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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das Grauen von Gaza

Hier folgt eine nicht gehal­te­ne Rede zum Holo­caust-Gedenk­tag 2024: Man besu­che alte jüdi­sche Fried­hö­fe in Deutsch­land und lese die Namen auf ver­wit­ter­ten Grab­stei­nen. Namen … Namen von deut­schen Fami­li­en, die seit Jahr­hun­der­ten in die­sem Land leb­ten – aus­ge­löscht im anti­se­mi­ti­schen Wahn des »tau­send­jäh­ri­gen Rei­ches«, wenn sie nicht recht­zei­tig flie­hen konn­ten. Man fühlt tief­ste Trau­er vor dem heu­te kaum fass­ba­ren Ver­bre­chen des Anti­se­mi­tis­mus. Dem Nazi-Anti­se­mi­tis­mus, der einem Groß­teil der »ari­schen« Deut­schen ein­ge­impft war, von den »wis­sen­schaft­li­chen« Ras­sen­theo­re­ti­kern, den Mas­sen­mord-Stra­te­gen der Wann­see-Kon­fe­renz mit den Gesta­po-Poli­zi­sten, den KZ-Scher­gen, den mor­den­den Wehr­macht-Sol­da­ten und »Ein­satz­grup­pen«.

Bernt Engel­mann hat 1974 ein Buch mit dem Titel »Deutsch­land ohne Juden – eine Bilanz« ver­öf­fent­licht. Da heißt es im Kapi­tel »Bilanz einer Aus­rot­tung«: »Eines kön­nen wir mit Gewiss­heit sagen: näm­lich, dass die Deut­schen gera­de jenen Teil ihrer Mit­bür­ger ver­jagt und ermor­det haben, der auf nahe­zu allen Gebie­ten den rela­tiv bedeu­tend­sten Bei­trag zu dem gelei­stet haben, was man gemein­hin die Kul­tur eines Vol­kes nennt.«

Unmit­tel­bar nach dem Krieg woll­ten im Land der Täter all­zu vie­le nichts gewusst haben. Beson­ders die vom Staats­an­walt Fritz Bau­er gegen star­ke Wider­stän­de durch­ge­setz­ten Ausch­witz-Pro­zes­se zwi­schen 1963 und 1965 mach­ten einer brei­te­ren Öffent­lich­keit das unge­heu­er­li­che Aus­maß der Ver­bre­chen klar. In einem Nach­kriegs-West­deutsch­land, wo noch vie­le NS-Mit­läu­fer, Ex-Mit­glie­der der NSDAP staat­li­che Ämter beklei­de­ten, Mit­glie­der von Hit­ler-Jugend und der Flak-Hel­fer-Gene­ra­ti­on zu den Unver­bes­ser­li­chen zählten.

Umso betrof­fe­ner macht, wenn heu­te die Ver­ur­tei­lung der sied­ler­ko­lo­nia­li­sti­schen Poli­tik des Staa­tes Isra­el gegen­über der palä­sti­nen­si­schen Bevöl­ke­rung als Anti­se­mi­tis­mus dif­fa­miert wird. Man wird mit Tätern und Leug­nern der Nazi­ver­bre­chen in einen Topf geworfen!

Stän­dig wird so jetzt von den Herr­schen­den die not­wen­di­ge Ver­ur­tei­lung der israe­li­schen Kriegs­po­li­tik mit Anti­se­mi­tis­mus gleich­ge­setzt. Die »deut­sche Staats­rä­son« einer kri­tik­lo­sen Soli­da­ri­tät mit der ras­si­stisch-zio­ni­sti­schen Poli­tik der israe­li­schen Regie­rung hat eine Vor­ge­schich­te. Die mit dem Blut der euro­päi­schen Juden besu­del­ten Eli­ten Deutsch­lands konn­ten sich nach dem Krieg u. a. mit der »Wie­der­gut­ma­chung« eine Ein­tritts­kar­te in die »freie Welt« ein­han­deln. Von der Schuld des Holo­caust konn­te sich Deutsch­land nach der Grün­dung Isra­els durch Geld und Rüstungs­fi­nan­zie­rung qua­si frei­kau­fen. Jedoch durch neu­es Unrecht an den Palä­sti­nen­sern, die nicht für den Holo­caust ver­ant­wort­lich waren, die nicht gefragt wur­den und deren Ver­trei­bungs­ka­ta­stro­phe Nak­ba nicht ver­ges­sen wer­den darf.

Nach dem ent­setz­li­chen, mör­de­ri­schen Hamas-Aus­bruch und nun dem tag­täg­li­chen Grau­en israe­li­scher Kriegs­ver­bre­chen in Gaza ist es hier­zu­lan­de prak­tisch nicht mehr mög­lich, eine offe­ne und sach­li­che Debat­te zum The­ma Anti­se­mi­tis­mus zu führen.

In Gaza hat die israe­li­sche Armee neben der unfass­bar hohen Zahl von Opfern Fol­gen­des ange­rich­tet: es wur­den fast alle Wohn­häu­ser zer­trüm­mert, sämt­li­che Uni­ver­si­tä­ten und fast alle Schu­len zer­bombt, außer­dem Muse­en, Archi­ve, Biblio­the­ken, sodass selbst, wenn Isra­el eine Rück­kehr der Men­schen in die­se Trüm­mer­wü­ste zulie­ße, Bil­dung auf lan­ge Zeit unmög­lich ist. Das­sel­be gilt für fast alle Kran­ken­häu­ser und eine hohe Anzahl von Ärz­ten und Pfle­ge­per­so­nal wur­de teils gezielt getö­tet oder in Haft genom­men. Damit hat man das Gesund­heits­we­sen kom­plett zer­stört. Zusätz­lich sind prak­tisch alle land­wirt­schaft­li­chen Flä­chen ver­wü­stet wor­den, Brun­nen wur­den unbrauch­bar gemacht.

Und jetzt steht die Inva­si­on von Rafah an, die die­ses tota­le Zer­stö­rungs­werk voll­enden wird. Hilfs­gü­ter wer­den von Isra­el blockiert, es herr­schen Hun­ger und Was­ser­man­gel der not­dürf­tig in Zel­ten hau­sen­den Men­schen. Wer das ver­ur­teilt, wird in die­sem Land zum Anti­se­mi­ten gestem­pelt. Im Gegen­teil Die Pro­te­ste gegen das Grau­en von Gaza und die offen­sicht­lich im Gang befind­li­che zwei­te Ver­trei­bungs­ka­ta­stro­phe Nak­ba müs­sen wei­ter gestei­gert werden.

Eine »Zwei-Staa­ten-Lösung« wird von Isra­el kate­go­risch abge­lehnt und wer gar für einen säku­la­ren Staat Isra­el-Palä­sti­na ein­tritt, in dem Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te glei­cher­ma­ßen für alle gel­ten – gleich wel­cher Reli­gi­on oder Her­kunft – der wird beschul­digt, die »Ver­nich­tung des Staa­tes Isra­el« zu for­dern. Dabei ent­spre­chen glei­che Rech­te für alle – für Palä­sti­nen­ser wie Israe­lis glei­cher­ma­ßen – den Wer­ten des deut­schen Grund­ge­set­zes, des­sen Jubi­lä­um man der­zeit fei­ert. Und zugleich wer­den sie mit einer unein­ge­schränk­ten Unter­stüt­zung und den Waf­fen­lie­fe­run­gen für Isra­el gera­de mit Füßen getreten.