Seit seinem 26. Lebensjahr war der 1945 in Oldenburg geborene und 2013 in Berlin verstorbene Albrecht Genin unterwegs gewesen: Reisen in den Orient, längere Aufenthalte in Portugal, Spanien und Thailand. Ständiger Reisebegleiter war ihm das Malbuch, das die Hülle bildete für ein poetisch gestaltetes Bild-Universum, ein Universum von Zeichen und Symbolen, in der Figuren von einer Wirklichkeit zu einer anderen wandern. Dieser Künstler war ein Vermittler zwischen den Kulturen des Okzidents und des Orients, er befragte die Kulturen der Vergangenheit, überzeichnete ihre Schriftzeichen, verfremdete sie und brachte sie in neue Zusammenhänge. Er war ein Meister des Malerbuchs, das von der Korrespondenz der Zeichnung und Malerei mit dem Text lebt. Die Druckbuchstaben überlagern und durchdringen sich in Schriftbild und Zeichnung, im fortschreitenden farbigen Aufbau der Malerei. Auch wenn etwa der lateinische Text eines Messbuches nichts mit dem Personal seiner Bildwelten zu tun hat, boten Genin doch die antiquierten Druckelemente Anregungen für den fantastischen Zauber der Einbildungskraft. Die eigene Zeichnung oder Malerei überlagert und durchdringt sich mit dem Schriftbild der Druckbuchstaben. Wenn Genin dann auch wieder Notenblätter übermalte, stehen die Figuren mit dem Rücken zum Betrachter und schauen mit ihm zusammen in eine bizarre Notenlandschaft. Die eigene Zeichnung oder Malerei überlagert und durchdringt sich mit dem Schriftbild des Notendrucks, setzt es fort oder löst sich davon ab. Die Figuren, die Gestaltzeichen bleiben in den Zusammenhang tastbarer Materie eingebunden und lösen sich doch als ein Geistiges aus ihr heraus.
Die Galerie Horst Dietrich in Berlin-Charlottenburg, die seit Jahrzehnten das Werk dieses Künstlers vertritt, zeigt jetzt Malerei, Holzdruck-Monotypien und Skulpturen aus dessen letzten Schaffensjahren. Faszinierend die Figurationen, die sich echoartig in parallelen, aber ihre Form immer wieder neu deformierenden Erscheinungen wiederholen. Aus ihren Positiv- und Negativformen entwickelt sich die Grundmelodie für das ganze Bild. Ja, es scheint in der Malerei Genins ein fühlbares rhythmisches Gesetz zu geben. Der Künstler überlässt sich der freien und spontanen Erfindung, aber er lenkt sie in die Bahnen seiner von Blatt zu Blatt wechselnden Bildgesetze. Ähnlich dem fast halluzinatorischen Auftauchen von Figuren aus dem Informel weist das Werk Genins auf ein grundsätzliches Anliegen, das Echo figürlich-menschlicher Formen auch in gegenstandslosen Gebilden wiederzufinden. Immer wieder hat ihn die Faszination der körperlichen Bewegung, Tanz und Spiel, beschäftigt. Ihre Grazie erinnert aber nicht nur an die Freiheit und Bewegung des Tänzers, sondern auch an den gelenkten Schritt der Marionette. Der vom Künstler fixierte Bewegungsablauf ist selbst wie eine Partitur gegliedert, die sich auch aus dem Duktus aller einzelnen Teilchen ergibt. Seine ineinander verwobenen Figurationen im erzählerischen Feder- oder Pinselstrich sind wie eingebettet im Zusammenspiel von Rosenrot, Karminrot, Gelb, Azurblau, Smaragd und dunklem Veilchenblau – die Formen ertrinken fast in der Farbe. In Genins Ikonographie kann etwa die Blauheit von Blau Licht, Luft, Wasser Halt und Perspektive geben und eine allgemeine Vorstellung vom Mediterranen vermitteln. Sie kann Einsamkeit, Schwere, Intensität, Standorte, Entschiedenheit, aber auch Zweideutigkeit darstellen.
Überhaupt hat Genin seine Bildserien als eine Art symphonischer Sätze gemalt. Aus mächtig strömenden Farbmassen blühen Edelsteingebilde kostbar auf (Türkis als Mischung von Blau und Grün), pathetischen Bogenschwüngen antworten zuckende graphische Detailballungen, kontrapunktisch werden Modulationen von Farbe zum Klingen gebracht. Die Farben entmaterialisieren sich zu Farbklängen, die Formen zu Klangfiguren und rufen immer wieder die Assoziation zur Musik herauf.
Mit einem fühlbaren, jedoch nicht immer deutbaren Sinn beladen sind seine Figurationen in Stahl und Bronze, weniger seine flüchtigen, tänzerischen Figuren als vielmehr seine monströsen Fabelwesen, der Vogel-, Käfer- oder Fischmensch, der Menschenvogel, -käfer oder -fisch, der Kopfmensch, der Vogel mit Elefantenrüssel, das Schwein als Tausendfüßler oder der arabeskenhaft zusammengewachsene Menschenkörper. In die elliptische Geste der Menschenarme sind die Tiere miteinbeschlossen. Geht es hier um das Archaische und Mythische der Menschenseele in archäologischer und mythologischer Verkleidung oder umgekehrt: um archäologische und mythologische Relikte als Sinnbild verschütteter Schichten der menschlichen Seele? Oder sollen wir einfach nur an den fantastischen Verformungen und Metamorphosen Vergnügen finden?
Wir haben es bei Genin mit einer Bildwelt zu tun, die die Skalen der Empfindung und Stimmung beherrscht, von ekstatischer Zerrissenheit über melancholische Traurigkeit bis zu unbeschwerter Heiterkeit. Mit sensiblem Instinkt suchte dieser Künstler die Trennungswand zwischen außen und innen, oben und unten, Nähe und Ferne zu überwinden, um die durchsichtig werdende Materie eines malerischen Welterlebens zu definieren. Er will mit seinen Arbeiten der Daseins- und Fantasiefreude des naturnahen, friedlichen Lebens der Kunst etwas zurückgeben, das in den alptraumhaften Gewalttätigkeiten unserer Zeit abhandengekommen zu sein scheint.
Albrecht Genin: Movements – Malerei, Skulptur, Holzdruck-Monotypien. Galerie Horst Dietrich, Giesebrechtstr. 19, 10629 Berlin, Mi-Fr 15-19 Uhr, Sa 12-15 Uhr, bis 26. April (www.GalerieDietrich.de).