»Die ich rief, die Geister / Werd’ ich nun nicht los«, so Johann Wolfgang Goethe im »Zauberlehrling«. Wie konnte man 2009 mehrheitlich im Bundestag und in Folge in den Landtagen politisch und gleichzeitig ökonomisch so borniert sein und dem Staat verfassungsrechtlich quasi das Schuldenmachen verbieten? Diese unerträgliche Borniertheit macht der zurzeit und zukünftig herrschenden Politik, die über einen politischen und dafür notwendigen finanziellen Handlungsspielraum verfügen muss, nun endgültig den Garaus. War dieser Spielraum auch schon seit 2009 eingeschränkt, so wird nun das von der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag veranlasste Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15. November 2023 zu maximal ökonomischen Schäden führen. Die Frankfurter Rundschau titelte zum Urteil des höchsten Gerichts: »Klatsche aus Karlsruhe. Die Ampel-Regierung darf 60 Milliarden Euro Corona-Hilfen nicht in den Klimaschutz verschieben.«
Es geht mit dem jetzt vom Bundesverfassungsgericht gefällten Urteil aber nicht nur um die einmaligen 60 Milliarden Euro nicht mehr benötigter Kredite zur Bewältigung der Corona-Krise, die von der Ampel-Regierung widerrechtlich in den Energie- und Klimafonds umgebucht worden sind. Es geht vielmehr mit dem ersten Urteil des Verfassungsgerichtes seit 2009 in Sachen staatlicher Schuldenbremse gemäß Art. 109 und 115 GG sowie Art. 109a GG um etwas Grundsätzliches: Der Staat ist zukünftig, mit Ausnahme von Naturkatastrophen und notlagenbedingter Situationen, verpflichtet, die Schuldenbremse einzuhalten, und das heißt, der Bund darf sich jährlich maximal bis zu einem sogenannten strukturellen Defizit von 0,35 Prozent nettoneuverschulden, also zur Bezahlung seiner notwendigen strukturellen Ausgaben Kredite aufnehmen, und gleichzeitig darf die aufgelaufene staatliche Schuldenlast dabei maximal bei 60 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts liegen. Die Höhe des strukturellen Defizits berechnet sich hier durch eine Bereinigung der Einnahmen und Ausgaben des Bundeshaushalts von Konjunktureinflüssen. Diese werden durch eine symmetrisch konjunkturelle Komponente, bezogen auf das inhärente Auf und Ab innerhalb von Konjunkturzyklen, bestimmt. Die Differenzierung soll weiter eine keynesianische antizyklische Fiskalpolitik ermöglichen. Immer dann, wenn das gesamtwirtschaftliche Produktionspotenzial konjunkturell über- oder unterausgelastet ist, darf (muss) der Staat mit einer entsprechenden Fiskalpolitik konjunkturmäßig einschreiten. Das impliziert aber zugleich, dass vermehrte staatliche Ausgaben im konjunkturellen Abschwung im Aufschwung an den Staat wieder zurückgeführt werden müssen. Es muss also zu einem überzyklischen Haushaltsausgleich kommen. Hier hat im Budget die »schwarze Null« zu stehen. Diese gesamte fiskalpolitische Komplexität wird noch komplexer durch das Wirken von automatischen Konjunkturstabilisatoren und anderer verstärkender Effekte. Dies alles zu beurteilen und danach rationale, politische Entscheidungen zu treffen, überfordert jedoch das ökonomische Wissen fast aller VolksvertreterInnen bei weitem. Dies macht es dann ein paar wenigen Interessenideologen und Staatsverächtern leicht, den ökonomisch nichtwissenden Parlamentariern die Geschichte von der »schwäbischen Hausfrau« in die Köpfe zu implantieren, die auch nicht mehr ausgeben könne als sie an Einnahmen verbucht hat. Und es sei zutiefst unanständig, den kommenden Generationen die Schulden aufzubürden. Beides ist natürlich ökonomischer Unsinn, den auch der amtierende Bundesfinanzminister der FDP, Christian Lindner, gebetsmühlenhaft predigt. Ein eigenes Auto könnten sich danach wohl nur die wenigsten Hausfrauen in Schwaben leisten, vom »Häusle baue« gar nicht zu reden. Ich habe daher in einem Artikel auf den NachDenkSeiten am 6. Juli 2022 gefordert: »Herr Lindner, treten sie zurück.«
