nach Regio­nen auf­ge­schlüs­selt sind. Immer­hin wur­den 700.000 Arme regi­striert, bei einer Bevöl­ke­rung von rund neun Mil­lio­nen. Das sind 8,2 Pro­zent. Offen­bar macht es kei­nen gro­ßen Unter­schied, ob ein Land reich oder weni­ger reich ist. Ent­schei­dend ist viel­mehr der Ein­fluss der neo­li­be­ra­len Ökonomie.

Der ein­zel­ne Mensch ist, seit die neo­li­be­ra­le Öko­no­mie die Welt beherrscht, also seit die »Chi­ca­go Boys« im Chi­le der Mili­tär­re­gie­rung unter Augu­sto Pino­chet in den sieb­zi­ger Jah­ren des vori­gen Jahr­hun­derts die neue Wirt­schafts­leh­re aus­pro­bie­ren und mit ihr expe­ri­men­tie­ren durf­ten, auf sich allein gestellt, hat besten­falls sei­ne Fami­lie oder Freun­de zur Sei­te, um sei­ne mate­ri­el­le Exi­stenz zu sichern.

Die Eman­zi­pa­ti­on des Indi­vi­du­ums, des Ein­zel­nen gegen­über der Sip­pe, dem Clan, dem Fami­li­en­ver­bund oder der Berufs­zunft ist histo­risch noch nicht sehr alt. Sie nimmt ihren Anfang in der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on. Das war ein erster Schritt. Die drei Stän­de des vor­re­vo­lu­tio­nä­ren Anci­en Régime waren gestaf­felt: 1.der Adel; 2. der Kle­rus (Bischö­fe, Äbte, hohe und nied­ri­ge Geist­li­che); 3. die Bür­ger (Rei­che, die nach dem Zen­sus berech­net wur­den, Klein­bür­ger, Bau­ern). Der erste Stand mach­te etwa 0,5 Pro­zent der Bevöl­ke­rung aus, der zwei­te (alle Kle­ri­ker bis hin­un­ter zum Dorf­pfar­rer) 1,5 Pro­zent. Nun erreich­te der drit­te Stand eine Art Gleich­stel­lung, aller­dings nur die Rei­chen, also die Bour­geoi­sie. Das Pro­le­ta­ri­at blieb aus­ge­schlos­sen, und soll­te es noch lan­ge bleiben.

In den deut­schen, von abso­lu­ten Herr­schern regier­ten (Klein-)Staaten blieb bis zur Revo­lu­ti­on von 1848 noch alles beim Alten. Die Für­sten bestimm­ten, wie etwa in Frank­reich unter dem Anci­en Régime, über vie­les im Pri­vat­le­ben ihrer Unter­ta­nen: wel­cher Kon­fes­si­on sie anzu­ge­hö­ren hat­ten, wel­che Beru­fe sie aus­üben durf­ten. Der ver­gleichs­wei­se libe­ra­le Her­zog Karl August von Sach­sen-Wei­mar, Goe­thes Dienst­herr, bestimm­te etwa, wen man hei­ra­ten durf­te und wen nicht. An der Uni­ver­si­tät im benach­bar­ten Jena lehr­te unter ande­ren (Schel­ling, Hegel) der Phi­lo­soph des deut­schen Idea­lis­mus Johann Gott­lieb Fich­te, der sich ein­ge­hend mit dem Ich (und dem Nicht-Ich) beschäf­tig­te in der Absicht, ihm per­sön­li­che Frei­heit zu ver­schaf­fen. Er hat­te gro­ßen Zulauf an Stu­den­ten aus ganz Euro­pa. Aller­dings fehl­te sei­nen Theo­rien, anders als in Frank­reich, ein expli­zit poli­ti­scher Aspekt, der ihm im immer noch vor­herr­schen­den Abso­lu­tis­mus der deut­schen Staa­ten wohl bald den Gar­aus gemacht hätte.

Per­sön­li­che Bür­ger­rech­te wer­den in Deutsch­land erst spät errun­gen. Nicht durch die geschei­ter­te Revo­lu­ti­on von 1848, nicht in der geschei­ter­ten Revo­lu­ti­on von 1918 (Revo­lu­ti­on sind in Deutsch­land im Gegen­satz zu Frank­reich immer geschei­tert). Das gelingt erst in der Wei­ma­rer Repu­blik (die 1933 durch die völ­ki­sche Revo­lu­ti­on der Nazis endet).

Aber die­se posi­ti­ve Ent­wick­lung hat sich in der vom Neo­li­be­ra­lis­mus gepräg­ten Welt­ord­nung wie­der umge­kehrt. Bei­spiel­haft hier­für ist das neue Phä­no­men der (in der Mehr­heit weib­li­chen) »Influen­cer«, die sich der neu­en Platt­for­men und Strea­ming-Dien­ste bedie­nen und eine Mischung aus Busi­ness und welt­an­schau­li­cher Ori­en­tie­rung betrei­ben. Sie ver­kau­fen Kos­me­ti­ka und Mode, wer­ben für Musik­ka­nä­le, reprä­sen­tie­ren einen eben­so bemüht opti­mi­sti­schen wie ange­streng­ten Lebens­stil, der typisch für unse­re Epo­che des unter­schwel­li­gen Pre­ka­ri­ats ist. Es geht nicht mehr um Inhal­te oder Poli­tik, um Frei­heit oder Selbst­be­stim­mung, nein, in der neo­li­be­ra­len Öko­no­mie geht es dar­um, Auf­merk­sam­keit zu erzeu­gen, um Geld zu ver­die­nen (sie­he Musk). Mensch­lich­keit, Mit­mensch­lich­keit gar, blei­ben dabei auf der Strecke. Es ist wie eine Rück­kehr in die selbst­ver­schul­de­te Unmün­dig­keit. Die Men­schen sind nur noch als Markt­teil­neh­mer relevant.