Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist als eine friedliebende Verfassung gedacht und entwickelt worden. Bereits in seiner Präambel ist die Rede davon, dass das deutsche Volk »von dem Willen beseelt« sei, »dem Frieden der Welt zu dienen«. Den Schrecken des Zweiten Weltkrieges gerade erst entkommen, setzten die Mütter und Väter des Grundgesetzes vier Jahre nach Kriegsende mit dem »Friedensgebot« ein starkes antimilitaristisches Zeichen, das wohl das künftige bundesrepublikanische Ringen um Krieg und Frieden davor bewahren sollte, je wieder kriegsschuldig zu werden. Spätestens mit der Beteiligung der Bundeswehr am völkerrechtswidrigen Kosovo-Krieg 1998/1999 hat sich diese pazifistische Utopie im ex-jugoslawischen Bombenhimmel verabschiedet und seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine steht das Friedensgebot nun erneut vor einer bellizistischen Bewährungsprobe. Doch wie dient man dem Friedensgebot in Zeiten eines Krieges? Mit immer mehr Waffenlieferungen und mit der Ausbildung von ukrainischen Soldaten an jenen Waffen? Oder mit nicht nachlassenden diplomatischen Bemühungen, um zu einem Ende des Krieges zu kommen? Oder mit beidem? Ein Blick auf die Hintergründe und den bisherigen Verlauf des Ukraine-Krieges erscheint lohnenswert, um sich an die Beantwortung jener Fragen herantasten zu können.
Lange bevor Russland Ende Februar den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine begann, hatte es Stimmen von Außenpolitikern und Militärexperten gegeben, die davor warnten, essentielle Sicherheitsinteressen Russlands zu missachten – mit der Nato-Osterweiterung und mit der Verletzung oder Kündigung von Abkommen zur Rüstungs- und Stationierungskontrolle durch die USA. Derartige Demütigungen oder Bedrohungen könnten Russland zu einer militärischen Eskalation mit der Ukraine provozieren. Zudem erscheint es moralisch verwerflich, wenn die USA und ihre Verbündeten den russischen Einmarsch in die Ukraine als Völkerrechtsbruch brandmarken und härteste Sanktionen verhängen, nachdem sie selbst immer wieder verheerende Angriffskriege geführt und das Völkerrecht gebrochen haben.
Aus dieser komplexen militärpolitischen Gemengelage hat sich der Krieg in der Ukraine längst zu einem hybriden Krieg zwischen der Nato und Russland entwickelt, dessen Kriegsziel auf unverfrorene Weise immer mehr auf eine langfristige geopolitische Beschädigung und Schwächung Russlands ausgeweitet worden ist. Damit hat dieser Krieg mit seinen verheerenden globalen Folgen schon jetzt eine Dimension erreicht, die weite Teile der Erde betrifft, insbesondere die ärmeren Länder und Bevölkerungsgruppen dieser Welt. Er ist militärisch aktuell zwar noch weitestgehend auf das Territorium der Ukraine und auf konventionelle Waffen beschränkt, auf wirtschaftlicher Ebene tobt der Krieg jedoch längst unbegrenzt. Und er hat sich zunehmend zu einem kulturellen Medien- und Informationskrieg entwickelt, der so gut wie alle Aspekte unseres täglichen Lebens betrifft.
Mit der Lieferung von Waffen sind Deutschland und seine Nato-Verbündeten recht schnell in den Krieg eingetreten. Damit – und durch die Ausbildung ukrainischer Soldaten an modernen Waffen – wurde, wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages bestätigt, Deutschland auch im völkerrechtlichen Sinne zur Kriegspartei. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg stehen deutsche Panzer wieder russischen Panzern gegenüber, was einem historischen Tabubruch gleichkommt, der dem Friedensgebot des Grundgesetzes fundamental widerspricht. Und je länger dieser Krieg dauert, umso mehr wächst die Gefahr einer Ausweitung des Krieges hin zu einer nicht mehr kontrollierbaren Eskalation, bei der sich Atommächte gegenüberstehen. Ein Krieg müsse vom Ende her betrachtet werden, konstatierte der ehemalige Berater von Angela Merkel, Brigadegeneral a. D. Erich Vad, bereits Mitte April. Wer einen Dritten Weltkrieg verhindern wolle, so Vad, müsse sich von einer weiteren militärischen Eskalationslogik verabschieden und ernsthafte diplomatische Verhandlungen führen, um zu einem Ende des Krieges zu kommen.
Auch ist es geboten, bei den großen globalen Herausforderungen unserer Zeit, bei jenen Fragen, die das weitere Schicksal der Menschheit maßgeblich prägen werden, wieder zu einer (alternativlosen) Zusammenarbeit mit Russland zu kommen. Die Gründe und Ziele dafür sind: Eindämmung des Klimawandels, neue Verhandlungen über die Rüstungskontrolle, Verwaltung der Cybersphäre, Förderung der globalen Gesundheit und Schaffung von weltweiten Strukturen zur Bekämpfung von Hunger und Armut.
Ob die Mütter und Väter des Grundgesetzes bei der Formulierung des Friedensgebotes all das bereits im Blick hatten? Wohl eher nicht! Aber unsere Lebenswirklichkeit (und die unserer Nachkommen) ist ernsthaft bedroht. Es ist also unbedingt notwendig, unsere Regierung zur Einhaltung des Friedensgebotes im Grundgesetz aufzufordern und zu verpflichten. Was denn auch sonst?
Gustav Heinemann sagte 1969 zu seinem Antritt als Bundespräsident: »Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken unterwiesen wurde, sondern heute ist der Frieden der Ernstfall. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.«
Bundeskanzler Scholz und seinem Kabinett seien diese Worte entgegengebrüllt.