Schon der bedeutende Finanzwissenschaftler Lorenz von Stein stellte 1878 fest: Ein Staat ohne Staatsschuld tut entweder zu wenig für seine Zukunft oder fordere zu viel von seiner Gegenwart. Aber alle plappern, wie ein Papagei, den Unsinn über Staatsverschuldung nach, und dass damit angeblich Deutschland auf eine »finanzielle Katastrophe« zulaufen würde. Erstens spielen die Schulden eines einzelnen privaten Haushalts oder eines Unternehmens für die Volkswirtschaft überhaupt keine Rolle; hingegen ist die Schuldenpolitik des Staates angesichts seines hohen Anteils an der Wirtschaft für den volkswirtschaftlichen Ablauf von großer Bedeutung. Zweitens sind Schulden von privaten Haushalten oder von Unternehmen mit den Schulden von Staaten nicht vergleichbar; denn die öffentliche Verschuldung ist eine Kreditsumme, die wir – BürgerInnen und Institutionen wie Banken und Versicherungen – uns selbst schulden. Demgegenüber sind private Schulden Forderungen zwischen verschiedenen Wirtschaftseinheiten. Nur eine äußere Staatsschuld ist daher mit den Maßstäben der betriebswirtschaftlichen Finanzierungslehre zu betrachten. Und drittens werden nicht nur die Schulden vererbt, sondern natürlich auch die den Schulden gegenüberstehenden öffentlichen Vermögenswerte; die Summe der Schulden ist in einer Volkswirtshaft immer gleich groß der Summe allen Vermögens. Aber selbst diese Kreislauftrivialität übersteigt bei den meisten VolksvertreterInnen schon den ökonomischen Horizont. Dabei zeigt uns die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) im empirischen Befund für Deutschland von 1999 bis 2022 einen jahresdurchschnittlichen Vermögenszuwachs sowohl der privaten Haushalte als auch der nichtfinanziellen Kapitalunternehmen und des gesamten finanziellen Sektors in Höhe von 188,6 Milliarden Euro. Das Vermögen ist dabei, wie könnte es in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung anders sein, extrem ungleich verteilt. Dies zeigt u. a. die Armutsquote von über 16 Prozent im Land; das sind rund 13 Millionen Menschen.
Den oben genannten drei Gläubigerkonten stehen zwei Schuldnerkonten gegenüber. Der Staat mit jahresdurchschnittlich 33,1 und das Ausland mit 155,5 Milliarden Euro Schulden. Der Saldo aller Gläubiger- und Schuldnerkonten ist, wie bereits erwähnt, natürlich immer gleich null. Bei der jährlich aufgelaufenen staatlichen Nettoneuverschuldung von 33,1 Milliarden Euro muss sich die deutsche Volkswirtschaft mit einem nominalen jährlichen Bruttoinlandsprodukt von 3.876,8 Milliarden Euro (2022) nun wirklich keine Sorgen bezüglich eines Staatsbankrotts machen. Dies gilt auch für eine Schuldenstandsquote von 66,1 Prozent in 2022 nach Maastricht-Kriterien. Dies waren im 2. Quartal 2023 absolut insgesamt für den Bund, die Bundesländer und Gemeinden sowie die Sozialversicherungen 2.417,0 Milliarden Euro. Interessant ist hier, dass der größte Schuldner nicht der Staat ist, sondern mit großem Abstand das Ausland. Die Ursache ist ein politisch-neoliberaler Wahn: möglichst große Exportüberschüsse zu erzielen, um damit Arbeitslosigkeit ins Ausland zu verlagern und andere Volkswirtschaften in die Verschuldung zu treiben. Die Deutschen leben dafür unter ihren Produktions- bzw. Konsumtions- und Investitionsverhältnissen. Die gesamtwirtschaftliche Ersparnis übersteigt die binnenwirtschaftlichen Nettoinvestitionen. Die Differenz fließt als Kapitalexporte ins Ausland ab.
Ursache der Staatsschulden, die letztlich nichts anderes zeigen als das ökonomische Versagen der privaten Wirtschaft (Karl Marx nannte dies die »Veräußerung des Staats«), sind allerdings ihre Umverteilungseffekte. Nur Vermögende können dem Staat Kredite geben und erhalten dafür Zinszahlungen. Diese Zinsen und auch eine Tilgung der Staatsschuld müssen aus Steuereinnahmen, die von allen BürgerInnen kommen, aufgebracht werden. Dadurch findet eine Redistribution der Einkommen von unten nach oben statt. So verwundert es auch nur den ökonomischen Laien, wenn er entsetzt feststellt, dass die Reichen nach einer Krise, die mit Staatsverschuldung bekämpft wurde, noch reicher geworden sind.
Wie konnte aber die sogenannte staatliche Schuldenbremse bzw. Kreditbremse überhaupt den »Weg ins Grundgesetz« finden. Man stelle sich hier nur einmal vor, VolksvertreterInnen hätten geplant, eine Kreditbremse für Unternehmen in die Verfassung zu schreiben. Nun, man hätte die uns in den Parlamenten vertretenden PolitikerInnen schlicht für geisteskrank erklärt. Dazu wollten sie es dann doch nicht kommen lassen. Nein, die Schuldenbremse ist das Ergebnis eines neoliberalen Staatsverständnisses, das man als weiteren politischen Wahn einstufen muss, also als eine unkorrigierbare Falschbeurteilung der Wirklichkeit, die unbeeinflussbar von persönlichen Erfahrungen auftritt und an der mit absoluter subjektiver Gewissheit festgehalten wird. Der Staat wird als der »Kostgänger« der Wirtschaft gesehen, als »bürokratisches Monster«. In diesem Duktus werden Staatsausgaben und Staatsschulden von heute als die Steuererhöhungen von morgen gesehen. Und Steuererhöhungen wollen natürlich alle diejenigen Wirtschaftssubjekte nicht, die über hohe Einkommen und Vermögensbestände verfügen.
Mit dem jetzt vorliegenden Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist der Bund, in Anbetracht der zukünftigen gigantischen strukturell notwendigen Aufgaben im Grunde handlungsunfähig. Und es kommt noch schlimmer, bedenkt man, dass die Bundesländer und ihre Kommunen schon heute überhaupt keine Kredite zur Finanzierung ihrer Ausgaben mehr machen dürfen; dies aber dennoch aus Not gemacht haben! Auch hier gilt zukünftig: »Die ich rief, die Geister / Werd’ ich nun nicht los.« Hier hat dann wohl die CDU/CSU ein politisches Eigentor geschossen, regiert sie doch auf Länderebene mit. Als Nordrhein-Westfale bin ich gespannt, wie die amtierende schwarzgrüne Landesregierung auf das Urteil aus Karlsruhe reagieren wird, zumal auch hier schon eine Klage wegen sogenannter »Sonderhaushalte« beim Verfassungsgerichtshof des Landes in Münster vorliegt. Es wird auf Bundesebene nicht nur im Hinblick auf die gewaltigen Klimaschutzinvestitionen, sondern auch für nicht mehr hinreichend finanzierbare staatliche Investitionen in den Bereichen Infrastruktur, Digitalisierung, Wohnungsbau, Bildung, Gesundheit und nicht zuletzt für eine Arbeitslosigkeits- und Armutsbekämpfung, ganz zu schweigen von Ausgaben für eine notwendige Migrationspolitik, zu einer gewaltigen Streichliste kommen. Allein im Klima und Transformationsfonds sollten zwischen 2024 und 2027 insgesamt 211,8 Milliarden Euro staatlicher Gelder bereitgestellt werden. Jetzt fehlen hier 60 Milliarden bzw. gut 28 Prozent. Alles wird auf den Prüfstand kommen, auch die Investitionen für den Ausbau des Schienennetzes bei der Deutschen Bahn und ebenso die geplanten Milliardensubventionen für »grünen« Wasserstoff in der deutschen Stahlindustrie. Die Streichliste wird zudem das eh nur geringe Wirtschaftswachstum weiter schwächen und damit auch die steuerliche Einnahmenseite des Staates.
Im Grunde kann die Ampel-Regierung nur noch abdanken, weil sie politisch unfähig sein wird, drastisch notwendige Steuererhöhungen für Einkommensreiche und Vermögensmillionäre durchzusetzen. Denn dies bleibt der Regierung als einzige politische Handlungsoption. Ein neu gewähltes Parlament müsste dann mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit versuchen, die Verschuldungsbremse in der heutigen Form aus dem Grundgesetz zu streichen und den vor 2009 gültigen Verschuldungsartikel 115 GG wieder in Kraft zu setzen. Hier wurde allen öffentlichen Haushalten eine verfassungsrechtliche Pflicht zur antizyklischen Haushaltsgestaltung durch ein aktives deficit spending auferlegt. In diesem Kontext gab es nur eine Grenze für die Kreditaufnahme des Bundes und der Länder. Dies waren die Nettoinvestitionsausgaben (Bruttoinvestitionen minus Abschreibungen) des Staates. Dahinter verbarg sich die richtige ökonomische Interpretation von staatlichen Investitionen, die nicht nur einen Schulden-, sondern auch einen Vermögenszuwachs implizieren.
Das Urteil aus Karlsruhe hat eine große Tragweite. Man kann nur hoffen, dass die von uns gewählten Parlamentarier jetzt endlich die vorliegende Schuldenbremse aus dem Grundgesetz entfernen und eine ökonomische Vernunft einkehrt. Leider ist zu befürchten, dass dies nicht der Fall sein wird. Die schwierigsten Prozesse bei uns Menschen sind halt Bildungsprozesse. Deshalb muss es zu einer außerparlamentarischen Opposition kommen. Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbände sowie die Kirchen und nicht zuletzt die Hochschulen sind aufgerufen, unseren VolksvertreterInnen klarzumachen, dass sie Politik für und nicht gegen das Volk zu machen haben.